Montag, 06. Mai 2024

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Rebell der Familie

Das Buch über den "Rebell der Familie" ist wuchtig, in vielerlei Hinsicht: es kostet ein paar Tage Lesezeit; es rüttelt an gängigen Alltagstheorien über Wirkfaktoren bei politischen, religiösen und wissenschaftlichen Revolutionen, und es stellt viele wissenschaftliche Thesen und Hypothesen über die gleichen Themen in Frage. Kurz: man liest das Buch nicht ohne Mühe, Kampf, Ärger, Bereicherung, Dankbarkeit, Wut, Auflehnung und dann wieder Hingabe an die aufbereiteten Datenmassen und die aus ihnen abgeleiteten Gesetze: Sie lassen politisches, religiöses und wissenschaftliches Verhalten je nach dem Rang in der Geschwisterrreihe voraussagen.

Tilmann Moser | 22.05.1998
    Wuchtig ist das Buch auch durch einen gewissen amerikanischen Stil der Vorführung des eigenen Denkens und Forschens: Rekorde werden betont, Datengebirge, Zahlen von interviewten Fachleuten, die die gesammelten Daten überprüften und taxierten; fast zehntausend Biographien will Sulloway gesichtet haben; gut dreißig politische oder wissenschaftliche Revolutionen hat er untersucht und in minutiöser Form die Reaktionen der in sie verwickelten Kontrahenten studiert und statistisch aufbereitet. Und immer wieder stößt er, anhand von Darwins Biographie illustriert, die ihn faszinierte, auf ein neues Naturgesetz, auf die Evolutionstheorie unter rivalisierenden Geschwistern: Was die Geschichte bewegt, sind Menschen, die aufgrund ihrer Geschwisterrangfolge quasi programmiert sind zu revolutionären Einsichten, zu brudermörderischer Diktatur, zum Märtyrertum für neue religiöse Bekenntnisse, zur Kampfbereitschaft für neue wissenschaftliche Paradigmata.

    Die Welt zerfällt in diesem Buch und in der riesigen Datenfülle aus Sulloways Computer und vermutlich auch in der Wirklichkeit in Erstgeborene und Spätgeborene. Man spürt an allen Ecken und Enden, daß Sulloway ein Spätgeborener sein dürfte, denn ihnen gilt die Liebe und die Bewunderung des Autors: sie sind weltoffen, neugierig, fragend, liberal, allem Neuen aufgeschlossen, antiautoritär und humanitär engagiert, kurz, die Träger des Fortschritts der Menschheit.

    Die Erstgeborenen dagegen, fast kriminalisiert oder zumindest verächtlich gemacht, behindern den Fortschritt, engagieren sich für die alten Theorien, für Ordnung, Gesetz, Primogenitur, also das Erstgeburtsrecht in der Erbfolge, sie sind Loyalisten, Royalisten und Kämpfer gegen den Fortschritt in Wissenschaft, Politik und Religion, es sei denn, sie brächten ein Engagement schon aus der Familie mit, oder sie setzten sich an die Spitze der Macht, wenn das Neue sich erst einmal durchgesetzt hat. Denn dann bilden sich neue Machtstrukturen und Hierarchien und es gilt, das Erreichte zu festigen, notfalls durch Terror und neue Diktatur: Urbeispiel Lenin, der jüngere Bruder, der die russische Revolution denkt und organisiert, und Stalin, der Erstgeborene, der sie zur paranoiden Diktatur ausgestattet.

    Faszinierend an Sulloways Buch ist, daß er dies in endlosen Kreuz- und Querrelationen offensichtlich zuverlässig untersucht, etwa an den Biographien der Gironisten und der Montagnards während der Französischen Revolution: die Reformer sind Spätgeborene, die Organisatoren und Ideologen des Terrors Erstgeborene, die, wie gegenüber ihren jüngeren Geschwistern, die Skrupellosigkeit des Machterhalts quasi im Blut haben, die sie sogar zum Brudermord aufgrund von ideologische Differenzen befähigt.

    Zwanzig Jahre hat der Wissenschaftshistoriker Frank J. Sullaway, unterstützt durch eine ganze Mannschaft von Mitarbeitern, in Stanford (Massachusetts) die Korrelation von Familienstruktur und Revolutionen aller Art untersucht. Ausgangspunkt ist Darwins Evolutionslehre, nach der sich die Arten differenzieren nach Lebensnischen, in denen sie mit neuen Mitteln ihr Dasein fristen, sich ausbreiten oder untergehen. Ähnliches geschieht in der Familie: es herrscht Rivalität unter den Geschwistern, die die knappen Resssourcen elterlicher Zuwendung und Fördermittel unter sich aufteilen. müssen und um ihren Anteil kämpfen. Die Erstgeboren identifizieren sich eher und werden Vertreter von Macht und Ordnung. Die jüngeren suchen ihr Glück in neuen Fähigkeiten, in der Auflehnung und in der Entdeckung neuer Lebens- und Denkmöglichkeiten. Sie sind also auch unterschiedlich prädisponiert, auf elementare Neuerungen in der Geschichte zu regieren: ablehnend oder unterstützend, bekämpfend oder kämpferisch dafür. So kann Sulloway zeigen, daß weder Rasse noch Klasse die Energien für Revolutionen liefern - obwohl er die Wirkkräfte gesellschaftlicher Verhältnisse nicht verneint, er nennt sie Makrohistorie - sondern die Emotionen, die sich durch die Geschwisterreihe, abgewandelt oder verstärkt durch Zusatzfaktoren, aufgestaut haben. Der Autor kann zeigen, daß diese Emotionen auch dann handlungswirksam sind, wenn sie gegen die unmittelbaren ökonomischen oder politischen Interessen der Beteiligten verstoßen. Kurz, die Französische Revolution oder schon die Reformation waren stärker bestimmt von der Psychologie der Beteiligten als von der Klasse oder der Nationalität. Oder um es mit Sulloways Worten zu sagen: "Die Erklärungen, die man in den letzten beiden Jahrhunderten zur Französischen Revolution gefunden hat, sind mehr oder weniger nur eine Fußnote zum vernachlässigten Einfluß der Geschwisterdifferenzen." Solche Thesen wiederholt Sullaway unablässig, als wollte er seine Entdeckung, die vermutlich von zentraler Bedeutung ist, dem Leser einbleuen, damit er sie nie wieder vergißt. Ein anderes Beispiel noch: "Während der Reformation war die Wahrscheinlichkeit, zum Märtyrer zu werden, für Spätgeborene 46-fach höher als für Erstgeborene. Im Kampf um egalitäre soziale Reformen setzten sich die Spätgeborenen für Redefreiheit, Glaubensfreiheit, für die Abschaffung der Sklaverei und die Gleichheit der Rassen und Geschlechter ein."

    Fast schämt man sich als Rezensent, ein Erstgeborener zu sein. Doch es gibt einen Trost: gelingt trotz des Makels der Erstgeburt eine gewisse Fortschrittlichkeit, so hat man sie seinen Konflikten mit den Eltern zu verdanken, die eine simple Identifizierung mit ihrer Macht nicht erlaubte. Man atmet auf und ist dem Autor dankbar für die Nische, die er einem bietet. Übrigens lockern viele Graphiken und Bilder den wuchtigen Band auf und stimmen nachdenklich oder gar heiter. "Der Rebell der Familie", ein umwälzender Wälzer, aber in einem guten und äußerst anregenden Sinn.