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Rumor und Eros

Das Ende ist bitter, schmachvoll, elend. Franz Marinelli, hat auch im Land seiner Sehnsucht versagt, so wie die Welt an ihm. Mittellos, alkoholgetränkt und tot wird er am Strand von Havanna gefunden. Wieder hat sich eine jener Unfallgeschichten des Lebens vollendet, die Arnold Stadler in seinem Werk aneinanderreiht. Sein neuer Roman Eines Tages, vielleicht auch nachts setzt das unselige Ende gleich an den Anfang und nimmt damit doch nichts vorweg. Dergleichen ist in seinen Helden ohnehin angelegt. Nur eines bringt sie dazu, entgegen des schlimmeren Wissens ihres Autors trotzdem ihr Glück zu versuchen: Eros, der Liebes- und Lebenstrieb, der tüchtig in ihnen rumort.

Eberhard Falcke | 10.02.2004
    Was sie antreibt ist existentielle Sehnsucht schlechthin: nach der Welt, den Frauen, der Geborgenheit. Und was sie lenkt, ist das männliche Zentralorgan, mit dem es hier eine ganz eigene Bewandtnis hat. Figuriert es doch stolz und kläglich zugleich, als Standarte weltumfangenden Liebeseifers ebenso wie als Marterpfahl ewiger Einsamkeit. "Doppelleben von Hirn und Hose" heißt das bei Stadler oder "heimatlose Erektion". Letztere Formulierung umreißt nichts weniger als das entscheidende Daseinsproblem seiner Helden schlechthin: Sie strecken und recken sich nach dem Glück und bleiben doch obdachlos, sexuell wie transzendental.

    Geradeso ergeht es Franz Marinelli. Obwohl er sich so weit hinaus gewagt hat, bis nach Kuba, wo die Mädchen nicht prüde sind, wenn in den Hosen neben den heimatlosen Erektionen genügend Dollars stecken. Mit Franz Marinelli kommt ein weiterer Fall jenes Daseinsgebrechens an die Öffentlichkeit, das man inzwischen ohne weiteres als Morbus Stadler bezeichnen könnte. Die hauptsächlichen Symptome sind: In der Heimat ist es von vornherein schrecklich, in der sehnsuchtsverklärten Fremde erst dann, wenn man hinfährt.

    Was Franz Marinelli betrifft, so las seine Mutter Thomas Bernhard und quälte ihre Umwelt mit der dabei erworbenen Weltsicht. Sein Vater dagegen fuhr im Wohnwagen durchs Land, um darin einem regen außerehelichen Geschlechtsleben zu frönen. Sohn Franz rang um Selbstverwirklichung, doch der Plan, Menschen in glücklichen Momenten für einen Bildband zu fotografieren, musste bei seinem Pech mit dem Glück natürlich scheitern.

    Thomas Bernhard dekretierte einmal, alles sei lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Bei Stadler reicht schon der Gedanke ans Leben. In dessen Lächerlichkeit werden seine Figuren vom Tod ertappt, eines Tages oder vielleicht auch nachts. Franzens lüsterner Vater scheidet in einer Pornovideo-Kabine von hinnen. Der Sohn legt sich am verdreckten Traumstrand nieder, um nicht mehr aufzustehen.

    Bei alledem mischt der Erzähler erstaunlich fidel Schmerz und Scherz, Tragik und Komik, Trauma und Traum, Seelenmensch und Hanswurst, hohe Töne und plattes Geplauder. Oft ging und geht das gut, wenn daraus die schön zerrissenen, kunstvoll mit Dissonanzen spielenden Stadler-Töne werden. Doch die Balance ist hochempfindlich. Umso mehr als Stadler ein bemessenes Repertoire an Stoffen, Themen und Motiven variiert und wiederholt. Da verläppert manchmal unübersehbar die Tragikomödie zur Klamotte, Figuren magern zur Karikatur ab, der Schmerzensmann verflacht mit seinem Unglück zur Kabarettnummer. Manchmal, wohlgemerkt!

    Andererseits ist das ja alles auch eine Frage der Deklaration. Obwohl es als Roman nicht übermäßig imponiert, bietet das neue Stadler-Opuskulum doch als Unglücksposse eine recht erheiternde Lektüre. Zumal die Erzählung nach Abhandlung des autochthonen Wiener Leidensweges weit in die Welt ausschweift. Nach Kuba eben, wohin Franz einer österreichischen Schriftstellerdelegation vorausreist, um ihren Aufenthalt zu organisieren. Da ist nun die ewig ersehnte Lebenschance plötzlich da: der große Sex-, Glücks- und Erlösungstaumel. Franz schafft es mit verdächtiger Leichtigkeit in die Arme einer braunen Schönheit. Die Schweine für die Hochzeitsfeier werden schon gemästet. Und dann geht natürlich wieder alles schief.

    Franz taumelt seinem Ende am Patrice-Lumumba-Strand entgegen, während ihn sein Autor in größere Zusammenhänge des Scheiterns und Versagens einordnet: Lumumba starb für die Revolution, die Revolution starb für Castro, Franz stirbt für sich. Der Tod bleibt der Stärkere, weil das Leben ihm allerwärts Beihilfe leistet.

    Wie schon in Sehnsucht, Stadlers vorletztem Roman, zeigt sich auch hier: Heimatlose Erektionen müssen wandern und hausieren. Den Autor und seine Helden treibt es zunehmend hinaus aus der Stadler-Provinz im Heidegger-Land. Dabei war es dort, wo die großen philosophischen Befunde über den "Seinsmangel" so wunderbar, einzigartig und skurril exemplifiziert wurden an den mickrigen Sprösslingen von Jäger- und Ferkelhändlerdynastien. Der Schritt in die weite Welt bringt dagegen, sieht man von der Abwechslung ab, nicht unbedingt Gewinn. Gesammelte Meinungen zu verstreuten Zeiterscheinungen, mehrheitsfähige Einschätzungen zu Castro oder reisefeuilletonistisch mit Lokalkolorit bepinselte Schauplätze – derlei ist weder sonderlich originell noch literarisch ergiebig. Dadurch wird der Stadler-Text zwar noch nicht verdorben, aber auch keinesfalls besser. Stadler hat genugsam bewiesen, dass er die Welt anschauen kann, wie sie kein anderer sieht. Dabei sollte er bleiben, eines Tages, vielleicht auch nachts.

    Arnold Stadler
    Eines Tages, vielleicht auch nachts
    Jung und Jung,190 S., EUR 18,-