Freitag, 10. Mai 2024

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Nicht von der Bank der Sieger aus

Hubert Winkels: Herr Grass, Sie werden am 16. Oktober 70 Jahre alt. Sie sind ein berühmter Mann, ein anerkannter und erfolgreicher Schriftsteller, Ihre politische Meinung wird gehört, Ihr Urteil wird geschätzt, Sie verkörpern ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte. Gehen wir gut fünfzig Jahre zurück. Im Jahr 1946 kamen Sie aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft, irrten als 'Flüchtlingskind', wie Sie einmal gesagt haben, durch das zerbombte Deutschland. Dann haben Sie eine Zeitlang im Kalibergbau gearbeitet. Und immer hatten Sie ein Gefühl, Sie müßten Künstler werden. Sie kommen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Woher kam dieses sichere Gefühl: ich bin ein Künstler - oder ich werde ein Künstler?

Hubert Winkels | 16.10.1997
    Günter Grass: Nun ja, also wenn ich's genau überlege, kommen diese Veranlagungen von der mütterlichen Seite her, und es war auch so, daß meine Mutter drei Brüder hatte und eine Schwester. Von den drei Brüdern soll die Rede sein, die alle im Ersten Weltkrieg gefallen sind, nacheinander. So im Alter von 22, 23 Jahren, wie das in Kriegszeiten in Deutschland üblich war. Und der eine wollte Schriftsteller werden, der andere Bühnenbildner. Und vom dritten hieß es, er wolle Koch werden. Davon hatte meine Muter mir erzählt. Und ich habe dann auch kramend als Junge auf dem Speicher, auf dem Boden, mal einen alten Koffer gefunden, in dem waren Zeitungsausschnitte, und darin Gedichte dieses Arthur Knoff - das war der Mädchenname meiner Mutter -, der im Alter von 22 Jahren gefallen ist. Und das waren Gedichte in der Eichendorff-Nachfolge, romantisch, aber schon in einigen Zeitungen, Lokalzeitungen abgedruckt. Das hat sich bei mir festgesetzt, diese drei nicht gelebten Leben. Und es hat sich so ergeben, daß sich alle drei Tätigkeiten, nicht nur das Schreiben und die Malerei, das Zeichnen, sondern auch das, was den Koch betraf, bei mir festgesetzt haben, so als müßte ich diese ungelebten oder nicht zu Ende gelebten Leben fortsetzen. Ich habe dann auch in den sechziger Jahren mal einen kleinen Band mit Erzählungen, den ich nicht - nach den Romanen - so der Kritik vorwerfen wollte, unter Pseudonym veröffentlicht. Unter dem Pseudonym Arthur Knoff. Ich habe den Namen des Bruders meiner Mutter benutzt und auch eine Biographie für ihn erfunden. Das hat nebenbei noch einen Heidenspaß für mich bedeutet, Kritiken zu bekommen. Da stand dann drin: junger begabter Autor, von Grass beeinflußt, aber doch unabhängig. Das war hübsch zu beobachten.

    H. W.: Sie waren als Junge im Jungvolk, später in der Hitlerjugend, Sie waren Luftwaffenhelfer, Sie waren kurz im Fronteinsatz, dann in Kriegsgefangenschaft. Das war eine Situation, in der an Kunst und Literatur zu denken, nicht nahe lag. Es war aber auch eine Situation, in der, wie Sie oft schon gesagt haben, keiner sich der Tatsache bewußt war, was alles passiert war. Oder wenn er es wußte, wollte er es nicht wahrhaben. Wie ist es Ihnen als 19jährigem zu Bewußtsein gekommen, was dann für Ihr Werk entscheidend wurde: welche Verbrechen die Deutschen tatsächlich begangen hatten?

    G. G.: Das Makaber-groteske ist, daß viele meiner Generation, als wir in amerikanische Gefangenschaft kamen - ich kam ja zufällig dorthin, weil ich zwar an der Ostfront zum Schluß im Einsatz war, aber Gott sei Dank, muß ich sagen, verwundet wurde, und so in die westlichen Bereiche kam -, daß wir im Zug der Education Kampagne der Amerikaner als 17jährige auch ins Konzentrationslager nach Dachau gebracht wurden. Wir haben uns das angesehen und wir waren nach wie vor so verbohrt, daß wir das alles - was die Verbrechen betraf - nach wie vor für Propaganda hielten. Und eben das Makaber-groteske ist, daß ich in Radiosendungen vom laufenden Nürnberger Prozeß dann meinen ehemaligen Reichsjugendführer Baldur von Schirach hörte, und der gab diese Verbrechen zu. Er tat das damals, um die Organisation des Jungvolks und der Hitlerjugend zu entlasten, aber diese Offenheit hat bei mir einen Zusammenbruch all dessen bewirkt, was noch ideologisch zumindest an der Oberfläche, nein, nicht grade mal an der Oberfläche, sondern tiefer gefügt war. Und dennoch hat es Jahre gebraucht, um das Ausmaß dieser Verbrechen zu begreifen. Eigentlich hat dieser Prozeß nie aufgehört. Wir erleben es ja alle, der Wunsch ist ja manchmal auch verständlich: Wann ist endlich Schluß mit der Debatte? Jeder Mensch neigt dazu, ihm Unangenehmes, Peinigendes zu verdrängen, und insbesondere auch die Jüngeren, die nachgeborenen Generationen, die nun tatsächlich direkt mit diesen Verbrechen nichts zu tun hatten. Meine Kinder, selbst meine Kindeskinder sind damit konfrontiert. Und wir haben diese Versuche erlebt, ein Ende der Debatte zu fordern oder 1989 zu sagen, daß eine neue Phase der deutschen Geschichte beginnt. Eine Stunde Null wurde abermals eingeläutet, und es dauerte nur wenige Monate, dann meldete sich Rechtsradikalismus, da wurden wir an neue Schichten und Unterschichten dieses Verbrechens bis in die Großindustrie hinein erinnert. Jetzt geht es ins Ausland hinein, ob's die Schweiz ist oder auch andere Länder, die jetzt erst dazu kommen, das Ausmaß ihrer Kollaboration mit dem Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Ich habe auch nie an diese neue deutsche Wortschöpfung der fünfziger Jahre von der 'Bewältigung der Vergangenheit' geglaubt. Ich glaube, daß das nicht zu bewältigen ist. Es muß im Gespräch bleiben, es gehört zu unserer Geschichte. Wenn man es positiv deuten will, gehört Auschwitz zu unserer Identität. Es ist aus unserem nach wie vor ja sehr unsicheren Bemühen, uns als Deutsche zu definieren, nicht wegzudenken.

    H. W.: Täuscht denn der Eindruck, daß Sie in den letzten Jahren auf diesen Zusammenhang viel stärker noch einen Akzent gelegt haben als vorher, daß Sie Ihr eigenes Schreiben, aber auch die deutsche Einheit, verstärkt im Hinblick auf Auschwitz zu verstehen gesucht haben?

    G. G.: Ich muß weit zurückgehen. Also in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als ich dann endlich im Winter 1946/47 in Düsseldorf Fuß gefaßt hatte - ich wollte ja auf die Kunstakademie, die hatte aber geschlossen, es waren keine Kohlen da zum Heizen -, begann ich mit einer Praktikantenzeit als Steinmetz und Steinbildhauer in einem Grabsteingeschäft. Dort, wie dann auch zwei Jahre später als Student der Kunstakademie Düsseldorf, stand bei mir das Artistisch-Spielerische im Vordergrund, auch die Gedichte, die ich geschrieben habe in der Zeit, noch bis in meinen ersten Gedichtband "Die Vorzüge der Windhühner" hinein, sind artistisch-spielerischer Art. Dann zeigte sich aber mehr und mehr, daß mir, ja vielleicht sogar meiner Generation, die Themen bereits vorgeschrieben waren. Sie ließen sich nicht umgehen. Und ich habe dort angeknüpft, wo ich mal zu Hause gewesen bin, wo ich auch den größten Verlust empfand, den Verlust von Heimat, und habe mich, obgleich das gar nicht in meinen Anfangsüberlegungen stand, an einen Roman gewagt, an die "Blechtrommel". Auch hier in der Meinung, wenn ich das geschrieben habe, habe ich das hinter mir und kann mich wieder dem Spielerischen und insbesondere der Lyrik zuwenden und auch dem Zeichnerischen. Das war ein Irrtum, das war wie eine Zwiebel. Unter der einen Haut kommt die nächste Haut, die abernächste und so weiter und so fort. Noch in der Schlußphase der Arbeit an der "Blechtrommel” entstand Prosa, die dann auf "Hundejahre" und "Katz und Maus" hinwies, und eigentlich hat dieser Schreibprozeß bis heute nicht aufgehört. Nur mit dem Unterschied, daß diese drei ersten Bücher ganz auf die Vergangenheit gerichtet waren, und dann ab Mitte der sechziger Jahre, gar nicht mal so sehr ausgelöst durch Prosa, sondern auch wieder durch Gedichte und durch ein Theaterstück, "Die Plebejer proben den Aufstand", sich das Schreiben der Gegenwart zuwendete.

