Sonntag, 12. Mai 2024

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Schuld innerhalb der Familie

Wenn Angehörige die Lebensgeschichten von nahen Verwandten zu Papier bringen, offenbart sich darin nicht nur ein Interesse an den eigenen Wurzeln. Häufig werden die Jüngeren auch deshalb zu Ahnenforschern, weil es unausgesprochene Wahrheiten oder gar unbeantwortete Fragen nach etwaiger Schuld innerhalb der Familie gibt. Die Ergebnisse solcher familiären Recherchen erobern immer wieder den Buchmarkt: als Sachbuch oder auch in Form von biographisch gefärbten Romanen.

Von Simone Neteler | 06.05.2005
    Jörn Roes, Autor des Buches Freiwillig in den Krieg. Auf den Spuren einer verlorenen Jugend konnte oder wollte sich weder für die eine noch die andere Form entscheiden. Roes, der das Leben seines heute 79 Jahre alten Großvaters nachzeichnet, bewegt sich im Dokumentarischen, um dann doch romanhaft zu erzählen. Dabei versucht er herauszufinden, warum sich sein Großvater Wilhelm Roes im Kriegsjahr 1941 - 16-jährig - freiwillig zur Waffen-SS meldete und als überzeugter Soldat in den Krieg zog. So schreibt der Autor im Vorwort:

    "Fragen sind entstanden, die eine Antwort verlangen. Fragen, von denen ich annehme, dass sie bis heute die Familie belasten, weil keiner die Antworten kennt. Fragen, die einem Gedanken entsprungen sind: Warum wurde er zum Nationalsozialisten und ging freiwillig in den Krieg? "

    So begleitet der Leser den Großvater Wilhelm Roes, Jahrgang 1925, zuerst durch seine Kindheit im westfälischen Wesel: Pimpf im Jungvolk, mit zehn Jahren das goldene HJ-Abzeichen, Jungzugführer. Vater und Bruder sind überzeugte aktive Nationalsozialisten, im Wahljahr 1932 lassen sie den kleinen Wilhelm Aufkleber der NSDAP an Schaufenster und Häuserwände kleben. Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers wendet sich das Blatt für die Familie zum scheinbar Guten: Vater und Bruder, vorher arbeitslos - wohlgemerkt wegen ihrer nationalsozialistischen Gesinnung - bekommen mit Hilfe der Partei eine neue Anstellung; die Zeiten des Sparens sind vorbei, die Eltern werden: "zusehends fröhlicher".

    Wilhelm meldet sich bei der Waffen-SS und kommt zur "Leibstandarte Adolf Hitler", was den Vater mit äußerstem Stolz erfüllt. Der Leser erfährt dann, mit welcher Härte das Regime seine Kinder zu vermeintlichen Elitesoldaten ausbilden lässt. Doch Wilhelm hält durch:

    "Ich freute mich darauf, bald ein Soldat dieser angesehenen Einheit zu sein."

    Im Jahr 1943 wird es ernst: Wilhelms Einheit kommt an die Ostfront. Dort erlebt er die Rückeroberung von Charkow, die Schlacht bei Kursk und später den Rückzug der deutschen Truppen. Es folgt ein Einsatz an der Westfront, Verwundung, Lazarett - und schließlich Anfang Februar 1945 ein weiterer Marschbefehl gen Osten. Dann ist der Krieg vorbei - Wilhelm Roes befindet sich nahe Dresden.

    " Am Nachmittag des 9. Mai 1945 verbreitete sich die Nachricht, dass der Krieg vorbei sei. Wir konnten es nicht glauben. Noch am Vormittag hatten wir mit den letzten beiden Sturmgeschützen russische Nachschubeinheiten beschossen. Berauscht von Rachegefühlen, hatten wir viele Menschen getötet. Jetzt war der Krieg aus, und fast gleichgültig nahm ich es hin. "

    Es sind korrekt recherchierte Fakten, die dem Buch von Jörn Roes über das Leben seines Großvaters Wilhelm eine geordnete Struktur geben. Doch das allein kann nicht ausreichen, um…

    "...das Abstrakt-Unfassbare aufzulösen und einen plastischen Eindruck von den damaligen Verhältnissen zu bekommen, … "

    … wie Roes in seinem Vorwort formuliert.

    Nur einmal, fast schon am Ende des Buches, wird Roes diesem selbst gestellten Anspruch vielleicht annähernd gerecht. Als Wilhelm Roes in dem Verhör durch den kanadischen Sergeanten Brown äußert, noch immer Nationalsozialist zu sein, hakt der Kanadier nach:

    "Wir wollen wissen, warum Sie so denken", sagte er. Er setzte sich an den Tisch und bot mir eine Zigarette an. Ich war überrascht. Er war der Erste, der mir die Chance gab, mich zu erklären. Ich begann, ausschweifend aus meiner Kindheit zu berichten, von meinem Vater und meinem Bruder, vom Jungvolk und von all dem, was sich nach der Machtübernahme durch die NSDAP für uns verändert hatte. "Aber Sie sehen doch, wie es heute in Deutschland aussieht. Alles ist kaputt", unterbrach mich Brown. "Und was hat uns der Anfang der Demokratie bislang gebracht", entgegnete ich ihm, "nichts als Hunger und Verachtung."

    Fast verklärt mutet hier die Beschreibung einer Kindheit an, in der alles besser wurde nach Hitlers Machtergreifung. Eine idealisierte Beschreibung, die sich durch das gesamte Buch zieht. Zeigen sich hier die Motive, die Jörn Roes suchte, um sich das Verhalten seines Großvaters zu erklären? - Nein! Hier offenbart sich, was NS-Ideologie und Propaganda-Maschinerie im Kopf des einzelnen in der Lage waren, anzurichten. Eine Form der Gehirnwäsche, die nicht nur bei Wilhelm Roes dazu führte, als überzeugter Nationalsozialist freiwillig in den Krieg ziehen.

    Der US-Präsident Harry Truman sagte sinngemäß bei Kriegsende: "Es ist einfach, die Tyrannen zu hängen. Doch die Saat, die sie gesät haben, wird viel schwieriger aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben sein." Dafür ist Wilhelm Roes ein gutes Beispiel - das Buch zeigt ihn bis zum Schluss als Überzeugungstäter und nicht als halbherzigen Mitläufer. Ob Wilhelm Roes seine Einstellung zum Nationalsozialismus geändert hat, bleibt offen, auch wenn er in einer kurzen Nachbemerkung zum Buch seines Enkels erwähnt, in den 60er Jahren der CDU beigetreten zu sein.

    Die großväterlichen Motive darstellen zu wollen, ist ein verständliches, gleichwohl gewagtes Anliegen. Die Perspektive, die Jörn Roes dabei gewählt hat, ließen es nicht überzeugend gelingen. Denn all das, was man über den jungen Wilhelm Roes erfährt, über seine Ängste und manchmal aufkeimenden Zweifel angesichts der Kriegsgräuel, über seine Überzeugung, doch das richtige zu tun, über diese scheinbar vorhandene Zerrissenheit, verliert an Eindringlichkeit und Nähe, weil der schreibende Enkel sich in Neutralität flüchtet - obwohl ihm der Abstand zur Hauptfigur fehlt. So bleibt der als Ich-Erzähler auftretende Großvater zwangsläufig immer ein Ich, welches vom Blick des schreibenden Enkels geprägt ist. Jörn Roes hätte - seinem Anliegen zum Vorteil - eine andere Perspektive wählen sollen.