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Packendes Einwandererdrama

Rechtzeitig zum entscheidenden Durchstich des Gotthard-Basistunnels am 15. Oktober erscheint ein Roman des Schweizer Autors Rolf Dobelli, zu dem dieser Tunnelbau die Rahmenhandlung liefert. Das Buch schildert den kometenhaften Aufstieg von Massimo Marini vom Gastarbeiterkind zum Bauunternehmer.

Von Patrick van Odijk | 29.11.2010
    "Diese Geschichten, dass einer sich hocharbeitet über zwei Generationen, das ist nicht einfach so aus dem Hut gezaubert, diese Schicksale gibt es und die sind eigentlich für italienische Einwanderer sehr normal sehr repräsentativ. Und es ist tatsächlich so, diese Immigration der Italiener in die Schweiz, das wurde literarisch irgendwie vergessen, nicht aufgearbeitet bis jetzt, obschon es riesig schöne Geschichten, auch bedenkliche traurige Geschichten gibt, und ich bin froh, hab ich das einmal anpacken können mit Massino Marini."

    Rolf Dobelli kennt diese Einwanderergeschichten, denn er verbrachte seine Kindheit in Emmenbrücke. Eine Stadt bei Luzern mit dem höchsten Immigrantenanteil der Schweiz. Fremdarbeiterkinder waren seine Klassenkameraden. Deren Väter und Mütter schufteten in den Fabriken und pflegten in ihrer Freizeit die Gärten der Schweizer. Und so leben auch Giovanni und Giulietta Marini, die Eltern der Hauptfigur Massimo. Angeworben in Süditalien landen sie Ende der 50er-Jahre in der kalten Schweiz. Sie wohnen in unfreundlichen Baracken, arbeiten auf unterster Stufe und erfahren wenig Respekt.

    Alle neun Monate müssen diese sogenannten Saisoniers für drei Monate das Land verlassen, um kein Bleiberecht in der Schweiz zu erlangen. Ehefrauen und Kinder dürfen keinesfalls mit in die Schweiz gebracht werden. Aber in genau so einer Saisonpause zeugt Giovanni mit Giulietta den kleinen Massimo. Da eine Trennung von Frau und Sohn unerträglich wäre, schmuggeln sie das vier Monate alte Baby auf abenteuerliche Weise in die Schweiz. Sie verstecken Massimo in einem Koffer mit Luftlöchern:

    An jenem Tag, Ende Februar 1959, dem offiziellen Einreisetag Giuliettas, um 7 Uhr 15, überquert sie im Zug von Mailand die Schweizer Grenze. Sie lehnt sich aus der aufgestoßenen Tür, die eisige Luft zieht ihr um das Gesicht, das Augenwasser gefriert auf ihren Wangen. Sie streckt den Koffer, aus dem Massimos Schreie plärren, so weit wie möglich aus dem rollenden Wagen und zählt einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig und versucht verzweifelt, ihren Mann auszumachen. Giovanni rennt mit dem Zug mit, so schnell er kann. "Komm schon! Jetzt! Lass ihn los!", ruft er. Und nun segelt der Koffer im perfekten Parabelflug durch die eisige Luft, plumpst in den frischen Pulverschnee und wird von ihm verschluckt.

    Der Vater rettet Massimo und versteckt ihn bei italienischen Nonnen. Die Eltern leben und arbeiten getrennt für ihre Zukunft, bis sie endlich nach vielen Jahren auch offiziell eine Familie sein dürfen. Basierend auf zahlreichen sauber recherchierten Einzelschicksalen erzählt Rolf Dobelli diese typische Immigrantengeschichte sehr realistisch und packend. Vater Marini schafft dann endlich den Aufstieg zum erfolgreichen Bauunternehmer: "Man muss sich die Dinge nur ordentlich in den Kopf setzen. Hörst Du?" ermahnt er eines Tages seinen Sohn Massimo, denn der will dem Weg des Vaters zunächst nicht folgen. Er interessiert sich mehr für Philosophie als für Baumaschinen. Er studiert in Paris, liest Foucault und Derrida. Dann kehrt er ratlos nach Zürich zurück, wo sein Vater weiterhin mit Baggern im Dreck wühlt.