    1953, als ich von Düsseldorf von Berlin zog, das war im Januar, erlebte ich ein halbes Jahr später diesen mißglückten Arbeiteraufstand, den 16. und 17. Juni vom Potsdamer Platz aus. Von diesem Niemandsland aus gesehen, das der Platz damals gewesen ist, war das Ereignis ungeheuer beeindruckend. Und es war auch empörend, wie dieser Arbeiteraufstand, von dem Albert Camus gesagt hat, mit ihm hätten sich die deutschen Arbeiter rehabilitiert, in beiden deutschen Staaten verfälscht wurde. In der DDR nach bewährtem Muster als Konterrevolution, und in der Bundesrepublik hat es Konrad Adenauer verstanden, diesen Arbeiteraufstand umzulügen in eine Volkserhebung, was er nie gewesen ist. Und aus diesem Konflikt heraus - das hat sich bei mir dann gesetzt, bis zehn Jahre später das Stück "Die Plebejer proben den Aufstand" geschrieben wurde - erfolgte auch die erste Hinwendung zur Gegenwart.

    H. W.: Wo sehen Sie denn - natürlich ist ein Unterschied da - diesen gravierenden, es zu einer geschichtlichen Lüge machenden Unterschied zwischen der Behauptung eines 'Arbeiteraufstands' oder 'Volksaufstands'?

    Günter Grass: Ja, das ist ganz einfach, weil die Bemühungen der Arbeiter in der DDR isoliert blieben. Sie haben Zusammenschlüsse versucht. Sie sind von der Sta-
    linallee kommend - das waren ja Aktivistenblöcke, die den Streik begannen -
    mehrmals vor der Humboldt-Universität vorbeigelaufen und haben die Studenten und die Professoren aufgerufen mitzumachen. Es kam keiner. Das gesamte Bürgertum, die Kirchen haben sich abseits gehalten. Mitgemacht haben ein paar Volkspolizisten, die dann hinterher standrechtlich erschossen wurden. Es blieb ein isolierter, führungsloser Arbeiteraufstand. Die Intellektuellen, alle haben sich abgewendet. Die genaue und wahrhaftige Bezeichnung ist eben 'Arbeiteraufstand', nur paßte das nicht in Adenauers Konzept, denn ein Teil der Arbeiter trug dann im Verlauf des Streiks sozialdemokratische Forderungen vor. Auf die Güterwagen, die in Magdeburg abgefertigt wurden, haben die Eisenbahnarbeiter draufgeschrieben: "Nicht Grotewohl, nicht Adenauer, gesamtdeutsch nur mit Ollenhauer." Das war nun der Vorsitzende der Sozialdemokraten zu dieser Zeit, und es hatte eine Tendenz und eine Richtung, die Adenauer nicht paßte. Also wurde es umgeschrieben, wie so manches in der Nachkriegsgeschichte.

    H. W.: Auf diese Weise saßen Sie politisch zwischen allen Stühlen …

    G. G.: Ja, ich bewegte mich zwischen allen Stühlen, das ist auch eine Bewegungsart, die mir sehr liegt.

    H. W.: Auf einem anderen Feld taten Sie das auch, auf dem Feld der Ästhetik und der Kunst. Es gab in den fünfziger Jahren eine sehr starke Debatte um die Abstrakten, die Modernen und die Realisten, und Sie haben sich sowohl gegen den sozialistischen Realismus wie gegen die Vorherrschaft des Abstrakten in der westlichen Kunst ausgesprochen.

    G. G.: Ja, ich muß eine kleine Präzision vornehmen. Also, ich habe mich nie gegen das Abstrakte ausgesprochen, abstrakt arbeite ich auch, aber abstrakt heißt, abziehen von etwas, das vorhanden ist. Es war eigentlich mehr bei mir eine Kritik an dem, was ich gegenstandslos nannte. Und was im besten Fall Dekoration war, aber mit großen Namen verkleistert wurde.

    H. W.: Barnett Newman, Jackson Pollock, Mark Rothko waren Anfang der fünfziger Jahre die großen Vertreter der Weltkunst für diese abstrakte Richtung.

    Günter Grass: Aber es gab auch in Deutschland, insbesondere von Frankreich ausgehend, das, was man Taschismus nennt und diese verschiedensten Richtungen, die sich als "gegenstandslos" bezeichneten. Völlig abgelöst von unseren Wirklichkeiten. Das war eine lebhafte Debatte, in die ich hineinkam, als ich 1953 nach Berlin wechselte. Da gab es einen großen Streit zwischen dem von mir sehr verehrten Karl Hofer, also jemand, der abstrahierte, aber von der Wirklichkeit abstrahiert, und Willi Grohmann, dem Kunstpapst der bildenden Kunst der damaligen Zeit. Und das wurde in der Zeitschrift "Monat” ausgetragen. Karl Hofer ist über diesen Streit gestorben, aber als junge Kunststudenten waren wir alle gezwungen, oder sahen uns dazu getrieben, auch Partei zu ergreifen. Und ich habe mich für das Gegenständliche entschieden.

    H. W. : Sie haben es aber auch mit politischen Argumenten gemacht, also innerhalb der ästhetischen Debatte haben Sie politische Argumente eingefügt.

    G. G.: Es gibt eine Rede von mir, in der ich nach vierzig Jahren Bilanz gezogen habe über die Entwicklung der beiden deutschen Staaten, und in dieser Rede ist ein ganzer Block über die Entwicklung der Künste. Und da sehe ich also, wie die Nachkriegs-Literatur in den fünfziger Jahren in Westdeutschland mißachtet ist, im Osten unter Staatskuratel kommt, wie der deutsche Film sich in Heimatschmonzetten gefällt, und wie in der Malerei Maler, die aus der Emigration zurückkamen oder noch da waren, wie Otto Dix oder wie Max Beckmann, wegen ihrer Gegenständlichkeit nicht mehr wahrgenommen wurden, sondern das Gegenstandslose mehr und mehr den Ton bestimmte. Und meine These war und ist, daß sich natürlich mit den Werken dieser Gegenstandslosen jedes Bankgebäude, jeder Sitzungssaal einer Großbank schmücken läßt. Wenn Sie dorthin einen Triptychon von Max Beckmann hängen, sprengt das die Bank. Heute noch. Und das ist, glaube ich, ein Qualitätsunterschied. Es ist auch das, was ich von Kunst erwarte. Wenn sie nebenbei auch noch schmückt, soll es mir genehm sein, aber das ist nicht ihre Hauptaufgabe.

    H. W.: Hier ist eine bemerkenswerte Kontinuität in Ihrem Denken bis heute geblieben, wie überhaupt sich sehr vieles in Ihrem Leben in Kontinuitäten verfolgen läßt. Unter anderem ist auch bis heute der Zusammenhang von bildender Kunst und Wortkunst, Grafik und Schreiben ganz eng. Das hat sich damals herausgebildet. Sie haben immer Wert darauf gelegt, Kunst, auch Literatur, auch Dichtung, als Handwerk zu verstehen. Was ist denn das im Kern Gemeinsame der Tätigkeiten, die Sie ausüben? Also der Bildhauerei - wir sitzen hier in Ihren wunderbaren Arbeitsräumen und ich sehe Skulpturen hinter Ihnen im Regal - also der Bildhauerei, der Graphik, der Lyrik und der erzählenden Kunst? Kann man sie in dem Begriff des Handwerks zu einer Gemeinsamkeit bringen?

    G. G.: Das sind mehrere Themen, die Sie da ansprechen. Zum einen habe ich mir nie die große existentielle Frage aufschwatzen lassen: Bin ich nun in erster Linie Schriftsteller oder Künstler, Maler oder Graphiker. Das ist mit einer Tinte gemacht. Das wechselt, und das ist auch bei mir in vielen thematischen Bereichen nicht zu übersehen, daß beim Entstehen eines Romans eben auch Skizzen von Figurationen, von bestimmten Situationen entstehen, die sich dann eigenständig in einer Reihe von größeren Zeichnungen oder auch in Radierungen und Lithographien niederschlagen. Also der Bildeinfall auf der einen Seite und auf der anderen Seite auch das Bemühen, beim Schreiben bildlich zu bleiben, optisch zu bleiben, dies mit Sprache zu übermitteln. Und was nun den Bereich betrifft, den Sie ansprechen, das Handwerkliche: Wahrscheinlich spielt zum einen meine handwerkliche Herkunft als Steinmetz und Steinbildhauer eine Rolle und zum andern aber auch, daß ich ab Mitte der fünfziger Jahre regelmäßig zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen wurde und die leidenschaftliche Nüchternheit der Auseinandersetzungen dort miterlebte. Schriftsteller - wie das ja mittlerweile wieder Mode ist -, die genialisch auftreten wollten, die hätten sich einfach lächerlich gemacht. Auch der Anteil der Schriftsteller bei den kritischen Diskussionen nach den Lesungen zeichnete sich dadurch aus, daß die Schriftsteller im Gegensatz zu den Berufskritikern handwerklich argumentierten. Dazu kommt der kollegiale Umgang. Wenn ich zurückblicke, so gibt es eine ganze Reihe von Kollegen, mit denen ich freundschaftlich verbunden war, und oft waren das auch schwierige Freundschaften, aber eines war möglich, zum Beispiel mit Uwe Johnson, aber auch mit Max Frisch: ganze Nachmittage und Abende im handwerklichen Gespräch zu verbringen.

