Montag, 06. Mai 2024

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''Projekt Operette''

Unser Thema ist heute eine Theatermusik, die aus Radio, TV, von CD - also aus den Medien erklingt. Doch nicht allein dies entführt auf ungesichertes Terrain. Texte und Melodien sind scheinbar vertraut und bekannt, und doch stehen alle Fragen offen. Ist es große Kunst oder nur flüchtige Unterhaltung? Was ist gemeint - Rausch, Illusion oder gar Parodie? Und woran bricht die Erinnerung auf?

Frank Kämpfer | 11.06.2000
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    Musikbeispiel: Kalman - Einleitung aus: "Mariza"

    Symphonischer Auftakt, Klavierkonzert, Harfen-Schwung; salto mortale ins Schlagercouplet. In Sekunden werden musikalische Welten durchquert, wirkliche Welten in die Ferne gerückt. Graf Boni öffnet schon den Champagner, aus den Bergen kommt Edelweiß und keine aliierte Armee, und Sylva Varescu ist nicht die Ausländerin ohne Paß, sondern die unbestrittene Königin in dieser Nacht. Verwandlung ist das Geheimnis der Gattung - und das Changieren zwischen ernst und banal, zwischen glitzerndem Schein und dürftiger Realität ist weitaus mehr als nur eine Frage nach der Substanz der Musik.

    Die Operette ist tot, es lebe die Operette. Getreu diesem Bonmot, das aus dem Politischen kommt, hat die Hamburger Teldec im vergangenen Jahr das beliebte Genre zu reanimieren versucht und technisch aufpolierte Bestände aus den Archiven der ehemaligen Telefunken-AG auf zehn CDs neu editiert: ·

    Musikbeispiel: Benatzki - aus: "Im weißen Rössl" (Paul Hörbiger)

    Das "Projekt Operette" der Hamburger Teldec: Karl Millöcker, Johann Strauss, Franz Lehar, Nico Dostal, Emmerich Kalman... Vierzehn Komponisten insgesamt umfaßt das CD-Zehnerpack, zweiundzwanzig Werke. Wohlgemerkt, letztere erklingen nicht komplett, sondern als Querschnitt, in Titel-Auswahl nah an der Potpourri-Form . Also nicht als Theater, sondern eher als Gala von Operettenmusik, als Revue beliebter Interpreten einer spezifischen Zeit. Die hier versammelten Hits aus Münchner, Wiener, Berliner sowie Hamburger Produktionen der frühen 60er Jahre dokumentieren: ein Stückchen Charme noch der 50er, die schon wieder beachtliche Laune des neuen Jahrzehnts, und hinter den Stimmen und Stars mancherlei Botschaft und Ideologie. Paul Hörbiger als Kaiser Franz Joseph in Benatzkys "Weißem Rössl" trifft den Ton sehr präzis. Im Spannungsfeld zwischen dem beginnenden Wirtschaftswunder und der (auch kulturell-geistigen) Trümmerlandschaft von gestern obliegt der Unterhaltungsmusik zwischen Elbmündung, Isar und Donau eine suggestive Funktion: Man darf sich wieder entspannen in Germany-West - die Operette auf Bühne, in Radio wie in TV lenkt ab, spendet Trost zähmt und verdrängt: die beschädigten Biographien ihrer Hörer, die vergeudete Jugend, das historisch verursachte wie auch erfahrene Elend und Leid in soeben vergangener Zeit. Ingeborg Hallstein, Heinz Hoppe, Anneliese Rothenberger und einige andere bieten die entsprechend Stimmen und Körper dazu und suggerieren dem Einzelnen bei der Jagd nach dem Glück die Möglichkeit einer nochmaligen Chance. Operetten-Querschnitte der 60er Jahre sind, wie hier hörbar, seriös produziert. Sie haben Glanz und Sentiment, doch es fehlt jener Biß, jene Spur Anarchie, die die Gattung ursprünglich ausgemacht hat. Zwischentöne jeder Art sind sehr rar.

    Übrigens auch in den Booklets, die sogenannte Operetten-Handlungen als Storys erzählen, und die jegliche Werk- und Wirkungs-Geschichte auch heute immer noch auszublenden verstehen. Musikhistorische Aufklärungsarbeit soll den heutigen Käufer der Produkte von gestern nicht stören; der Erinnerungswert ist ein ist ein Vermarktungsfaktor für sich. Immerhin, Hitlers Lieblings-Operette fehlt im stattlichen Zehnerpack; dafür gibt es Hits aus dem bedingt subversiven, weil sehnsuchtsträchtigen Erfolgsstück eines gewissen Paul Abraham, der 1933 nach Paris emigrierte und sein letztes Lebensjahrfünft in Hamburg in der geschlossenen Anstalt verbrachte. ·

    Musikbeispiel: Abraham: ‘Nur ein Mädel’ aus: "Victoria und ihr Husar"

    Querschnitte aus Operettenerfolgen der 60er Jahre - eingespielt seinerzeit mit Klang-Körpern des Bayerischen Rundfunks, des Norddeutschen Rundfunks, der Wiener Volksoper und der Deutschen Oper Berlin. Technisch bearbeitet und wieder veröffentlicht auf CD beim Hamburger Label Teldec.