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"Satt irrt der Spassgeist“

Mit Zeichnungen, Anagrammen und Prosatexten schuf Unica Zürn ein einzigartiges Werk, das sie zu einer der herausragenden Vertreterinnen des Surrealismus werden ließ. Ihre Freundin und Übersetzerin Ruth Henry erzählt in dem Buch "Die Einzige" die tragische Lebensgeschichte der Künstlerin, die sich 1970 das Leben nahm.

Von Sabine Peters | 18.01.2008
    Unica Zürn, Jahrgang 1916, gilt unter Kennern schon lange als eine der Ikonen des Surrealismus’ und ihre Freundin, Ruth Henry, hat soeben, kurz vor ihrem eigenen Tod im Oktober diesen Jahres, ihre Begegnung mit Unica Zürn geschildert.

    Ruth Henry war es, die die surrealistische Bewegung ins Adenauer-Deutschland brachte: Sie übersetzte Bretons berühmte surrealistische Manifeste; seit den fünfziger Jahren vermittelte sie den Deutschen in regelmäßig erscheinenden Artikeln und Radiofeatures ein Bild des künstlerischen Lebens in Paris. Sie war es auch, die Zürns Prosatexte "der Mann im Jasmin" und "dunkler Frühling" ins Französische übertrug.

    Der schmale Band mit dem Titel "Die Einzige. Begegnung mit Unica Zürn", den Ruth Henry schrieb, will keine Biografie im klassischen Sinn sein; er beansprucht keine Vollständigkeit. Vielmehr sucht Henry in immer neuen Ansätzen die Annäherung an einen Menschen, der ihr spürbar teuer war, und zwar weit über seinen Tod hinaus.

    Sie schreibt von einer Ausstellungseröffnung surrealistischer Kunst, bei der neben Werken von Hans Bellmer und Hans Arp, Meret Oppenheim und Max Ernst auch Arbeiten Zürns zu sehen waren:

    "Als ich mich der Schweigsamen bekannt machte, brach sie in ein Lächeln aus, und das meine ich wörtlich, Unicas Lächeln, aus dem etwas fern Zurückliegendes, Kindliches nie verschwand, war ein kleines Naturereignis, ein Schönwetterausbruch. Wie können sie dich immer und immer wieder fragen, warum du gingst? Wie kann man diese anmaßende Frage noch stellen, nachdem man dein Schicksal gelesen und betrachtet hat, das du mit Feder und Tusche schwarz auf weiß dargestellt hast? Du gabst keine andere Antwort als diese deutlichen, kalten, dennoch hörbaren, von dir selbst gesetzten Zeichen."

    Die Freundschaft und gegenseitige Achtung zwischen den beiden Frauen bedeutete natürlich auch Diskretion. Ruth Henry will Unica Zürn kein Rätsel entreißen, um es für die Leser zu lösen. Dabei gibt es in Unica Zürns Leben von Anfang an Brüche, weiße Flecken, es stellen sich Fragen. Die Familienkonstellation, die das Kind erlebte, muss traumatisch gewesen sein und artikuliert sich immer wieder in den Texten Zürns.

    Die Liebesbeziehung mit Hans Bellmer, dem sie 1953 von Berlin aus nach Paris folgt, ist recht bald geprägt von vergeblichen Versuchen, sich von ihm zu lösen - beide waren sie in Ruth Henrys Augen radikale Existenzen, die einander nicht immer helfen konnten, weil sie sich an je eigenen Abgründen bewegten.

    Zürns literarisches Werk, das hierzulande seit den siebziger Jahren verstreut und in meist kleinen Verlagen wie Merlin und Lilith erschien, handelt wie das von den um wenige Jahre jüngeren Autorinnen Ingeborg Bachmann und Marlen Haushofer von den Schädigungen und Verletzungen der weiblichen Existenz - also nicht gerade um den selbstbewussten Aufbruch hin zu einem autonomen weiblichen Ich, wie es Teile der neuen Frauenliteratur propagierten.

    Während allerdings Bachmann die Gewalterfahrungen von Frauen immer auch in einen gesellschaftlichen, politischen und historischen Zusammenhang stellt, scheint Zürn von den Zeitläufen ganz unberührt; als habe sie nur privat Himmel und Hölle erfahren. Dabei könnte man sich fragen, ob und wie ihre Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Deutschland stattfand, bevor sie Anfang der fünfziger mit Bellmer nach Paris ging. Oder man könnte fragen, wie sie die Scheidung von ihrem ersten Mann 1949 verkraftete, zumal man ihr das Sorgerecht für ihre zwei Kinder entzog - zu einem Zeitpunkt, als sie nicht krank war.