    H. W. : Wie war denn das handwerkliche Gespräch in der Gruppe 47, sie war schon eine berühmte Institution, Mitte der fünfziger Jahre, als Sie dazukamen. Wie sind Sie aufgenommen worden von Ihren Kollegen? Sie haben beim ersten Mal Lyrik vorgelesen?

    G. G.: Ich habe Gedichte vorgelesen, und die kamen, wie man so sagt, gut an. Es war - man sagte, es sei ein neuer Ton. Ich kam nun auch nicht, wie ja viele Autoren, über das Germanistikstudium oder Vergleichbares in die Literatur hinein, sondern aus der bildenden Kunst heraus. Mein Bekanntenkreis waren Bildhauer und Maler. Ich kannte kaum Schriftsteller. Und das mag mit dazu beigetragen haben. Ich habe das dann in all den Jahren - ich bin dann ja wenige Jahre später, 1956, nach Paris gegangen, habe dort meinen ersten Roman geschrieben, bin aber auch von Paris immer zu den Tagungen gefahren - ich habe das auch als das empfunden, was es im Nebeneffekt ja wirklich gewesen ist: Hans-Werner Richter hat uns einmal im Jahr drei Tage lang eine literarische Hauptstadt suggeriert. Man hatte die Möglichkeit, im Umgang mit den Kollegen zu erfahren: Woran arbeiten die, wo liegen deren Schwierigkeiten? Und das ist für mich doch ein bleibender und sicher auch formender Eindruck gewesen.

    H. W. : Jetzt, zum 50. Jubiläum, kann man in allen Berichten über die Tagungen der Gruppe 47 lesen, daß Sie nicht nur eine imposante Figur als Vorlesender waren, sondern daß Sie, was die Gespräche über die Texte betrifft, daß Sie druckreif, sehr eloquent, auch sehr selbstbewußt und selbstsicher formuliert haben, daß Sie auch später zu der Zeit der "Großkritiker" wie Joachim Kaiser oder Marcel Reich- Ranicki den Ton angaben. Sie sagen, Sie kommen aus der bildenden Kunst, Sie kommen vom Handwerk, aus einem ganz anderen Zusammenhang. Sie waren aber, wenn man das ein bißchen übertreibend sagen darf, der 'Wortmächtigste' unter den Schriftstellern in den Kritikrunden über Texte.

    G. G.: Das sehe ich nicht so. Also ich habe das doch lernen müssen. Ich war anfangs auch nur in der Lage zu sagen, das gefällt mir oder das gefällt mir nicht - wohl mit härteren Worten -, und das entsprach nicht dem Niveau der Diskussion und auch nicht meinen Ansprüchen. Ich habe dann lernen müssen zu begründen, warum mir etwas gefiel oder mißfiel. Und da gab es eben in der Reihe der sich zu Wort meldenden Schriftsteller auch noch Martin Walser oder Hans Magnus Enzensberger oder auch Peter Rühmkorf. Wir alle konnten das. Nur argumentierten wir anders als die Berufskritiker. Wir gingen immer wieder auf den Text zurück, auf das, was wir zu hören bekommen hatten. Und das Niveau der Gruppe 47 begann auch in den Jahren zu sinken, in denen sich die Schriftsteller, manche sogar auf Anraten ihrer Verleger, mehr und mehr in der Kritik zurückhielten. Das habe ich nicht mitgemacht. Das stimmt. Daß ich also einer der letzten Schriftsteller war, die sich später noch zu Wort meldeten. Sonst wurde die Runde eben von den bekannten großen Namen bestimmt, die sich die Bälle zuwarfen, was sicher zum Teil auch amüsant anzuhören war, aber es fehlte dieser korrigierende, aufs Handwerkliche beharrende Ton der Schriftsteller.

    H. W.: Sie sagten schon, daß Sie dann in den späten fünfziger Jahren in Paris gelebt haben mit Ihrer Frau, und dort haben Sie an einem Roman gearbeitet. Sie haben einmal geschrieben, in einem Brief offenbar: "Ich habe mich jetzt episch dickarschig hingesetzt und meinen Roman angefangen." Bei diesem Roman handelt es sich um keinen geringeren als "Die Blechtrommel". Man nimmt sich ja nicht einfach vor, ich schreibe jetzt einen 800seitigen Weltbestseller, wenn man bis dahin Gedichte geschrieben hat.

    G. G.: Es war mehreres passiert. Ich hatte es vorhin angedeutet, daß ich mir am besten gefiel in spielerisch-ästhetischer Art, mit Gedichten, feinen, hauchfeinen Federzeichnungen, aber diese Stoffmasse lauerte immer. Und es war ein Schriftsteller, der auch bei der Gruppe 47 eine Rolle spielte, Paul Schallück aus Köln, der zu mir sagte: Du mußt ernst machen, du kannst mehr, du kannst mehr als nur dein Können zu beweisen, was du jetzt in deinen jungen Jahren tust. Und da erzählte ich ihm, was mir so, die Stoffmasse betreffend, durch den Kopf ging, und das war eben die Stoffmasse der "Blechtrommel". Und da sagte er: Du mußt das schreiben. Er drängte. Es war kurz vor meiner Abreise nach Paris, und als ich dann anfing, war mir schon klar, daß das ein großer Brocken wird. Und Unterstützung bekam ich von Walter Höllerer, den ich auch über die Gruppe 47 kennengelernt hatte und der immer wieder nach Paris kam, mich auch mit Zuspruch unterstützte, aber auch finanziell, indem er mir den ein oder anderen Auftrag, für seine Zeitschrift "Akzente” etwas zu schreiben, bot. Und die andere Unterstützung war Paul Celan.

    H. W.: Celan lebte in Paris, und Sie haben ihn dort kennengelernt?

    G. G.: Ja, ich habe ihn dort kennengelernt, und zwei Menschen konnten nicht grundverschiedener sein. Das war sicher eine schwierige Freundschaft, aber sie hielt. Und er war der Belesene, ich war nur wild und lückenhaft belesen. Er hatte einen ganz anderen Hintergrund, er hat mich mit Rabelais bekannt gemacht, und das auch noch in der richtigen Übersetzung, und mit französischen Symbolisten und so weiter und so fort. Und er hat mich ermutigt, und das nicht frei von zugegebenem charmantem Neid. Er hätte gerne auch Prosa geschrieben. Es gab auch einige Ansätze bei ihm, aber es ging über drei Seiten nicht hinaus. Und er sah dort etwas entstehen, was ihn interessierte, was er auch als Wurf ansah. Und das war sicher auch ein Grund, warum er immer wieder etwas hören wollte, wie die Arbeit voranschreitet, auch was vorgelesen haben wollte. In einer solchen Situation - epische Prosa schreiben hat lange Durststrecken in sich -, da braucht man den Zuspruch eines Freundes, eines kundigen Freundes. Und Celan war so einer.

    H. W. : Einen ganz großen Zuspruch haben Sie ja dann bekommen, wahrscheinlich war der Roman schon weitgehend fertig zu diesem Zeitpunkt, in der Gruppe 47.

    G. G. : Ja, das war der Preis der Gruppe, im Jahr 1958.

    H. W. : Es war erst gar kein Preis vorgesehen. Hans-Werner Richter hat dann noch während der Veranstaltung gesammelt, Verleger haben Geld dazugetan. Sie haben nicht nur diesen Preis der Gruppe 47 bekommen, sondern man kann sagen, die Runde war aus dem Häuschen. Was war da eigentlich passiert? Die ganze öffentlichkeit stürzte sich geradezu auf diesen Roman. Gab es auch zusätzlich zur Qualität des Romans zu diesem Zeitpunkt ein Bedürfnis nach Literatur, einen ganz anderen Anspruch an die Literatur, als es zum Beispiel heute der Fall ist?

    G. G.: Die deutsche Nachkriegsliteratur hat ja notwendigerweise von 1947 an bis Anfang der fünfziger Jahre mehrere Phasen durchlaufen müssen. Man kann das sehr gut am Werk von Heinrich Böll beobachten. Es war diese sogenannte 'Kahlschlagliteratur', die allen Grund hatte, den Wörtern der deutschen Sprache zu mißtrauen. Die Sprache war korrumpiert, und es begann sehr puritanisch. Mit dem Auftritt meiner Generation, das war auch Rühmkorf, das war auch Enzensberger, kamen andere Ansprüche zur Geltung. Wir wollten nicht zulassen, daß man die Sprache als schuldig erklärte, sondern sie in ihrem Reichtum wieder nutzen, wieder alle Register ziehen. Was mich betraf, auch im Bereich der Prosa. Und dann natürlich thematisch. Es war sicher eine Erwartung da, daß nach einer solchen zeitlichen Distanz zum Ende des Krieges auch einem deutschen Autor mal etwas gelingen möge, was eine epische Sicht zeigt. Und das sah man nach diesen gelesenen Kapiteln der "Blechtrommel", und entsprechend war das Echo.

