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"Schwarzwald statt Karibik"

Wissenschaftler diskutieren kontrovers den Weg aus der Wachstumsfalle. Und einige fordern dabei den radikalen Umbruch - bis hin zu einem Konsumverzicht.

Von Inge Breuer | 22.07.2010
    Angela Merkel: "Ich will, dass wir alles versuchen, jetzt schnell und entschlossen die Voraussetzungen für neues und stärkeres Wachstum zu schaffen. Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung, meine Damen und Herren."

    Ohne Wachstum ist alles nichts – so der zentrale Glaubenssatz von Politik und Ökonomie, den Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im Herbst 2009 aufgriff. Ohne Wachstum keine Investitionen, keine Arbeitsplätze, kein Geld für Bildung, keine Hilfe für Schwache. Klingt – plausibel. Aber - hat nicht die Sucht nach mehr Wachstum auch die Finanzgier gefördert, die 2008 in die große Weltwirtschaftskrise führte? Ist nicht die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko Ausdruck dessen, dass die wachsende Nachfrage nach Energie nur noch durch hochriskante Fördermethoden zu erreichen ist? Zeichnen sich also nicht deutlich die Grenzen des Wachstums ab? In seinem Buch "Exit – Wohlstand ohne Wachstum" warnt auch der renommierte Sozialforscher Meinhard Miegel: Wachstum um jeden Preis wird künftig nicht mehr möglich sein. Denn, unweigerlich drehen sich in den wohlhabenden Industrieländern die Räder des Wachstums immer langsamer.
    "Es gibt eine Grenze, die Grenze ist erreicht. Man kann die immer wieder mal ein bisschen verschieben, aber das würde ja nicht genügen, wenn wir jetzt sagen, bei großen Anstrengungen werden wir 1,2 Promille mehr Wachstum haben. Sondern die Auguren sagen uns, wir brauchen zwei bis drei Prozent jährliches Wachstum und das auf unabsehbare Zeit hinaus, wenn die gesellschaftliche, die wirtschaftliche Ordnung so bleiben soll, wie sie ist. Und dieses Wachstum werden wir nicht haben."

    Das geringe Wachstum, das unsere Volkswirtschaften nach wie vor produzieren, kommt zudem bei großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr an. Die Kaufkraft vieler Haushalte stagniert oder schrumpft sogar. Wirtschaftswachstum und steigender Wohlstand für viele haben sich seit Langem entkoppelt. Maik Heinemann, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lüneburg, beschrieb dies auf einer Tagung über "Politik in der Wachstumsfalle" an der Evangelischen Akademie Loccum:

    "Es war ja durchaus, bevor die Finanzkrise zuschlug, dass wir durchaus ne Diskussion hatten. Wo artikuliert wurde, dass dieses Wachstum, das wir hatten, das wir uns mit den Hartz-Reformen teuer erkauft hatten, bei den Leuten nicht ankommt. Das ist eine Debatte, die geführt wurde. Und durch die Finanzkrise sind wir ja etwas abgelenkt worden. Es ging ja schon eine Debatte los, wo man sich fragte, was haben wir von den ganzen Jahren der Entbehrung gehabt, wenn es bei uns nicht ankommt?"

    Doch vor allem sind es die ökologischen Krisen, die die Gefahren eines Wirtschaftsmodells verdeutlichen, das auf Wachstum um jeden Preis gerichtet ist. Versiegende Öl- und Gasquellen, CO2-überfrachtete Luft und Meere, Klimaerwärmung sind die Konsequenz. Und der Kampf um knapper werdende Ressourcen hat schon begonnen. Prof. Hans Diefenbacher, Leiter des Arbeitsbereichs Frieden und Nachhaltigkeit an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg:

    "Langfristig ist das sicher der größte Belastungsfaktor von Wachstum. Wenn die Naturgebundenheit der Wirtschaft über längere Zeit nicht beachtet wird und wenn wir unsere Wirtschaft auf der Ausbeutung der nicht erneuerbaren Ressourcen gründen, heißt das, dass die in der Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen. Dann haben zukünftige Generationen ein Problem. Wir aber derzeit eine hohe Wachstumsziffer.".

