Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Paläoklimatologie
Klimaveränderung und Völkerwanderung

Die Klimaforschung ist eines der einflussreichsten wissenschaftlichen Arbeitsfelder - mit politischer Bedeutung und großer Wirkung auf andere Disziplinen. Insbesondere in der Archäologie und den Geschichtswissenschaften spielen Klima-Rekonstruktionen eine immer größere Rolle.

Von Matthias Hennies | 06.08.2015
    Die Jahresringe an einem abgeschnittenen Robinienstamm.
    An den Jahrringen des Holzes lässt sich ablesen, wie warm und feucht es in den vergangenen Jahrhunderten war. (picture alliance / ZB / Patrick Pleul)
    Die Paläoklimatologie versucht meist, historische Umbrüche zu erklären. Dabei stoßen jedoch zwei Welten aufeinander: natur- und geisteswissenschaftliche Forschungsmethoden, die sich so grundlegend unterscheiden, dass die Resultate der Kooperation selten zur beiderseitigen Zufriedenheit ausfallen. Matthias Hennies stellt aktuelle Entwicklungen der Paläoklimatologie und ihr disziplinübergreifendes Potential vor.

    Das Mauerwerk trägt ockerfarbenen Putz, die Fenster sind von Sandstein umrahmt, ein schieferverkleideter Turm erhebt sich aus den roten Ziegeln des Dachs: Die Dorfkirche in Gilsa, einer 300-Seelen-Gemeinde im nordhessischen Hügelland, ist ein schlichtes Gebäude. 1719 errichtet, bietet es aber erstrangiges Arbeitsmaterial für die Klimaforschung.
    "Wir sind deswegen in den Dachstuhl gegangen, weil wir hier wirklich den Zugang in unser Archiv haben."
    Ein Gewirr massiver Holzbalken bildet den Dachstuhl, waagerechte, senkrechte und diagonale. Diese Balken sind Ulf Büntgens Archiv. Dr. Büntgen, angestellt bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in der Nähe von Zürich, ist Fachmann für Paläoklimatologie. Er bohrt aus solchen alten Stützen einen dünnen Holzkern heraus und liest an den Jahrringen des Holzes ab, wie warm oder feucht es in vergangenen Jahrhunderten war.
    "Dieser Firstbalken, der ist auch in der Dimension sehr groß, sehr groß bedeutet ja, sehr viele Jahrringe und das ist natürlich einfacher für uns, um die Überlappung mit anderen Gebäuden zu haben und gleichzeitig auch mehr Klima-Informationen."
    Klimakalender anhand von Holz erstellt
    In der Dendrochronologie wird Holz seit Langem durch die Anzahl der Jahrringe datiert. Ihre Breite verrät aber auch etwas über das Klima früherer Zeiten: Wenn ein Baum im Frühjahr viel Wärme und ordentlich Regen bekommt, bildet er einen kräftigen Wachstumsring, ist es jedoch kühl, einen schmalen. Da sich das charakteristische Muster schmalerer und dickerer Ringe in vielen Bäumen wiederfindet, zumindest in Ausschnitten, suchen die Forscher nach Überlappungen und konstruieren aus Hölzern verschiedenen Alters einen Jahrringkalender, der weit in die Vergangenheit führt und auch mehrere Regionen umfassen kann.
    Büntgen und seine Kollegen haben den ersten Klimakalender erstellt, der rund 2.500 Jahre zurückreicht: Man kann daran zum Beispiel ablesen, wie die Wetterverhältnisse um 400 vor Christus waren, als sich die keltische Kultur in Mitteleuropa zu einer neuen Blüte entfaltete. Oder welche Wetterschwankungen um 450 nach Christus auftraten, als sich die Römer von Rhein und Donau zurückziehen mussten. Letztlich geht es in der Paläoklimatologie um diesen Zusammenhang: den Einfluss des Klimas auf soziale Ereignisse in der Vergangenheit, vor allem auf Umbrüche und Krisen.
    Aber ist das Wetter nicht ein lokales, bestenfalls regionales Phänomen?