    H. W.: Die epische Sicht bei Ihnen ist in der "Blechtrommel", aber auch in den beiden anderen Prosabänden, die zur "Danziger Trilogie” gehören, also in der Erzählung "Katz und Maus" und im Roman "Hundejahre", offensichtlich gegeben durch einen rückblickenden Erzähler, der auf die Nazizeit, die Zeit des Krieges und des Nachkrieges aus der Erinnerung zurückschaut. War das vielleicht die fruchtbarste Konstellation für Sie und vielleicht die einzige überhaupt mögliche zu dieser Zeit? Würden Sie sagen, der Verlust ist ein Kernmoment schriftstellerischer Produktion?

    G. G.: Ja, Verlust - und zwar ein so endgültiger Verlust wie der der Heimat. In einem Gespräch mit Sulman Rushdie haben wir das beide festgestellt, daß dieser besondere Verlust - bei ihm ist es Bombay, bei mir Danzig -zur Obsession werden kann, und eine wunderbare und zugleich schreckliche Voraussetzung für das Schreiben ist. Verlust macht beredt, tendierend zum obsessiven Schreiben hin.

    H. W. : Zur Zeit kommt eine große Literatur oft von Migranten, von Weltenwechslern. Ich denke an Naipaul oder Ondaatje. Könnte es sein, daß eine bestimmte Mattheit im gesamten literarischen Betrieb hierzulande, auch in den Ansprüchen an Literatur, damit zu tun hat, daß gar kein Gefälle zu überwinden ist, kein Verlust zu verarbeiten ist? Vielleicht nur aus imaginären Gründen nicht, jedenfalls kein empfundener Verlust, daß es gar keinen Druck in dieser Hinsicht gibt im Moment?

    G. G.: Es ist bedauerlich, daß zum Beispiel die sogenannte 68er Genera-
    tion - das ist immer waghalsig, solche Schnitte zu machen, aber sie ist nun mal um dieses Datum herum gruppiert - daß sich von dieser Generation so wenig bedeutend Literarisches niedergeschlagen hat. Die Gründe mögen vielgestalt sein. Es ist offenbar - auch im politischen Feld - eine Generation mit leider nur kurzem Atem, die dennoch viel bewegt hat. Die Gesellschaft hat sich ungeheuer nach 68 und an den Folgen von 68 geändert, liberalisiert, geöffnet. Nur waren diejenigen, die das Ganze mit Leidenschaft und Energie betrieben haben, auf ganz andere Ziele aus. Sie wollten eine Revolution. Für die gab es keine Grundlage. Die Revolution fand nicht statt. Und dennoch hat sich die Gesellschaft verändert. Aber sie waren dann nicht mehr in der Lage, ihren eigentlichen Erfolg wahrzunehmen. Bis in die heutige Zeit. Wenn sich heute besonders die, die am radikalsten links waren und auch am schreikräftigsten waren, nach rechts wenden bis zum Aberwitz hin, liegt das daran, daß sie sich weder damals noch heute des eigentlichen Erfolgs dieser Studenten- und Jugendbewegung - es ging ja weit über die Studenten hinaus - bewußt waren. Und in der Literatur hat sich das eben dann auf diese Art und Weise gezeigt.

    Im Gegensatz zu 68 glaube ich, daß in jüngster Zeit, nach 89, sich etwas ereignet hat, was wieder zu einer obsessionshaften, das heißt, von Verlusten geprägten Literatur führen könnte, und zwar in den neuen Bundesländern. Junge Leute, die damals, 1989, vielleicht 15, 16, 17, 18 Jahre alt waren, zu jung, um von dem System der DDR deformiert zu werden, aber doch in voller Kenntnis des Systems, treffen auf das westliche System, auf neue Herausforderungen, neue Abhängigkeiten. Das schlägt sich in einer Gesellschaft nieder, führt auch zu einem bestimmten Selbstbewußtsein, und nun wird ihnen auf einmal erklärt: Euer Leben taugte nichts. Was ihr gemacht habt, ihr könnt das auf den Müllhaufen werfen. Macht es wie wir im Westen, dann geht's euch besser. Dieser westliche Hochmut, diese Anmaßung, hat zu neuerlichen Verletzungen geführt. Und das wird Literatur fördern. Das alles zusammen.

    H. W. : Wir werden sicher noch mal darauf kommen im Zusammenhang mit dem "Weiten Feld", Ihrem letzten großen Roman. - Sie haben eben 68 schon angesprochen. Nun ist das eine Zeit, die politisch verbunden ist mit dem SDS, also dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, mit der APO, der Außerparlamentarischen Opposition, aber eben nicht wesentlich mit der SPD, oder höchstens als Hintergrund für diesen Aufbruch, der von den Universitäten ausging. Sie selber hatten mit den APO-Theoretikern immer große Schwierigkeiten. Sie haben sich von ihnen deutlich abgegrenzt. Sie haben den Clinch mit ihnen gesucht. Was war Ihnen daran nicht geheuer, in welcher Situation haben Sie sich als bekennender Linker auf einmal wiedergefunden?

    G. G.: Ich will es an einem konkreten Beispiel deutlich machen. Ich war genauso leidenschaftlich und empört gegen den Krieg in Vietnam wie die Leute vom SDS und die Rädels-, die Wortführer des Studentenprotestes. Nur war ich nicht in der Lage, "Ho Tschi-minh" zu rufen. Ich kannte den Mann nicht. Ich wußte nicht, ob das etwas Besseres ist, ob das dem Volk dort, diesem geplagten, vom Krieg geplagten Volk auch ein Stück Freiheit bringen würde. Und ich hatte nicht diese Bedenkenlosigkeit, aus dem Protest gegen den - von den Amerikanern auch verbrecherisch geführten - Krieg in Vietnam Schlüsse auf die andere Seite zu ziehen. Das war ein starker Gegensatz. Der andere Gegensatz war der, daß ich sah, daß es in der Bundesrepublik nach der langen Phase der Restauration einen Reformstau gab, ähnlich wie heute, und daß sich etwas ändern müsse, daß ein demokratischer Wechsel stattfinden müsse. Aber ich glaubte an keine Revolution. Es gab weder einen Grund dafür, noch eine Grundlage, bei der Bevölkerung schon gar nicht. Und ich habe versucht, streitbar, aber auch auf die Schwierigkeiten hinweisend, im Gespräch mit den Studenten und auch in Auseinandersetzungen, darauf hinzuweisen, daß es natürlich auch an ihnen liegen könne, wenn ihr Seminarmarxismus von den Arbeitern nicht verstanden wird. Ich habe damals in Bochum an der Universität einen Vortrag gehalten unter dem seinerzeit empörenden Titel "Die angelesene Revolution". In damaliger Zeit wirkte es wie eine Provokation und sollte auch eine sein. Ich wollte sie wieder zu den wirklich politischen, politisch möglichen Veränderungen zurückführen. Das ist auch zum Teil gelungen, denn ich bin in der Zeit und den Jahren nach 1969 im Wahlkampf tätig gewesen, da waren schon viele Studenten dabei, die von diesen vergeblichen Revolutionsforderungen die Nase voll hatten, die eine Veränderung wollten.

    H. W.: "Des Idyllikers schnaubendes Steckenpferd" haben Sie die Revolutionsidee einmal genannt. Dann haben Sie etwas Besonderes unternommen, das man mittlerweile gar nicht mehr als etwas Besonderes wahrnimmt: daß ein Schriftsteller, ein prominenter, Wahlkampf für eine Partei macht. Es ist heute leichter, sich vorzustellen, ein Schriftsteller geht auf die Barrikaden, ist der Ultra-revolutionär, als sich vorzustellen, was es hieß, jemand geht wirklich auf Wahlkampfreise und hält Dutzende von Wahlkampfreden. Das hatte es noch nicht gegeben. Was war das für ein Impuls, der Sie dahin geführt hat, genau das zu tun, ganz parlamentarisch, zivilisiert, demokratisch in diesem Ordnungsgefüge selber eine Rolle an der Seite der Mächtigen einzunehmen?