    Also gilt es, Wirtschaftswachstum ökologisch verträglich zu gestalten. Ein "Green New Deal", ein ökologischer Umbau der Industriegesellschaft sei erforderlich, so die nicht ganz neue Forderung. Arbeitsplätze in "grünen" Industrien – im Klima- und Umweltschutzbereich, in der Entwicklung umweltbewusster Mobilität – sollen die Wirtschaft ankurbeln und die deutsche Industrie erfolgreich auf prosperierenden Zukunftsmärkten positionieren. Eine schöne Idee: Sind der Motor, die Glühbirne, die Waschmaschine nur sparsam und ist unser Haus wärmegedämmt, so tun wir der Umwelt Gutes und bleiben eine blühende Gesellschaft. Wir machen also weiter wie bisher – nur mit anderen Gütern. Doch auch Hans Diefenbacher hat durchaus Zweifel, allein mit einem anderen Wirtschaften die Wende ins grüne Zeitalter schaffen zu können.

    "Ich denke, dass wir mit einer reinen Effizienzstrategie - besser mit Energie umgehen, schlauere Infrastruktursysteme - nicht auskommen werden. Sondern die Frage an jeden einzelnen Bürger, wie sie ihren Lebensstil gestaltet, wie sie mit den Dingen umgeht, mit denen wir umgeben sind, was und wie wir konsumieren, das ist ne Frage, die jeder Einzelne von uns beantworten muss."

    Zunehmend werden Stimmen laut, denen die Lösung der Wachstumskrise allein durch eine, "ökologisch renovierte Marktwirtschaft" zu kurz gegriffen scheint. Harald Welzer etwa schrieb im vergangenen Jahr zusammen mit Claus Leggewie das Buch "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten". Die beiden Soziologieprofessoren vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen verlangen radikalere Lösungen. Nicht ein anderes Wachstum sei nötig, sondern ein Abschied von der Wachstumsidee:

    "Man kann ja unheimlich schwer an dem vorbeidenken, was die eigene Lebenswelt ausmacht. Deswegen haben sie so interessante Effekte, dass wenn man über Mobilität nachdenkt, die Leute darauf kommen, hey, Elektroautos ganz tolle Sache! Also ein kurzschlüssiger Gedanke, wir wollen alles so, wie es bisher ist, nur, wir wollen statt Benzinmotoren Elektromotoren, davon würde man sich das Heil versprechen. Die Attraktivität liegt darin, alles soll so bleiben wie bisher, anstatt darüber nachzudenken, dass nicht der Antrieb selbst das Problem ist, sondern das System, das diese Art von Antrieb erfordert. Also Mobilität ist das Problem."

    Der Volkswirtschaftler Prof. Niko Paech von der Universität Oldenburg sieht das ähnlich. Die Idee, dass der Durst nach immer mehr künftig dank grüner Industrie ökonomisch-ökologisch korrekt gestillt werden könne, sei irrig. Denn auch wenn bei der Herstellung eines Produkts Material- oder Energieverbrauch eingespart werde, führe dies schließlich doch nur dazu, dass die Gesamtzahl der produzierten Güter steige.

    "Ich habe noch nie erlebt, dass eine vorhandene Infrastruktur oder auch vorhandene Kraftwerke zur Erzeugung von Energie ersetzt wurden durch nachhaltigere Varianten. Sondern wie wir wissen, werden durch die Addition von Braun- und Steinkohlekraftwerke sogar neue Anlagen fossiler Art dazu gebaut. Gleichzeitig expandiert der Sektor für Wind, Sonne, Bioenergie und auch geothermische Anlagen. Es ist reine Addition. Und dasselbe gilt auch, wenn wir das E-Mobil auf den Markt bringen oder Wasserstoffautos. Wer garantiert, dass dies nicht nur zusätzliche Autos oder Verkehre induziert? Oder bei Passivhäusern: Jedes zusätzliche Passivhaus, das ich in die Welt bringe mit der Begründung, das sei besonders effizient, ist ein zusätzliches Haus."

    Nico Paechs Idee heißt deshalb "Suffizienz" – Genügsamkeit. Nicht: besserer Konsum, sondern besser: überhaupt kein Konsum. Nicht: eine ökologisch reformierte Wirtschaft, sondern eine "Postwachstumsökonomie".

    "Heißt nicht, in Sack und Asche rumzulaufen, sondern Nichtkonsum kann auch heißen, ein Kleidungsstück zwei Jahre länger zu nutzen, ein Notebook zwei Jahre länger zu nutzen, als man das üblicherweise macht. Kann auch heißen, dass ich ein Urlaubsziel korrigiere, indem ich sage, Schwarzwald statt Karibik. Oder Ostsee statt Himalaya."