    Ruth Henry erzählt, dass Unica Zürn von sich selbst einmal beiläufig sagte, sie habe nicht kämpfen können. Ruth Henry stellt aber klar: Vielleicht konnte Zürn nicht auf der Ebene des Alltags, der Realität kämpfen. Ihr poetisches und künstlerisches Werk allerdings spricht von einer Kraft zum Aufstand, ja, zum Aufflug. Vor allem in ihren anagrammatischen Gedichten gibt es eine Strenge bei gleichzeitiger Schlafwandelei, die zur Schönheit wird.

    Die Technik des Anagrammsuchens, bei Kindern bekannt unter dem Namen "gefüllte Gänsebrust", bedeutet, aus vorgegebenen Buchstaben und Worten neue Wörter und Sätze zu bilden. So kann aus dem Vornahmen "Ernst" ein "Stern" werden; so kann aus "Unica Zürn", wie Oskar Pastior fand, ein "azur in nuce", also ein "Himmelsblau im Kern", ein Himmelsblau in der Nuss, werden.

    Ruth Henry schildert, wie die Freundin sich ihrer Obsession des Anagramme-Findens hingab, mit ambivalenten Gefühlen oft: So sehr es Zürn entzückte, Ungeahntes in den Wörtern zu finden, so sehr konnte sie sich mitunter auch von einer einfachen Schlagzeile in der Zeitung verfolgt fühlen: Steckte darin eine verborgene Botschaft für sie selbst?

    Unica Zürns eigene Anagramme sind, wie Hans Bellmer schrieb, eine Art "poetischer Wetterbericht" vom Ich. Da wird etwa in der Sammlung "Hexentexte" aus der Floskel "das Spielen der Kinder ist streng untersagt" ein verstörendes Gedicht:

    "Das Spielen der Kinder ist streng untersagt
    Satt irrt der Spassgeist in den Dunkelregen,
    satt des Kreisens in Plunder. Geigend starrt
    er in den Garten. Der Spaß litt den Tigerkuss.
    Kinder, rettet den Sprung! Sagt leis: Reis, Sand
    Spart die Genien des Sterns! Irrstunde klagt:
    Das Spielen der Kinder ist streng untersagt."

    Es findet bei der anagrammatischen Dichtung einerseits eine Dekonstruktion von Sinn und Bedeutung statt, zugunsten eines Geflechtes von Verweisen - andererseits stellt sich eine neue Sinnhaftigkeit her, die etwas subtil Bedrohliches haben kann.
    Unica Zürn, die Dichterin, die Zeichnerin, die Geisteskranke, die sich 1970 das Leben nahm - und zwar so, wie es in einem ihrer Texte über das Kind, das sie war, geschildert wurde, durch einen Sprung aus dem Fenster - bei diesen Zusammenfallen von Leben und Kunst liegt die Gefahr nahe, ins Mythenbilden zu kommen.

    Schon früh wurde in Vorworten und Einführungen zu ihrem Werk betont, sie habe poetisch gelebt, in der Tradition der deutschen Romantik und zusätzlich genährt vom Wundersamen des französischen Surrealismus. Dagegen muss man aber sagen: Es mag ja sein, dass hier die Verbindung zwischen Kunst und Leben "gelungen" ist - "geglückt" ist sie nicht. Ruth Henry berichtet von einer der letzten Begegnungen mit der Freundin:

    "So finde ich Unica in ’Maison Blanche’ wieder, in einer Irrenanstalt außerhalb von Paris. Aber diesmal hatte nicht sie um Internierung gebeten, und sie ist nicht bereit, dies, wem auch immer, zu verzeihen. Noch einmal der Abstieg ins Inferno. Einen Tag lang habe ich es in ’Maison Blanche’ miterlebt, das Existieren zwischen Larven. Endgültige Verachtung habe ich seither für jene intellektuellen Taschenspieler, welche sich mit literarischer Genüsslichkeit über den Zauber von Wahnsinnsäußerungen verbreiten. Hat einer je den Preis aus der Nähe gesehen gespürt, geschmeckt, den man für das Anders-Sein zu entrichten hat?"

    Die Fotografien Zürns, die Ruth Henrys Buch enthält, zeigen einen Verfallsprozess, der etwas erahnen lässt - und zwar eben genau nicht von Zauber, sondern von Einsamkeit, Angst, Verlorensein.

    Ruth Henrys Buch, das neben diesen Fotografien auch einige sehr schöne, filigrane Zeichnungen von Unica Zürn enthält, wird Zürn-Kennern nicht unbedingt Neues sagen. Aber wer erstmals von dieser Dichterin und Zeichnerin hört, findet hier eine warmherzige, dabei immer respektvolle und kluge, vielschichtige Annäherung.


    Ruth Henry: Die Einzige. Begegnung mit Unica Zürn
    Nautilus-Verlag, 96 Seiten, 9,90 Euro