Samstag, 11. Mai 2024

Archiv


Ostberliner Stadtneurotiker

Jochen Schmidt, Jahrgang 1970, studierter Informatiker, Germanist und Romanist, gehört zur lebendigen Szene Ostberliner Autoren - aber nicht als Neuzugang, sondern als gebürtiger Berliner. Er ist Mitbegründer und Star der Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", die wöchentlich bis zu 250 Besucher anlockt. Nach seinem Erzählband "Triumphgemüse" und dem Roman "Müller haut uns raus" widmet er sich in seiner neuesten Veröffentlichung "Meinen wichtigsten Körperfunktionen".

Von Gabriele Killert | 05.03.2008
    "Ich bin der, der dem Paketboten auf der Treppe entgegenkommt...Ich bin der, der auch noch auf dem Foto ist, und von dem dir der Name nicht mehr einfällt. Ich bin der, der deinen Blick bemerkt hat, als der große stattliche Mann hereinkam und sich den Schnee von seiner letzten Reise von den breiten Schultern klopfte...Ich bin der, der sich fragt, warum nicht alle sind wie er... Ich bin der, dessen Kuß auf deinen Lippen landete, wie die Rettungskapsel eines Raumschiffs in Kasachstan. Ich bin der, von dem du dich immer fragst, warum es ihn nicht gibt"

    Er ist der Entgegenkommende, der Unscheinbare, der Verlierer, der Narziss, der rettende Engel, der Traummann und oft einfach nur der Pechvogel, dem "alle Reißverschlüsse reißen". Oder der im letzten Sommer beim Klagenfurter Wettlesen überraschenderweise leer ausging, obwohl die Jury seinen Text über einen abgedrifteten Kosmonauten einhel-lig lobte. Irgendwie passt das zu der vielschichtigen, widersprüchlichen Identität, mit der uns Jochen Schmidt in seinem neuen Buch vertraut macht.

    Der Autor nimmt uns mit auf eine Sightseeing-Tour zu den bizarren Schründen und Abgründen seiner Existenz. Nicht ohne Stolz, aber ohne Hemmung, präsentiert er in 32 kurzen Texten, was er für seine "wichtigsten Körperfunktionen" hält, als da wären: Ängstlichkeit, Ungeduld, Höflichkeit, Egozentrik, Empfindsamkeit, Gebärneid etc. Und: seine Einsamkeit. Außer Bettlern und Verwirrten nimmt keiner Notiz von ihm. Am Flughafen beobachtet er wildfremde Paare im Wiedersehensglück und umarmt sie heimlich von hinten, bis sie entsetzt zurückschrecken.

    "Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemandem auffallen würde, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich habe schon einmal in der ganzen Gegend Fotos von mir aufgehängt, unter denen meine Telefonnummer stand und die Frage: "Haben Sie diesen Mann gesehen?" Natürlich wartete ich vergeblich auf einen Anruf... "

    Insbesondere sein Verhältnis zu Frauen ist eine prekäre Angelegenheit

    "Meine Verehrerinnen hatten eigentlich alles, was man brauchte, um mich in die Flucht zu schlagen... Es ist immer so, wenn Frauen wie warmes, duftendes Badewasser sind, dann verliebt sich in mich der schwarze Rand, der bleibt, wenn man den Stöpsel zieht"

    Frauen wie der schwarze Rand in der Badewanne - der Wille zur Originalität ist in diesen Texten ebenso so stark wie die Liebe zu ausgefallenen Einfällen. Der Protagonist, nennen wir ihn S. - nicht zu verwechseln mit dem Autor Schmidt, aber auch nicht von ihm zu trennen - S. also spielt die Karte des verklemmten, vergrübelten, von tausend Ängsten und Zwangsgedanken geplagten knopfäugigen Stadtneurotikers à la Woody Allen aus.

    Er ist nicht nur der letzte Strohhalm verschmähter Frauen. Er ist auch "die Hoffnung jedes ungeliebten Produkts", wie ein "barmherziger Samariter" geht er durch die Geschäfte und "erlöst" Ladenhüter. Er guckt Fernsehprogramme, die sonst keiner guckt, damit sie nicht umsonst gemacht wurden, er tritt absichtlich in Hundescheiße, damit die anderen sie besser sehen. Und wenn er jemanden nach dem Weg fragt und der ihn in die falsche Richtung schickt, dann geht er den falschen Weg, um den Hilfsbereiten nicht zu enttäuschen.

    Schmidts Adoleszenz fiel genau in die Umbruchjahre der Wende, wo das Land, in dem er sozialisiert worden war, die DDR, eine starke Abwertung erfuhr. Dieses kollektive Gefühl des Ruinösen, Entwerteten hat er persönlich auf sich genommen und in aller Frische in seinen Texten bis heute konserviert.

    "Mir ist.. oft zum Weinen, und wenn ich dann an diesem Geschäft im Nachbarhaus vorbeikomme, das "Weine am Arnimplatz" heißt, muß ich schmunzeln, und es geht mir gleich ein bißchen besser."

    Nicht nur mit solchen überraschenden Stimmungswechseln, auch mit seinen spitzfindigen Pointen und Haarspaltereien erinnert dieser Humor von fern an Karl Valentin: wenn S. sich etwa im Fotogeschäft nach dem Preis für das Format - nicht 9x13 - sondern 0,9x1,3 erkundigt oder wenn er sich im Streichelzoo zu den Schafen legt und die staunenden Kinder fragt:

    "Und was ist mit mir? "

    Es ist der gegen harte Schicksals-Püffe immunisierende Galgenhumor des inaktivierten Melancholikers, der selbst nichts zu lachen hat und sich erst im Lachen, das er auslöst, sicher fühlt. Doch hier, wo das Rettende ist, naht auch Gefahr. In Jochen Schmidts länge-ren Erzähltexten etwa in dem Band "Triumphgemüse" oder seinem Schelmenroman "Müller haut uns raus" kann sich diese Komik beiläufig im quasi selbstvergessenen Fluss des Erzählens entfalten. Da gibt es unvergessliche Szenen des Scheiterns, wo der Held mit seinen in der Gesäßtasche zerknitterten Gedichten und Texten im Kneipengetümmel stets zielsicher die falsche Kandidatin anbaggert.
    Diesen neuen kurzen Texten aber merkt man oft an, dass sie zuallererst für die öffentliche performance vor einem Lesebühnenpublikum geschrieben sind. In dieser Szene, wo die Unbeholfenheit der dargebotenen Texte oft so vollkommen ist, dass man sie für simuliert halten mag, ist man auf den schnellen Lacher aus. Wer dem zu sehr nachgibt, gerät leicht in die Annalen der Kleinkunst, und da holt ihn dann so schnell keiner mehr raus.

    Jochen Schmidt: Meine wichtigsten Körperfunktionen.
    C.H Beck Verlag 2007, 144 Seiten