    "Wenn Eichen in einem bestimmten Jahr starke Zuwachsreduktionen haben, die Jahrringe schmal ausfallen, und wir sehen dieses Muster in Lothringen, in Hessen, in Brandenburg, aber auch in Böhmen und Mähren, wissen wir, aha, das Klimasignal ist eben nicht nur lokal gewesen."
    Unsicherheiten kommen jedoch in die Rekonstruktion, weil die Jahrringe nur das Wetter in der Wachstumsphase dokumentieren, im Frühjahr, bestenfalls auch im Sommer. Wie Herbst und Winter verliefen, zeichnet sich im Ringmuster nicht ab.
    "Um Unsicherheiten zu reduzieren, versuchen wir, die Datensätze ständig zu vergrößern, also unsere Aussagen auf möglichst vielen Bäumen oder archäologischen Hölzern zu begründen, aber ein Baum ist eben kein Thermometer."
    Er liefert nur "Proxy-Daten", wie die Forscher sagen, indirekte Anzeiger für ein Wetterereignis, die der Interpretation bedürfen. Paläoklimatologen können daher nicht präzise angeben, um wieviel Grad Celsius sich die Temperatur in einem bestimmten Zeitraum änderte - und schon gar nicht, wie viele Millimeter Niederschlag fielen. Ihre Ergebnisse lassen sich bisher nicht quantifizieren.
    Die Methodik der Naturwissenschaften, die auf präzisen Messwerten und eindeutigen Gesetzmäßigkeiten beruht, stößt in der Paläoklimatologie an Grenzen: wegen der schwierigen Datenlage und weil es im zweiten Schritt auch um soziale Ereignisse geht. Ulf Büntgen, der oft mit Historikern zusammenarbeitet, betont:
    "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht irgendwelche Kausalitäten suggerieren, sondern was wir in vielen Fällen einfach machen, weil die Zusammenarbeit zwischen den Naturwissenschaftlern und den Historikern gerade erst am Anfang ist, dass wir die Sache erstmal beschreiben. Ohne auf Kausalitäten zu verweisen. Und ein weiterer Punkt, dass Klima oft einer von ganz vielen Faktoren ist."
    Temperatureinbruch durch Vulkaneruptionen
    Gerade ist eine interdisziplinäre Studie über das 6. Jahrhundert erschienen, an der Büntgen mitgearbeitet hat: Die Forscher haben ermittelt, dass Mitteleuropa und Zentralasien zwischen 550 und 650 nach Christus die kälteste Periode der letzten 2.000 Jahre erlebten. Auslöser des Temperatureinbruchs waren Vulkaneruptionen in den Jahren 536, 540 und 547. Welche Vulkane damals ausbrachen, weiß man nicht - doch Sulfatablagerungen im Eis Grönlands und der Antarktis sind ein eindeutiger Beleg, der sich jahrgenau datieren lässt. Nach Vulkanausbrüchen kann sich Asche so weit in der Atmosphäre verteilen und das Sonnenlicht abfiltern, dass es auch im Sommer kühl bleibt. Ein solcher Temperatureinbruch ließ sich für die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts an Baumringen aus den menschenleeren Bergen des Altai im Süden Sibiriens nachweisen.
    "Das ist eine Zusammenarbeit mit Kollegen aus Krasnojarsk in Russland, die haben über die letzten acht Jahre Holz gesammelt, an der oberen Waldgrenze, es ist in bestem Zustand und ermöglicht uns, über 2.000 Jahre eine durchgehende Chronologie aufzubauen, basierend auf vielen vielen hundert Einzelbäumen, das ist Lärche und das Wachstum dieser Bäume ist sehr stark über die Sommertemperatur gesteuert."
    Wahrscheinlich wirkten sich die kalten Sommer auf die großen Umwälzungen dieser Zeit aus. Ab Mitte des 6. Jahrhunderts setzten in Zentralasien großräumige Migrationsbewegungen ein: Turkvölker bauten ihr erstes eigenes Reich auf, Awaren drängten nach Westen, bis sie im heutigen Ungarn eine neue Heimat fanden und im Südosten griffen andere Reiternomaden die chinesischen Dynastien an.