    G. G.: Ich muß zurückgehen. Also, in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg, genau gesagt 1946, war ich viel unterwegs, von einer Besatzungszone in die andere, und mehr aus Gründen der Ernährung denn aus Neigung suchte ich Arbeit in einem Kali-Bergwerk. Da gab es Schwerstarbeitermarken. Und gleichzeitig gab es in diesem Kali-Bergwerk auf der 950-Meter-Sole, wo ich als Koppeljunge arbeitete, häufig Stromsperren. Das lag an der Zeit, und in diesen manchmal zwei, drei Stunden da unten, saßen wir Arbeiter dort und diskutierten und stritten. Und man konnte sie in drei Gruppen aufteilen: das waren kleine Nazis, Sozialdemokraten und Kommunisten. Alles Arbeiter. Und nach kürzester Zeit im Verlauf einer solchen Diskus-
    sion verbündeten sich die kleinen Nazis mit den Kommunisten gegen die Sozialdemokraten. Ich bekam also 950 Meter unter der Erde Lektionen erteilt über das Ende der Weimarer Republik. Es war ein Spiegelbild dessen, was sich in Deutschland mit dem Komintern-Beschluß der Kommunisten, wo dann auf einmal die Sozialdemokraten der Hauptfeind waren, abgespielt hatte. Das hat mich sehr geprägt. Dann kam ich, jetzt ein Sprung, 1960 aus Paris zurück, im Jahr darauf wurde die Mauer gebaut, und Willy Brandt, der regierende Bürgermeister, kandidierte zum ersten Mal für die SPD als Kanzler und wurde von Konrad Adenauer, während Brandt als Bürgermeister mit der Stadt und der geteilten Stadt zu tun hatte, als uneheliches Kind, als Fram, als einer, der Deutschland verlassen hatte, beleidigt. Die ganze Emigration wurde beleidigt und diffamiert. Und der Protest in der öffentlichkeit war gelinde. Es wurde wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Und das hat mich dazu gebracht, mit Brandt erst einmal direkt zusammenzuarbeiten. Das heißt, ich habe mit Egon Bahr zusammen an Reden gearbeitet. Bin dann auch mitgeflogen in den Wahlkampf, habe mir das angehört und dann gesagt: Also, das kann nicht sein, daß du einfach nur Texte für andere schreibst, du mußt dich da selber reinmischen. Und dann habe ich vier Jahre später mit Studenten vom Sozialdemokratischen Hochschulbund, das war 1965, und Studenten vom Liberalen Studentenbund, die ausgeschlossen waren aus der FDP in der Zeit Erich Mendes, zwei Wahlkampfreisen durch Universitätsstädte vorbereitet. Das war meine erste Beteiligung an einem Wahlkampf. Und das habe ich dann ausgebaut, auch aus der Einsicht heraus, daß es ja nicht damit getan ist, daß die bekannten Namen die eine oder andere Protestresolution unterschreiben, die man dann überall schön gereiht findet, alphabetisch geordnet. Das konnte es nicht sein. Das hat mich dann auch gereizt. Und ich muß sagen, daß ich dabei sehr viel gelernt habe, auch als Schriftsteller. Ich bin ja durch diese Wahlveranstaltungen, zumeist in tiefschwarze Wahlkreise, in Gesellschaftsschichtungen hineingekommen, die oft einem Schriftsteller versperrt sind. Wir haben zumeist als Publikum ein sogenanntes Bildungsbürgertum. Das war nun ein anderes Publikum. Und war auch eine Herausforderung für mich.

    H. W.: Nun gab es viele Kritiker in der öffentlichkeit, die gesagt haben: Das geht nicht gut, ein Schriftsteller, der sich so der Politik hingibt, der nimmt Schaden an seiner schriftstellerischen Substanz. Tatsächlich - Sie haben weiter Bücher geschrieben, Sie haben "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" über die Wahlkämpfe selber geschrieben, "örtlich betäubt" geschrieben. Aber der nächste große Roman, von dem man gesagt hat, das ist wieder ein Grass vom Kaliber der "Blechtrommel", war tatsächlich erst 1977 "Der Butt", also eine ganze Zeitlang später. Und es war ein ganz anderer Roman mit einem ganz anderen Horizont. War da nicht die politische Phase doch so etwas wie ein Bremser für die literarische Tätigkeit?

    G. G.: Also zum einen, ohne daß ich das jemals zum Programm erhoben hätte, ist es mir bis heute immer nur jeweils in einem Jahrzehnt gelungen, einen epischen Roman zu schreiben. Die "Blechtrommel" in den Fünfzigern, die "Hundejahre" in den sechziger Jahren, den "Butt" in den siebziger Jahren, die "Rättin" in den achtziger Jahren, und dann kam "Ein weites Feld" zu Beginn der neunziger Jahre. Das liegt an der Stoffmasse, an dem ungeheuren Wortverschleiß eines epischen Erzählens. Da sind andere Bücher dazwischen entstanden, aber die waren geringer vom Umfang, und immer wieder Lyrik auch. Natürlich, was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, ist das ein Risiko, das ein Schriftsteller eingeht. Er spricht in einer Sekundärsprache, das, was der politische Jargon mit sich bringt. Er muß sich zumindest damit auseinandersetzen. Selbst wenn er es ironisiert in seiner Rede, setzt er sich damit auseinander. Und ich habe im "Tagebuch einer Schnecke" diese Gefährdung und diese Gefahr auch sehr genau beschrieben, wenn ich als Redner in einer politischen Arena, immer gefaßt auf Zwischenrufe, genau weiß, was ich antworte, wenn da eine Frage kommt. Diese Art von Routine, die sich einstellt, auch die Gefahren einer solchen Sache, daß man dann plötzlich danebensteht, sich selber reden hört. Diese Dinge habe ich wahrgenommen und beschrieben. Für mich war das dann auch ein literarisches Thema. Im übrigen ist diese ganze Diskussion, ob sich der Schriftsteller politisch engagieren soll oder nicht, eine müßige Angelegenheit. Solange wir Literatur kennen, sind die Schriftsteller, weil mit Gesellschaft verwoben, auch immer in politische Konflikte verwickelt gewesen, ob sie wollten oder nicht.

    H. W.: Wenn ich eine Pointe anfügen darf - immer außer heute. Ist es denn nicht so, daß gerade heute dieser Impuls fast völlig weggefallen ist?

    G. G.: Na ja, es ist auch eine Gegenreaktion. Die Buchmesse 1990 war es, also wenige Tage nach dem Beginn der deutschen Einheit - da verkündigen das Zeit-Feuilleton und das FAZ-Feuilleton gleichgestimmt das Ende der Nachkriegsliteratur, verdammen die Gesinnungsästhetik, plädieren für ein neues Elfenbeinturmwesen, und nur noch das Artistische, nur noch das Ästhetische, ohne genau zu sagen, was sie damit meinen. Meinen gleichzeitig natürlich alles, was in der DDR als Literatur entstanden ist, auf den Müllhaufen, auf den Schrottplatz schmeißen zu müssen, wie auch die Wirtschaft, die gesamten Existenzen dieses untergegangenen Staates. Und das hat viele verstummen lassen.

    H. W.: Dann wären die Schriftsteller aber...

    G. G.: Und das hat viele dazu gebracht, sich anzupassen. Natürlich gibt es auch unter Schriftstellern Opportunisten. Bei einer Vielzahl von Bekannten und auch Freunden, die um 68 herum weit links von mir standen und mich als den letzten sozialdemokratischen Mist beschimpften, da muß ich mir heute den Kopf nach rechts verrenken, wenn ich sie erkennen will. Da tauchen sie dann wieder auf, sind sie wieder da. Das ist auch nichts Neues, wenn ich mir den Überschwang der deutschen Romantiker, Friedrich Schlegel, Clemens Brentano ansehen, und sie enden als bigotte Katholiken oder als Agenten von Metternich. Das sind nur zwei Beispiele, die ich genannt habe. Die deutsche Geschichte ist voll mit dieser Art von Wendehälsen. Also sollte ich nicht allzu sehr überrascht sein. Bedauerlich bleibt es trotzdem.

    H. W.: Wir wollen uns aber trotzdem noch ein wenig mit dem Schriftsteller Günter Grass beschäftigen, obwohl es naheliegt, Sie zu aktuellen politischen Ereignissen zu befragen, weil Sie einer der wenigen Schriftsteller sind, die dazu dezidiert Antworten zu geben haben. Wir waren beim "Butt" stehengeblieben. Der "Butt” hat - zumindest inhaltlich - den Horizont, der bisher in Ihren Romanen angesprochen war, erweitert. Er hat einen menschheitsgeschichtlichen Horizont. Er ist zeitlich und vom Romanraum her gesehen extrem ausgedehnt...

    G. G.: Das kündigt sich übrigens im "Tagebuch einer Schnecke" an, wo ich in der Enge des Wahlkampfes das Bedürfnis habe: raus aus dieser Sprache, raus aus dem Feld - jetzt wieder mal ein erzählendes Kochbuch schreiben. Das Lustgefühl beim Essen, aber auch der Hunger gehören dazu, die Not gehört dazu.