    Dies freilich ist nur ein Anfang. Der gesamte uns vertraute Lebensstil, meint Paech, sei dauerhaft nicht finanzierbar. Unser ganzes Leben müsse entrümpelt und entschleunigt werden. Und wie? Vollbeschäftigung durch Verkürzung der Arbeitszeit. Weg von geldvermittelter Fremdversorgung. Ausbau von lokaler Versorgung. Nutzung von Tauschringen und Verschenkmärkten, statt Konsum. Mehr Eigenarbeit. Kartoffeln im eigenen Garten. All dies führe zu einem geringeren Energie- und Ressourcenverbrauch. Und nebenher auch noch - zu weniger Angst.

    "Die Kunst der Reduktion, sich leicht machen, sich freimachen. Wer viel hat, ist immer abhängig. Ein Mensch, der komplett fremd versorgt ist, erreicht irgendwann eine soziale Fallhöhe, das heißt wenn ihm jemand diesen monetären Teppich unter den Füssen wegzieht, wächst die Angst. Wenn ich 20 Stunden arbeite, dann hab ich das Geld, das dem Gegenwert von 20 Stunden Erwerbsarbeit entspricht. Die andere Zeit verbringe ich damit, dass ich meine Kinder selbst erziehe, dass ich Reparaturen an den Produkten, mit denen ich mich umgeben, selber mache, also nicht ständig um Hilfe rufen muss, wenn mein Fahrrad platt ist. Wenn ich meine Lebensmittel anbaue, dann sind mir die Preise im Supermarkt egal. Wenn ich kein Auto habe, dann ist mir egal, wie hoch die Spritpreise sind. Wenn ich mir einen Lebensstil angewöhne, der das Fliegen schlicht gar nicht beinhaltet, dann kann es mir egal sein, was die Flugpreise machen."

    Ein ewig Gestriger also, wer vor dem Stöbern in Tauschringen, vor eigenem Gemüseanbau und Zwangsurlauben in oft doch verregneten Mittelgebirgen ein leises Gruseln empfindet. Statt frohen Sinnes die Leichtigkeit einer 20-Stunden-Arbeitswoche zu genießen. Denn für Paech ist das: Abwerfen von Ballast. Früher hätte man gesagt: eine Hinwendung zum nicht entfremdeten Leben. Ähnlich argumentiert auch Harald Welzer. Das bescheidenere Leben sei kein Verzicht, sondern - ein Gewinn!

    " Wenn man über Verzicht redet, muss man ja erst einmal darüber reden, worauf wir in der Gegenwart verzichten. Und Sie verzichten ja in einer Großstadt auf Ruhe, Sie verzichten in einer Autogesellschaft auf einen Ausblick, der nicht völlig von zugeparkten Autos bestimmt ist, Sie verzichten auf eine zubetonierte Landschaft. Sie verzichten, wenn Sie Frau sind und ein bestimmtes Karrieremodell zur Verfügung haben, darauf, Kinder zu bekommen. Wo ist denn Verzicht, wenn man sich eine Gesellschaft vorstellt, die ein hervorragendes öffentliches Nahverkehrssystem hat? Wo ist Verzicht, wenn ich mir vorstelle, wir stellen um von multinationaler Nahrungsmittelversorgung auf regionale Nahrungsmittelversorgung?"

    Was werden wir also in der Postwachstumsökonomie unter Wohlstand, unter Lebenszufriedenheit verstehen? Traditionell bringt man Wohlstand mit Geld, mit materiellen Werten in Verbindung. Doch wenn es kein materielles Wachstum mehr gibt, muss man sich auf andere Dinge besinnen. Meinhard Miegel über "Wohlstand ohne Wachstum".

    "Wenn ich diesen Typ Wohlstand als Wohlstand, als einzigen Wohlstand anerkenne, wie wir ihn in den zurückliegenden Jahrzehnten gehabt haben, dann brauchen wir dieses Wirtschaftswachstum. Aber das nützt ja alles nichts. Wir werden dieses Wachstum, ob gut oder schlecht, nicht haben und infolgedessen müssen wir einen neuen Wohlstandsbegriff definieren. Wohlstand der zurückliegenden zwei, drei Generationen war materieller Wohlstand; jetzt beginnt eine Phase, wo neben diesem materiellen Wohlstand der immaterielle Wohlstand gebildet werden muss."