    Kooperation von Natur- und Geisteswissenschaftlern erforderlich
    Um solche Zusammenhänge genauer aufschlüsseln und besser belegen zu können, braucht die Paläoklimatologie die enge Kooperation mit Historikern - doch das ist eine heikle Sache, denn dabei treffen die radikal unterschiedlichen Forschungskulturen der Natur- und Geisteswissenschaften aufeinander.
    Im Heidelberg Center for the Environment, kurz HCE, sammelt man damit Erfahrungen. In einem der Labore lässt Nicole Vollweiler Edelgase messen, die in Stalagmiten eingeschlossen waren: So können auch die weißlichen Tropfstein-Zapfen, die vom Boden vieler Höhlen emporwachsen, Auskunft über das Klima vergangener Jahrhunderte geben. Vorteil: Während Baumringe im Frühling und Sommer wachsen, reagieren Stalagmiten auf das Winterwetter. Hinzu kommt:
    "Die Genauigkeit der Baumringe beruht ja vor allen Dingen auf der sehr sehr guten Datierbarkeit. Da sind wir mit unseren Methoden, haben wir da immer Fehlerbereiche. Der Vorteil, den dann die Stalagmiten haben, ist aber, dass ich vor allen Dingen oftmals auch längere Reihen am Stück zurück rekonstruieren kann."
    Die Forscher hängen mehrere Stalagmiten hintereinander, ähnlich wie Baumringmuster und erfassen damit nicht nur 2.500, sondern rund 500.000 Jahre.
    Dr. Vollweiler, Geschäftsführerin des Klimaforschungszentrums HCE, ist Expertin für die verschiedenen Klima-Archive. Eisbohrkerne liefern andere Daten als die Sedimentschichten aus Seen, sagt sie, und Sedimente vom Meeresgrund können sogar Einblick in die unendlich langen Zyklen von Warmzeiten und Eiszeiten geben. Manche Projekte jedoch verlangen ganz andere Methoden:
    "Dann muss ich schauen, welches der Archive ist geeignet, in sehr hoher Auflösung, sehr großer Datierungsgenauigkeit auch Extrem-Ereignisse aufzeichnen zu können. Und da kommen naturwissenschaftlich untersuchte Archive oft an ihre Grenzen."
    Dann müssen historische Quellen zu Rate gezogen werden: Steuerlisten, Briefe oder Wetteraufzeichnungen geben manchmal direkter Auskunft als die "Proxy-Daten" der Naturwissenschaften. Und sie spiegeln auch die Reaktion der Menschen auf dramatische Wettereignisse wider: Wie gut konnten sie sich anpassen? Mussten sie ihre Wohngebiete verlassen? Waren sie Seuchen ausgeliefert, folgten Hungernöte und Massensterben?
    Erklärtes Ziel am HCE ist, Geisteswissenschaftler in die Klimaforschung einzubeziehen. Der Historiker Dominik Collet hat damit aufschlussreiche Erfahrungen gesammelt. Er arbeitete kürzlich erstmals heraus, welche entscheidende Rolle das anhaltende, katastrophale Wetter bei der ersten polnischen Teilung spielte: als sich Preußen, Österreich und Russland 1772 Teile der kriselnden polnischen Adelsrepublik aneigneten.
    "Wenn man in die klassischen Forschungen dazu schaut, dann spielen die große, mehrjährige Hungerkrise und die Witterungsanomalien dieser Zeit überhaupt keine Rolle. Aber die Instrumentalisierung der Witterungsanomalien durch die Teilungsmächte ist schon ganz deutlich. Und wenn man einmal darauf schaut, dann fällt es einem sofort auf, dass etwa Friedrich der Große ständig von Getreidevorräten spricht."
    Etwa wenn er im Herbst 1771 an seinen Staatsminister in Wien schreibt:
    "Es gibt aber zumindest noch ein physisches Hindernis, dass sich den Absichten entgegenstellt: Die Hungersnot, die man überall zu spüren beginnt, stellt eine nahezu unüberwindliche Barriere gegen die Anlage von Getreidemagazinen dar."
    Der preußische König hatte aber schon einen Plan: Als sich die Versorgung Zentraleuropas nach drei schweren Missernten extrem zugespitzt hatte, schickte er seine Truppen über die Grenze nach Osten und ließ in Polen, das noch immer viel Getreide produzierte, das Korn requirieren. So konnte er nicht nur seine notleidende Bevölkerung, sondern vor allem seine Armeen mit ordentlichen Vorräten versorgen - während die Militärs der konkurrierenden Nachbar-Mächte vor leeren Magazinen standen.