    H. W.: Ich erinnere mich gut, zu der Zeit war ich Student, daß der "Butt" auch gelesen wurde als ein antirationalistisches Buch, eins, das die Aufklärung, die menschheitsgeschichtliche Aufklärung, ähnlich wie Horkheimer und Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung” das getan haben, unter Generalverdacht stellt, das suggeriert, es sei die falsche Evolution gelaufen mit dieser Form der Vernunft- oder besser Verstandesverehrung in der Geschichte. Das ist eine Seite, die Sie auch haben anklingen lassen im Roman. Sie haben sich aber immer dagegen gewehrt, in einem nicht-aufklärerischen, geschweige denn antiaufklärerischen Sinn verstanden zu werden. Sind Sie diese Gratwanderung bewußt eingegangen?

    G. G.: Ja. Beim "Butt" kommt das sehr deutlich zum Ausdruck, in anderen Büchern ist es auch schon da. Ich bin natürlich von meinem Herkommen her ein Kind der europäischen Aufklärung. Aber mir ist bewußt geworden, wie sehr sich die Aufklärung nach Diderot und Voltaire in Frankreich und Lessing in Deutschland immer mehr verengte auf das vernünftig Machbare, technisch Machbare, ökonomisch Machbare. Und ganze Bereiche, die auch zur menschlichen Existenz gehören, gingen dabei verloren oder wurden unter den Verdacht des Irrationalen gestellt. Und das erschien mir immer als ein großer Verlust. Da ist mir Goyas Radierung "Der Traum der Vernunft" gebiert Ungeheuer immer ein warnender Hinweis gewesen. Und so habe ich versucht, in diesen Büchern nicht in Abwendung von der Aufklärung, sondern in Kritik zu ihr, diesen Bereich wieder zu erweitern. Die Essays von Montaigne, wenn wir den als den gemeinsamen europäischen Vater der Aufklärung anerkennen wollen, damit fing es an, die kannten das alles noch. Montaigne war im Kampf gegen die Relikte der mittelalterlichen Scholastik aufklärerisch tätig, wußte aber, daß es dieses irrationale Bedürfnis bei den Menschen gibt, und daß man das nicht einfach wegstreichen, wegrationalisieren kann, daß man mit ihm umgehen muß. Und das wollte ich wieder erreichen, deswegen gibt es in meinen Büchern von Anfang an, von der "Blechtrommel" an, und im "Butt" natürlich besonders stark ausgeprägt, auch diesen Bezug zu den deutschen Märchen, zu dieser Art von Realitätserfahrung, die aus den Märchen spricht.

    H. W.: Im großen Roman des nächsten Jahrzehnts, in "Die Rättin", sind die Märchenmotive auch sehr ausgeprägt. Der Roman steigert die irrationalen Züge in eine apokalyptische Vision. Ich wüßte gerne etwas von Ihnen zur Reaktion auf den Roman. Er steht insofern auch an einem besonderen Punkt, weil der öffentliche Zuspruch, den Sie eigentlich kontinuierlich empfangen haben, mit der "Rättin" nicht nur etwas abnahm, sondern nach meiner Beobachtung sogar auf eine eigentümliche Weise umkippte. Womit mag das zu tun haben? Hat das etwas mit der Substanz des Romans zu tun? Hat sich zu diesem Zeitpunkt - seit den achtziger Jahren haben wir eine konservative Regierung - das politische Hintergrundklima verändert? Wie schätzen Sie das Phänomen ein?

    G. G.: Also meine Bücher sind von Anbeginn, besonders die Prosabücher, umstritten gewesen. Auch heftig umstritten. Aber mit der "Rättin" setzte etwas ein, was regelrecht Vernichtungswille anzeigte. Da gab es also diese ersten Aufrufe von diesem Mann, der sich als Quartett ausgibt, das Buch überhaupt nicht zu kaufen und zu lesen, der Versuch, es runterzudrücken. Und einer seiner Stichwortgeber in dem Quartett hat sich erkühnt, die "Rättin" zu einem späteren Zeitpunkt zu den schlechtesten Büchern zwischen Hitlers "Mein Kampf" und Stalins Werke zu setzen. Solche Methoden sind damals schon aufgekommen. Das spitzte sich dann zu, als "Ein weites Feld" erschien, aber bei der "Rättin" war das alles schon da. Und das war nicht im Ansatz eine Auseinandersetzung mit dem Buch, sondern war politischer Wille.

    H. W.: Welcher, von wem und warum?

    G. G.: Es sollte nicht die Konsequenz unseres Tuns, die mögliche Selbstvernichtung, die technisch mögliche, auch gedanklich mögliche Selbstvernichtung der Menschheit zum Thema gemacht werden. Und nicht in dieser Form. Und überhaupt nicht. Es gab gar keine Auseinandersetzung darüber, sondern nur den Versuch, das Buch kaputtzumachen. Und das ist, was die "Rättin" betrifft, in weiten Bereichen gelungen. Es wurde regelrecht aus den Buchhandlungen gefegt durch solch ein Verdikt. Das ist dann bei "Einem weiten Feld" nicht mehr gelungen.

    H. W.: Sie haben dann Ende der achtziger Jahre auch Ihren erzählerischen und grafischen Bericht von Ihrer Reise nach Kalkutta, "Zunge zeigen", vorgelegt. Da habe ich den Eindruck, ist Günter Grass wieder gegen den Strom der Zeit geschwommen. Denn im Jahrzehnt des Hedonismus, des Lifestyle, des gutes Lebens und des bejahten Fortschritts galten die Kritikpositionen an der Gesellschaft vielfach als überholt. Und da kommt jemand und weist auf diese direkte Weise hin auf das Elend in den Slums von Kalkutta, von Indien. Ich weiß, daß Sie diese Reise sehr lange schon geplant haben, daß sie auch andere Hintergründe hatte. Aber gibt es auch dieses Moment, daß Sie sich sagen: Hier setze ich ganz bewußt ein Gegengewicht, hier picke ich in diese Form des Behagens, die sich ausbreitet, hier markiere ich das Andere zum herrschenden Konsens?

    G. G.: Das spielt sicher auch eine Rolle, denn für mich ist dieses Thema 'Dritte Welt' schon seit vielen Jahren wichtig. Und politisch gesehen ist meine Verbindung zu Willy Brandt, nicht nur begründet gewesen in den auf Deutschland bezogenen notwendigen Reformen und einer neuen Deutschlandpolitik, sondern auch in seiner Tätigkeit - nachdem er nicht mehr Kanzler war - als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale. Er hat die Nord-Süd-Kommission geleitet und hat zwei, wie ich nach wie vor meine, wichtige Bücher geschrieben über das Verhältnis zwischen dem reichen Norden und dem Süden. Er hat als erster diesen Begriff 'Weltinnenpolitik' gefaßt. Das ist alles nicht einmal in der eigenen Partei zur Kenntnis genommen worden. Er war und blieb in der Sache ein einsamer Rufer. Und ich war da ganz auf seiner Seite. Und ich habe auf meine Art und Weise dieses Thema immer wieder neu aufgegriffen. Und ganz besonders stark natürlich nach einem halben Jahr Aufenthalt in Kalkutta. Die Reise war geplant. Ich hatte schon länger die Absicht, bei einem Wiedersehen mit Kalkutta länger da zu bleiben, genauer hinzusehen, genauer wahrzunehmen, was mir bei der ersten Reise schon aufgefallen war, daß in dieser Stadt - besonders in dieser Stadt - nicht nur die Probleme der Dritten Welt, sondern auch unsere Problematik, die nachkoloniale Problematik, deutlicher werden. Das war das Thema, das ich mir gesetzt hatte. Daß dies dann hier in der deutschen öffentlichkeit als Flucht ausgelegt wurde und, na ja - bei einigen - mit dem Hintergedanken: Möge er doch nicht zurückkommen - das ist zwar ärgerlich, aber konnte mich auf die Dauer nicht jucken.

    H. W. : Sie hatten immer ein enges Verhältnis zu Willy Brandt, Sie waren Duzfreunde. Sie haben noch einmal darauf verwiesen, daß Sie viele Haltungen und Einschätzungen von ihm teilten. Ich mache jetzt einen Sprung zu 89 und über 89 hinaus. Willy Brandt war euphorisiert vom Augenblick des Mauerfalls. Wie war das für Sie? Der Augenblick selbst? Schon mit Zweifeln behaftet oder erst einmal ein reiner glücklicher Augenblick?

    G. G.: Also erst einmal war es großartig, eine Erleichterung ohnegleichen. Das hielt auch an, weil es ja nicht nur Deutschland betraf. Als ich dann im Fernsehen auf dem Wenzelsplatz in Prag meinen liebenswerten Kollegen und Freund Vaclav Havel Arm in Arm mit Alexander Dubcek sah, und ich bin immer - seit der Okkupation der Tschechoslowakei - an diesem Thema drangeblieben, war das für mich genauso wie für Willy Brandt, wenn auch bei ihm mit viel längerer Lebenserfahrung. Endlich ging ein Wunsch in Erfüllung. Endlich ist dieser mißratene, pervertierte Sozialismus am Ende, gibt seine Herrschaft auf. Aber bei mir hat sich dann schon - was Deutschland betrifft, sehr bald - Skepsis eingestellt, als ich sah, wie konzeptlos alle Parteien, Sozialdemokraten und Grüne eingeschlossen, darauf reagierten.