    Immaterieller Wohlstand also: Kultur, Musik, Theater. Gesundheit, Familie, intakte soziale Beziehungen. Aber ist das wirklich ohne materiellen Wohlstand zu haben? Gern beziehen sich Wachstumskritiker darauf, dass die fortwährende Steigerung des materiellen Reichtums das subjektive Glücksempfinden nicht weiter erhöht. Geld macht nicht glücklich, sagt schon der Volksmund. Ein schöner Satz, vor allem für verbeamtete, pensionsberechtigte Hochschullehrer. Doch wirklich auch für die vielen, die 'nur' genügend Geld haben wollen für - ein Fernsehgerät, ein Auto, vielleicht ein Reihenhaus für die Familie, einen Urlaub im Ferienhaus, ein paar Rücklagen für Notfall und Alter? Und auch dies zunehmend weniger erreichen. Ist in einer Welt der Knappheit, das meinen zum Beispiel Evolutionsbiologen, das Streben nach Mehr vielleicht sogar eine, wenn zwar nicht romantische, aber individuell durchaus sinnvolle Überlebensstrategie? Maik Heinemann, Volkswirtschaftler an der Universität Lüneburg, sieht das ähnlich.

    " Also Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt. Wenn Sie in einer Welt leben, in der es auch gewisse Risiken gibt, dann ist - ein Einkommenswachstum gibt Ihnen auch ne gewisse Sicherheit, Dinge individuell abzusichern. Jetzt kann man fragen, warum ist es so nötig, das individuell abzusichern, wo wir doch in einer solidarischen Gesellschaft leben? Aber das ist der Punkt dabei und viele individuelle Lebenspläne sind ja auch exakt drauf ausgerichtet, dass es dieses Einkommenswachstum gibt. Und die Triebfeder wirtschaftlichen Wachstums, das ist das individuelle Streben nach Glück, nach materieller Sicherheit, nach Wohlstand. Vielleicht auch verfehltes Statusstreben, wenn man ein dickeres Auto als der Nachbar fahren möchte."

    Möglicherweise ist also das "andere, genügsame Leben", anders als utopisch ausmalt, für viele dann doch ein "ärmeres Leben". Dass wir uns den Grenzen des Wachstums immer mehr nähern, diese Diagnose ist unbestritten. Strittig ist nur, wie eine "Postwachstumsökonomie" konkret aussehen soll. Und ob ein "ökofreundliches Gemeinwesen" überhaupt von vielen gewollt und ob es realisierbar ist.
    Maik Heinemann jedenfalls weist darauf hin, dass zurückgehendes Wirtschaftswachstum bislang immer Verteilungskämpfe forciert hat.

    " Fest steht aber, dass jede Rezession dazu führt, durch die Konsequenzen wie Arbeitslosigkeit, dass auch Ungleichheit zunimmt. Wenn Sie sagen, kurzfristig weniger Wachstum, weil wir einen konjunkturellen Einbruch haben, das führt uns in die Ungleichheit."

    Das Gefühl der Ungleichheit, die Wirklichkeit ungleich verteilter Chancen, das erleben viele Menschen schon seit längerer Zeit. Meinhard Miegel sieht deshalb eine Nagelprobe für die Stabilität der deutschen Demokratie heraufziehen. Denn ist die Grenze des Wachstums erreicht, lässt sich der augenblicklich bestehende Sozialstaat nicht aufrecht erhalten. Der materielle Wohlstand unserer Gesellschaft auch nicht. Verteilungskämpfe sind jetzt schon die Folge. Aufgabe der Politik kann dann nur sein, den aufbrechenden Mangel gerecht zu verteilen. Bislang gelingt ihr das aber eher schlecht!

    "Die Bevölkerung wird sehr schnell merken, dass sie das Wachstum, von dem man bisher ausgegangen ist, nicht mehr hat. Dass die Hose immer schlabberiger wird - die Politik muss Alternativen zu dem anbieten, was sie bisher gesagt und getan hat. Die Bevölkerung war zufrieden, es wurde in jedem Jahr eine Verbesserung des Materiellen für das kommende Jahr in Aussicht gestellt. Das hat auch über lange Zeit gut funktioniert. Soziale Spannungen konnten auf diese Art und Weise relativ problemlos überwunden werden. Und das war eine Form sehr einfachen Regierens. Die Zeit ist vorüber, aber das muss die Politik erst noch lernen."