    Aus Trotz wird Rebellion. Massimo beteiligt sich an den gewalttätigen Opernhauskrawallen, die 1980 die Schweiz erschüttern. Er entwickelt sich zum Politsponti und später in Deutschland zum militanten Atomkraftgegner. Aber als der Vater stirbt, kehrt Massimo nicht nur zurück – er entscheidet sich für das Unternehmen des Vaters. Massimos Werdegang vom Saulus zum Paulus erzählt Dobelli im Zeitraffer - angefüllt, ja fast überfüllt mit den Ideen, Diskussionen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 70er- ,80er- und 90er-Jahre.

    "Weil der Typ mich interessiert hat, ich musste mir genau vorstellen was macht der in jedem Jahr, so wie er jetzt beschrieben ist, ist er glaubwürdig, mit all diesen Ausfällen, die er gehabt hat, Theaterspielen, Anti-Akw-Bewegung, vom Linken zum Rechten, es ist eine glaubwürdige Entwicklung eines Mannes. Er wird einfach zum Kapitalisten, zum Unternehmer, weil er merkt, da kann ich was bewegen, das macht mir Freude, das gibt Geld. Er macht das, was er im Moment für richtig hält, und wenn er sich entschlossen hat, das Bauunternehmen des Vaters zu übernehmen, dann zieht er es mit voller Kraft durch."

    Und zwar so erfolgreich, dass er den Auftrag für den Gotthardtunnelbau bekommt. Mit 57 Kilometern wird es der längste Tunnel der Welt werden. Der Sohn eines Einwanderers bohrt sich damit durch das Schweizer Urgestein mitten hinein ins Herz der guten eidgenössischen Gesellschaft.

    "Dieses Reinbohren in die Schweizer Gesellschaft - ein hervorragendes Bild überhaupt das Bohren, das kommt ja oftmals vor, dem Ich-Erzähler in die Seele reingebohrt und dann den Durchstich durchs Jungfernhäutchen - ist auch eine Art Tunnel. Also diese Tunnelmetapher - diese Bohrmetapher kommt sehr viel vor und ich habe damit schon ein bisschen gespielt."

    Rolf Dobelli lässt die Geschichte des Massimo Marini durch dessen Rechtsanwalt erzählen. Das ist ein eigenbrötlerischer Kanzleihengst namens Wyss.

    "Der Wyss erlaubte mir eine Gegenposition zu Massimo Marini. Massimo Marini, der Mann der voll im Leben steckt, der anpacken kann, der Entscheidungen kann. Der wirklich das Leben genießt. Also er ist ein Mann voller Blut. Und der Wyss ist das Gegenstück, der Wyss ist ein, wie der Namen schon sagt, er ist bleich, er ist einer der sich dem Leben verweigert, der nicht wirklich entscheiden kann, der auch ein bisschen scheu ist."

    Und unter einer schweren Depression leidet. Deshalb begibt er sich in eine psychiatrische Klinik und als Teil der Therapie schreibt er in Rückblenden große Teile der Geschichte auf. Da er aber auch noch selbst darin verstrickt ist, entwickelt sich dieser Wyss zu einer zweiten, starken Hauptfigur, die uns durch ihre verletzte Psyche oft näher kommt als der schematisch–wuchtige Massimo. Außerdem berichtet der Ich–Erzähler Wyss zeitweise über Geschehnisse, die er so zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennen kann.

    "Es ist eine Erzählstruktur, die aufgeht. Man muss sich natürlich vorstellen, dass der Wyss seine Tagebücher zwischendurch überarbeitet. Der schreibt nicht laufend nach und dann wird es abgedruckt in dem Diogenesbüchlein, sondern der überarbeitet das und da kommen teilweise Passagen vor, die er nicht hätte wissen können. Das ist aber erst am Schluss. Bis 90 Prozent ist es synchron, was abläuft. Am Schluss musste ich diesen Trick anwenden, ich konnte nicht alle zwei Seiten wechseln wieder zum Wyss. Das hätte der Leser nicht vertragen."
    Jedenfalls erzeugt Dobelli damit Spannung und man kann tatsächlich über diese Ungereimtheiten hinweglesen. Denn am Ende wird der Roman durch zahlreiche Wendungen und Verwicklungen noch einmal richtig packend.

    Eine Stärke des Buches ist auf jeden Fall Rolf Dobellis klare, schnörkellose und dennoch bildhafte Sprache.

    Die Wellen trommelten gegen den Bug. Links und rechts zogen die sanften Hügel vorbei. Der See rollte sich wie eine unbenutzte Alufolie vor uns aus. Er glänzte hart im Licht des Nachmittags. Ab und zu Enten, die erschreckt aufflogen. Wir glitten Richtung Süden, und das Einzige, was uns an jenem Nachmittag im Weg stand, waren die Alpen, sonst wären wir durchgefahren, Richtung Italien, Richtung Mittelmeer.