    H. W.: Darauf wollte ich gerade hinaus. Willy Brandt neigte ja viel stärker zu einer raschen Wiedervereinigung als Sie. Und was das Konzept angeht, es gab nun ein sehr rasches Konzept, dieses Zehnpunkte-Programm von Helmut Kohl.

    G. G.: Das Zehnpunkteprogramm von Kohl war eine Woche später entwertet. Sie haben es dann nicht durchgesetzt. Aber das, was ich erwartet habe, daß man nach vierzig Jahren verschiedener Staatlichkeit und Entwicklung, in jeder Beziehung anderer Entwicklung, behutsam vorgehen möge, daß man die Wirtschaft doch erst einigermaßen saniere und dann eine Währungsunion mache, daß man nicht als der Sieger dort auftreten dürfe - all das ist ja mißachtet worden. Stück für Stück. Und mein Vorschlag war eben, mit einer - was übrigens im Zehnpunkte-Programm von Kohl auch noch vorkommt - Konföderation zu beginnen, dies ein paar Jahre zu machen, und dann das zu tun, was in der Verfassung der alten Bundesrepublik im Schlußartikel drinsteht. Und da stand, besser gesagt: Im Fall einer deutschen Einheit muß dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorgelegt werden. Mein Wunsch wäre es gewesen, den Föderalismus zu stärken und nicht eine vergrößerte Bundesrepublik, sondern einen Bund deutscher Länder am Ende zu haben, was unserer Gegebenheit auch am besten entspricht. All das ist vernachlässigt, versäumt, übergangen worden, bewußt übergangen worden, denn es gab von Professor Ullmann und anderen aus dem Kreis des Widerstandes der DDR einen Verfassungsvorschlag, der 90 Prozent der alten Verfassung übernahm, aber in den 10 Prozent waren ein paar Erfahrungswerte aus der DDR übernommen worden. Das hat man nicht mal zur Kenntnis genommen in Bonn. Das waren die Dinge, die ich kritisch sah, auch im Gegensatz zu Willy Brandt kritisch sah. Ich kann verstehen, daß er am Ende seines sehr kämpferischen politischen Lebens sich danach sehnte und befriedigt war über dieses Ergebnis - denn seine Entspannungspolitik hat zum Zusammenbruch des Ostsystems erheblich beigetragen-, und daß er sich das gewünscht hat, und daß er diesen Satz: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört” auch so gemeint war. Aber er hat sich auch noch nach einer gewissen Zeit genötigt gesehen zu sagen: "Ich habe gesagt, jetzt <i>wächst </i>zusammen, was zusammengehört, nicht <i>wuchert.</i> Er sah noch in seinen letzten Lebensmonaten, wie das Ganze doch eine ungute Entwicklung nahm.


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    H. W.: Haben Sie sich über Ihre Unterschiede in der Einschätzung noch persönlich verständigt?

    G. G.: Es gab ein Gespräch, das Antje Vollmer und ich organisiert hatten, im Februar 1990, da war Willy Brandt auch dabei und viele andere, und da kamen diese Gegensätze und Widersprüche auch zur Sprache. Gut, das hat unsere Freundschaft nicht beendet, es war aber absolut ein Gegensatz, und damit mußte gelebt werden.

    H. W.: Sie haben schon am Anfang des Gesprächs Auschwitz zum Bestandteil der deutschen Identität erklärt. Sie haben dann, nach der Wiedervereinigung, stark darauf hingewiesen, daß Auschwitz auch diese Form der Wiedervereinigung politisch-moralisch verbiete. Ich darf Sie an dieser Stelle einmal wörtlich zitieren. Sie sagen: "Gegen jeden aus Stimmung, durch Stimmungsmache forcierten Trend, gegen die Kaufkraft der westdeutschen Wirtschaft - für harte DM ist sogar Einheit zu haben -, ja, auch gegen ein Selbstbestimmungsrecht, das anderen Völkern ungeteilt zusteht, gegen all das spricht Auschwitz, weil eine der Voraussetzungen für das Ungeheure neben anderen älteren Triebkräften, ein starkes, das geeinte Deutschland gewesen ist." Mit dieser Haltung, wenn ich das so salopp sagen darf, stehen Sie ja ziemlich alleine da. Sie haben eigentlich keine Unterstützung dafür bekommen. Es ist eine sehr radikale Haltung. Eine persönliche Frage: Wie können Sie eigentlich damit leben, daß Sie darin keine Unterstützung erfahren?

    G. G.: Es ist schwierig, oft in vielen Situationen schwierig, und es ist mir auch kein Trost und auch keine Erleichterung, daß meine schwärzesten Prognosen, was den Prozeß der Vereinigung betrifft, von der Wirklichkeit übertroffen worden sind. Da könnte ein anderer vielleicht triumphieren. Ich kann es nicht. Und was Auschwitz betrifft, es gibt viele Sätze, die ich dazu gesagt habe, und der Schlüsselsatz ist: Wer über die deutsche Einheit nachdenkt, muß Auschwitz mitdenken. Und dieses Mitdenken schließt eben meine Erkenntnis ein, daß wir mit einem Einheitsstaat, wie er unter Bismarck angestrebt wurde, wie er dann perfektioniert, bis zum Teuflischen perfektioniert wird unter den Nazis, wieder Gefahr laufen. Und deswegen mein Vorschlag, mit einer Konföderation zu beginnen, den Föderalismus zu stärken und zu einem Bund deutscher Länder zu kommen. Weil ein so gegliedertes Deutschland, 80 Millionen in der Mitte Europas, sich auch leichter in Europa integrieren läßt. Unsere Nachbarn bleiben bei allem besten Willen nach wie vor auf der Hut. Und manchmal bis an die Grenzen der Hysterie, wenn es um den Euro geht. Hier sehen sie schon wieder eine deutsche Anmaßung.

    H. W.: Aber wären die Nachbarn nicht erst recht auf der Hut, wenn wir eine Nation wären, die sich ständig selbst verbieten würde, sich als Nation zu fühlen, die sich selbstquälerisch davon abhielte, zu einer ...

    G. G.: Die Nation hat ja nichts mit der Staatsform zu tun.

    H. W. Wenn wir jetzt vom Nationalstaat sprechen, nicht von einer Kulturnation...

    Günter Grass: Also man kann sich durchaus in erster Linie als Bayer oder Mecklenburger empfinden und dann auch noch, insbesonders bei erfolgreichen Fußballspielen, als Deutscher. Man kann, wie es viele deutsche Schriftsteller, Goethe nicht zuletzt, genannt und empfunden haben, sich über die Sprache und über die Kultur als Deutscher empfinden und gleichzeitig behaupten, wie es Goethe getan hat, daß wir nicht in der Lage sind, uns politisch zur Nation zu bilden. Dafür haben wir viele schreckliche Beispiele geliefert. Und man kann versuchen, vom Herderschen Begriff der Kulturnation, diesem Begriff, der dann auch noch in der Paulskirche vorgetragen wurde, zu einem modernen Verständnis von Kulturnation zu kommen, in den auch die Bereiche mit hineingehören, die durch Einwanderung entstanden sind: die vielen Türken, die bei uns leben. Darunter gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Schriftstellern, wie es ja auch hugenottische Schriftsteller gegeben hat. Nicht nur Fontane. Auch viele andere, die in unser Land gekommen sind, wurden über die Sprache zu deutschen Schriftstellern. Das sind Dinge, die bei uns immer zu kurz kommen, wenn wir wieder mal einen Versuch machen, uns selbst zu definieren.

    Und dieser Staat und Nation gleichsetzende Begriff, wie er aus der französischen Revolution auf uns zugekommen ist - auch eine Geburt der Aufklärung -, hat sich als untauglich erwiesen. Wir sind mehr oder weniger stümperhaft dabei, dies durch eine europäische Einigung vielleicht zu überwinden. Und werden immer wieder zurückgeworfen durch nationalstaatliches Verhalten, ganz gleich welchen Landes.

    H. W. : In Ihrem Roman "Ein weites Feld", vor zwei Jahren erschienen, haben Sie auch den Vergleich von 1871, die Reichsgründung in Versailles, und 1990, die Wiedervereinigung am Brandenburger Tor, zum Thema. Die Kritik an dieser Wiedervereinigung, von Ihrem Helden Fonti im Hinblick auf die frühere Staatsgründung von Bismarck artikuliert, wird Ihnen natürlich von der Kritik und von der öffentlichkeit als eine Stellungnahme des Autors zum Zeitgeschehen ausgelegt und nicht allein dem Helden als Romanfigur. Können Sie eigentlich akzeptieren, daß das passiert? Sind Sie bewußt dieses Risiko eines Kurzschlusses von Fontis Meinung zu Ihrer Meinung eingegangen?