    Ohne Nahrungsvorräte konnten Russland und Österreich ihre Truppen nicht für längere Zeit ins Feld führen, daher ließen sich die Zarin Katharina die Große und Kaiserin Maria Theresia auf eine Teilung des polnischen Staatsgebiets ein, das Preußen einen bedeutenden strategischen Vorteil bescherte. Friedrichs Rechnung war aufgegangen.
    Wie schlecht das Wetter vor der Teilung war, hat Dr. Collet genau rekonstruiert::
    "Für die betroffenen Gebiete in Polen gehen wir davon aus, wir haben da aber auch direkte Aufzeichnungen, dass es ungefähr 20 Tage im Monat über die gesamte Sommerperiode regnete und etwa ein bis anderthalb Grad kälter war. Wir wissen auch, dass eigentlich alle Flusssysteme in Zentraleuropa Hochwasser hatten und es gibt Extreme wie den Schneefall, der bis in den Mai dauert, oder späte Fröste, die eben auch die Witterungsperiode 1770 bis 72 ungefähr um drei, vier Wochen verkürzt haben können, das ist schon erheblich."
    Klimaarchiv der Historiker nützlich für Geisteswissenschaftler
    So präzise können Klimatologen lange vergangene Wettereinbrüche bisher nicht beschreiben. Die Historiker hatten einfach das bessere Klimaarchiv zur Verfügung:
    "In dieser Zeit entsteht auch das, was wir heute als Meteorologie kennen und man kann natürlich auch ein paar Tricks benutzen, um an Daten zu kommen, zum Beispiel den Beginn der Weinlese, die Öffnung von Häfen, die vielleicht sonst vereist sind, es gibt auch viele Briefe, in denen Wetterbeobachtungen gemacht werden und natürlich kann man Erntedaten, Steuererhebungen, Brotpreise, alles benutzen."
    Und wegen dieser Fülle historischer Quellen hat Dominik Collet den Zeitraum auch ausgewählt. Er wollte eine "Best-Data-Studie" erstellen, eine Untersuchung mit so hoher Daten-Auflösung wie sie in Klimakurven aus methodischen Gründen wohl nie vorkommt - weil eine Kurve aus einer Glättung der Messergebnisse entsteht. Naturwissenschaftler tragen ihre Daten in ein Koordinatensystem ein und zeichnen da die Kurve ein, wo die Punkte am dichtesten liegen - Ausreißer werden nivelliert.
    "Da ist es so, dass die Anomalie, die wir uns anschauen, also die Jahre 1770 bis 72, in vielen geglätteten Klimakurven überhaupt nicht vorkommen und wir wissen ja auch ziemlich präzise - das ist ja auch das Zeitalter der Statistik - für einige Gebiete, wie viele Leute da umgekommen sind, und dann muss man sich klar machen, dass diese geglätteten paläoklimatologischen Kurven auch einmal eine halbe Million Tote übersehen können."
    Gerade die Extreme interessieren Collet. Ihm ging es nicht so sehr um die große Politik, um die berühmten Herrscherfiguren Friedrich II., Maria Theresia und die Zarin Katharina, sondern darum, wie die kleinen Leute in Preußen auf den Wettereinbruch reagierten: Er wollte wissen, wie viele Bittschriften sie an den König richten, wann es zu Hungerunruhen kam, wie viele Todesfälle sich ereigneten. Diese gut belegten Ergebnisse hofft er, auf andere Klimakrisen in anderen Epochen übertragen zu können - am Ende vielleicht auch auf die Gegenwart. Er möchte, dass auch Historiker wieder die Beratungskompetenz für aktuelle Probleme erreichen, die zur Zeit vor allem Naturwissenschaftlern zugesprochen wird:
    "Uns haben motiviert vor allem auch die modernen Hungersnöte, und für uns ist es sicherlich spannender, in Zukunft vielleicht auch mit den Leuten zu sprechen, die sich mit den Herausforderungen von heute beschäftigen."