    Mit dem neuen Gotthardtunnel wird das dann leichter möglich sein. Massimi Marinis steile Karriere erreicht mit dem 1. Tunneldurchstich ihren Höhepunkt. Dann erfolgt der Absturz. Das ist vorhersehbar, dennoch ist man bis zuletzt gespannt, wie genau der Niedergang sich vollziehen wird. Für den Leser sind dabei alle Passagen, die mit dem Tunnelbau zu tun haben, höchst interessant. Dobelli besuchte vor vier Jahren die Gotthardbaustelle und war fasziniert von der Arbeit unter Tage.

    "Der Stolz der Mineure der Bauarbeiter dort. Die arbeiten wirklich zehn Tage nonstop am stück durch, acht stunden, dann gehen sie vier Tage nach Hause, dann arbeiten sie wieder zehn Tage. Sie sind unter Tag, sehen nie die Sonne, und mich hat es wirklich erstaunt, wie stolz die Tunnelbauer sind. Die würden nie was anderes bauen, nie ein Einfamilienhäuschen - die wollen Tunnelbauer sein."
    Und damit hatte Dobelli den perfekten Hintergrund für Aufstieg und Fall seiner Hauptfigur Massimo Marini gefunden.

    "Als ich dann gemerkt habe, es geht in Richtung Gotthardtunnel, und dann war mir klar es wäre sehr dumm, dieser Roman käme zwei Jahre verspätet raus, der muss jetzt rauskommen, wenn dieser Durchstich da ist und dann musste ich mich wirklich beeilen, aber es hat sich gelohnt ,denn es passt so wunderbar zu diesem Durchstich -es ist so wunderschön."

    Dobelli kennt das Geschäft. Er ist promovierter Betriebswirt und war einer der jüngsten Topmanager der Schweiz. Mit 35 erlebte er seine Quaterlifekrise, wie er es selbst nennt, und verarbeitete sie in seinem ersten Roman. Das Buch wurde auf Anhieb ein Erfolg, obwohl der Max-Frisch-Verehrer Dobelli nie zuvor geschrieben hatte. Das passt zu seinem Lebenslauf. Da ging es stets glatt und steil nach oben und schön früh lobte man ihn hoch zum Wunderkind der Geschäftswelt.

    "Das verfolgt mich nicht, aber was mich natürlich verfolgt, ist dieser Trieb, dieser calvinistische Drang, dieser zwinglianische-aus-Zürich-Drang, zu arbeiten und mich nicht einmal ruhen lassen zu können. Also ich muss ständig irgendwie produktiv sein oder habe das Gefühl, ich müsse produktiv sein, ich müsste im Geschäft das machen, ich müsste in meiner Stiftung Zürich Minds das und das erreichen, ich müsste einen Roman schreiben, und einen gemacht - schon mit dem nächsten anfangen und da würde ich gerne rauskommen."

    "Massimo Marini" ist Rolf Dobellis erste Geschichte, die nur noch wenig mit seinem Leben in der Businesswelt zu tun hat. Ein interessanter Entwicklungsroman, der vor allem in der Immigrationsgeschichte und den Schilderungen des Gotthardtunnelbaus beeindruckt. Ein Roman, der sich gut und leicht liest, auch wenn er in der Erzählstruktur und Figurenzeichnung an manchen Stellen etwas doch unplausibel wirkt.

    Bestimmt wird es zukünftig noch mehr Bücher von Rolf Dobelli geben, denn das Schreiben steht für den Geschäftsmann mittlerweile im Vordergrund.

    "Die Schriftstellerei ist eindeutig wichtiger. Es ist von der Arbeit her auch schwieriger einen Roman zu schreiben als ein Unternehmen aufzustellen. Ich denke mehr Hirnregionen müssen da zusammenspielen, bis ein Roman rauskommt und das ist das was mich fasziniert. Es ist fast wie eine Knobelaufgabe - wissen sie man bekommt vom Lehrer eine Knobelaufgabe und muss am nächste Tag eine Lösung präsentieren und dann knobelt man eine Nacht und so ist es für mich mit einem Romanprojekt: da ist eine Knobelaufgabe - geht ein Jahr, nicht eine Nacht - aber es ist - ächz - man will es dann wirklich packen und schön machen und gut machen."