    G.G.: Also die Arbeit an einem solchen Roman von diesem Umfang und dieser Dimension setzt von Seiten des Autors so viel Aufmerksamkeit und Konzentration voraus, daß er wirklich keine Zeit findet, darüber nachzudenken, wie die deutschen Literaturkritik darauf reagieren könnte. Das wäre dem Buch auch abträglich, wenn ich bei jeder Wortsetzung und Satzsetzung an diesen oder jenen Kritiker denken würde. Wäre auch zuviel der Ehre. Das vorausgeschickt. Und das andere ist: Wenn man den Roman aufmerksam liest - mittlerweile ist ja einige Zeit vergangen, man kann ihn aufmerksam lesen -, wird man merken, daß ich davon ausgehe, daß dieser Einheitsprozeß, der 89 begann, nur zu verstehen ist, wenn man ihm die Folie des ersten deutschen, des mißglückten Einheitsversuchs von 1870/71 unterlegt, der wie ein Menetekel da ist. Es gibt Unterschiede. Diese erste Einheit basierte auf drei blutig geführten Kriegen, wurde erzwungen, in erster Linie von Bismarck. Die Einheit von 89 hingegen verdankt sich der Vorleistung der tschechischen Reformkommunisten unter Dubcek, der Solidaritätsbewegung in Polen, nicht zuletzt Gorbatschow und ganz zum Schluß gar nicht mal so vielen Leuten des Widerstandes in der DDR und ist unblutig verlaufen. Was unter anderem ein Verdienst der Volkspolizei und der Armee in der DDR gewesen ist. Auch das sollte gesagt sein. Das ist nicht miteinander zu vergleichen. Aber das Zugreifen, der Typ des Schofelinskis, der Jenny Treibel, der Neureichen, der hat sich erhalten. Da gibt es eine Unmenge von Parallelen, wie im einen wie im anderen Fall das Schnäppchen gemacht wurde. Auch mit den entsprechenden Krisen, die dazu gehörten nach 70/71, bis in die Gründerjahre hinein, und wie wir sie heute erleben. Auch mit den Skandalen, damals wie heute, bei der Treuhand. Da gibt es durchaus Parallelen.

    H. W.: Herr Grass, Sie sind ein erklärter Gegner von geschichtsphilosophischen Prinzipien, von historischen Gesetzen, aus denen man etwas ableiten könnte. Sie betonen aber häufig historische Parallelen oder gar Analogien, wie Sie es gerade eben getan haben. Wie verträgt sich das miteinander?

    G. G.: Mir ist nicht nur im politischen und gesellschaftlichen Bereich, sondern auch bis in den privaten Bereich hinein natürlich aufgefallen, daß wir Menschen Wiederholungstäter sind und gerne in den einmal eingefahrenen Spuren unseren Erfolg wiederholen wollen und bei der Gelegenheit dann auch unsere Fehler wiederholen. Und so ist das auch im Verhältnis der verschiedensten politischen Gruppierungen zueinander, auch der Länder und der Völker. Das ist das eine. Aber was mich vom Historiker unterscheidet - wobei ich diese Zunft nicht mißachte, es gibt großartige Historiker, und ich habe von ihnen viel profitiert -: sie haben eine andere Erzählperspektive, eine andere Richtperspektive. Ich habe, ob in der Blechtrommelgeschichte oder jetzt in "Ein weites Feld", immer aus der Sicht der Betroffenen berichtet, nicht von der Bank der Sieger aus. oder von der abgehobenen Bank der alles Überblickenden, Dokumentkundigen, die am Ende genau wissen, wie es hätte geschehen müssen, sondern aus dieser Sicht der unmittelbaren Betroffenheit. Gelernt habe ich das bei unserem ersten großen deutschen Roman, beim "Simplicissimus". Was wüßten wir vom Dreißigjährigen Krieg, wenn wir nur die Historiker hätten? Und wenn wir nicht Grimmelshausen hätten? Über den Alltag, über das, was zwischen den Heeren und zwischen den Soldaten, die dauernd die Fronten wechselten, geschehen ist, wie das Fouragieren aussah, wie so ein Bauer gepeinigt wurde, um seinen kleinen Schatz preiszugeben. Das erfahren wir alles durch diesen Erzählwinkel, den Grimmelshausen allerdings nicht erfunden hat. Er kam sehr stark von der spanischen und auch französischen Erzähltradition her. Also ohne Johann Fischarts Rabelais-Übersetzung ins Deutsche ist der "Simplicissimus" nicht denkbar. Und umgekehrt ist dieser große Franzose ohne die ersten spanischen pikaresken Romane nicht denkbar. Das ist eine große europäische Erzähltradition, in der ich mich sehe und befinde, die übrigens maurischen Ursprungs ist, was auch interessant ist: daß eine der großen europäischen Kulturleistungen nicht alleine auf europäischem Mist gewachsen ist, sondern daß es den Anstoß von außen benötigte. So wie Bocaccios "Decamerone” nicht ohne die Ringerzählungen, die aus dem Morgenländischen, aus der arabischen Welt kommen, denkbar ist. Das sind die Dinge, die mich interessieren, und das sind die Literaturtraditionen, die ich versuche, weiterzuentwickeln. Mit unseren Erfahrungen, mit unseren sprachlichen Möglichkeiten, auch in Auseinandersetzung mit dem, was an neuen Medien da ist. In vielen Büchern von mir spielt das Filmdrehbuch, das wie am Rande mitläuft, eine Rolle, auch das gescheiterte Filmdrehbuch. Das sind Dinge, die da auch mit hineingehören.

    H. W.: Vergrößern wir unsere Gegenwart einmal etwas mehr, als vielleicht angemessen: Kann es sein, daß wir einen kulturellen Wandel weg von dieser primären Erzählform und hin zu einer sekundärer Verarbeitung von Wirklichkeit erleben? Sie selber haben das Sekundäre angegriffen als eine Haltung in philologischen Zünften, in den Feuilletons. George Steiner, aus ganz anderer Richtung, hat das auch getan. Es gibt hingegen viele Theoretiker, die setzen geradezu auf das Sekundäre, weil endlich der Mythos des Originalgenies zu Ende wäre. Diese generelle, sozusagen kulturanalytische Frage, würde ich gerne verknüpfen mit der zugespitzten Frage: Was ist eigentlich passiert, daß auf einem Magazin wie der "Spiegel" ein Kritiker den Roman eines Autors symbolisch zerreißt, ein Stück Literatur symbolisch zerreißt? Erleben wir hier eine Zuspitzung tatsächlicher kultureller Verhältnisse? Der Autor zerrissen und der, der über ihn schreibt, im Vordergrund - ist das, wenn man es nicht personalisieren will, ein Zeichen für der Kult des Sekundären, für den, sagen wir es sehr modern: postmodernen Charakteer unserer Kultur?

    G. G.: Das ist natürlich alles insgesamt ein Aufstand des Mittelmaßes, das es nicht dulden kann, daß es Autorenschaft gibt. Und so erleben wir es in der Praxis, daß, um mit der Literatur anzufangen, nicht das neu erscheinende Buch das Ereignis ist, sondern wie sich dieser oder jener Kritiker dazu verhält. Er benutzt es zur Selbstfeier. Er mißt es an seinen Erwartungen an die Literatur. Er beruft sich fälschlicherweise dann auch auf Schlegel und Tieck und andere in der Romantik, die die Kritik zur Kunstform erheben wollten. Und erreichen natürlich dieses Niveau kaum. Und auch damit wäre nicht viel gewonnen, denn diese These ist schon zu Zeiten der Romantiker eine umstrittene gewesen. Das ist im Bereich der Literatur der Fall. Im Bereich der Kunst ist nicht mehr die neue Bildproduktion eines Malers aufregend, was sie eigentlich sein sollte, sondern der Ausstellungsmacher, der diese Bilder inszeniert. Die Bilder sind nur noch Vorwand. Was wir in der Musik schon lange hatten, daß Karajan ganz groß geschrieben steht, und unten ganz klein Mozart oder Schubert, und Beethoven noch dazu. Es ist in allen Bereichen mittlerweile der Fall, daß sich das Sekundäre vor das Primäre zu schieben beginnt. Dagegen habe ich protestiert, und andere ja auch, bis - Sie nannten Steiner - hin zu den Kritikern selbst. Auch Kritiker haben die Selbsterkenntnis, daß das ein Irrweg ist. Aber es ist auch gleichzeitig, was ich anfangs sagte, eine Rache, ein Aufstand des Mittelmaßes. Was den 'Spiegel' angeht, ist das mehr als bedauerlich, denn er gehört zur Geschichte der Bundesrepublik, war ein aufklärendes Instrument, polemisch aufklärend notwendigerweise, und ist nun wahrscheinlich auch aus Angst vor der Konkurrenz, 'Focus' und andere Dinge, so weit in der Anpassung fortgeschritten, daß er unter sein eigenes Niveau geht, weit unter sein eigenes Niveau geht, und ei</font>