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Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch

Diesmal mit Ratgebern über Krebs und Tod, Gefängnistexten kommunistischer Diktatoren, Überlegungen zum Erwerbsverhalten deutscher Bundespräsidenten, der Erörterung eines schlagenden Unterschieds zwischen Steve Jobs und dem Medium Buch sowie einem sehr klugen Satz von Martin Walser.

Von Denis Scheck | 23.03.2012
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

    Natürlich das, was um diese Jahreszeit in jedem Gehirn geschieht: Frühling!

    ""Pulp Fiction: 'You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee'":'"

    Die aktuelle Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch:

    Diesmal mit Ratgebern über Krebs und Tod, Gefängnistexten kommunistischer Diktatoren, Überlegungen zum Erwerbsverhalten deutscher Bundespräsidenten, der Erörterung eines schlagenden Unterschieds zwischen Steve Jobs und dem Medium Buch sowie einem sehr klugen Satz von Martin Walser.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen stramme 4659 Gramm auf die Waage: zusammen 3445 Seiten.

    10) Erich Honecker: "Letzte Aufzeichnungen" (Edition Ost, 192 S., 14,95 Euro)

    Weniger Protokoll einer Diktatorendämmerung als Mitschrift eines intellektuellen Verdämmerns liefern Honeckers mal banale, mal abstruse, immer aber von Starrsinn und Unbelehrbarkeit zeugende Notate aus der JVA Berlin-Moabit Anfang der 90er Jahre. Immerhin sind sie schöne Illustrationen des Geisteszustands eines gierigen Greises, der über die Träume von Millionen und die Leichen Tausender ging, Stalin noch als Todkranker verklärte und halb hoffend, sein individuelles Ende könnte mit dem Weltuntergang zusammenfallen, schreibt:

    "Vielleicht hat der dritte Weltkrieg schon begonnen."

    9) Siddharta Mukherjee: "Der König aller Krankheiten" (Deutsch von Barbara Schaden, Dumont Verlag, 670 S., 26,00 Euro)

    Was für ein Thema - und was für ein grandioser Zugriff darauf: Natürlich kann man keine "Biografie einer Krankheit" schreiben, wie der Untertitel behauptet, aber dem amerikanischen Onkologen Siddharta Mukherjee gelingt es immerhin, in seiner Geschichte der Krankheit Krebs einige der vermenschlichenden Klischees zu entlarven, mit denen wir im Lauf der Zeit dem Grauen ein Gesicht gegeben haben. Ein Buch, das einem den Schrecken in die Glieder fahren lässt - vor dem Krebs, aber auch vor den Heilmethoden der Ärzte.

    8) Gian Domenico Borasio: "Über das Sterben" (Beck, 207 S., 17,90 Euro)

    Ein gutes Buch – nicht weil irgendetwas darin neu wäre oder sonderlich zwingend erzählt, sondern weil dieses Buch uns sachlich und unaufgeregt mit dem konfrontiert, was wir um jeden Preis zu verdrängen versuchen. Auch so lässt sich Todesangst lindern.

    7) Bill Mockridge: "Je oller, je doller" (Scherz, 320 S., 17,99 Euro)

    Diese durch wenig mehr als das Profitstreben des Autors zusammengehaltene Aneinanderreihung flacher Gags über das Altern ist in keiner Weise satisfaktionsfähig. Ohne Ehrgeiz, ohne Witz: ein Buch, das die Welt nicht vermisst hätte.

    6) Walter Isaacson: "Steve Jobs" (Deutsch von Antoinette Gittinger, Oliver Grasmück, Dagmar Mallett, Elfi Martin, Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck, C. Bertelsmann, 704 S., 24,99 Euro)

    Ein dramatisch aus dem Leim gegangenes Porträt jenes Geists in der Maschine, der Apple an die Weltspitze führte und die Buchindustrie als

    "reif für die Zerstörung sah."

    Zwar lebt das Buch, und Steve Jobs ist tot, diese Detail auf Detail türmende Lebensbeschreibung aber ist einfach viel zu lang und krankt an der Unfähigkeit des Autors darzustellen, wie unglaublich flach der Chef eines Milliardenunternehmens sein kann.

    5) Martin Wehrle: "Ich arbeite in einem Irrenhaus" (Econ, 288 S. 14,99 Euro)

    Morgen wird Martin Walser wie gehört 85 Jahre alt. Von Martin Walser stammt der schöne Satz:

    "Solange man Geld verdienen muss, muss man sich beleidigen lassen."

    Wer wissen will, wie es wirklich zugeht in der Welt der Angestellten und anderer Abhängiger, ist mit Walsers "Brief an Lord Liszt" oder "Seelenarbeit", mit seinen Anselm-Kristlein-Romanen "Halbzeit", "Das Einhorn" und "Der Sturz" oder etwa mit "Angstblüte" weit besser bedient als mit diesem albernem Schmarren.

    4) Hans-Ulrich Grimm: "Vom Verzehr wird abgeraten" (Droemer, 320 S. 18,00 Euro)

    Wie sich Konzerne wie Unilever oder Nestlé mit sogenanntem Functional Food auf Kosten der Verbraucher gesund stoßen, wird in diesem sorgfältig recherchierten Buch dargestellt. Am Ende kennt man die Gründe dafür. Berlin und Brüssel knicken vor der Wirtschaftslobby ein, auch in der Politik
    gilt: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.

    3) Wibke Bruhns: "Nachrichtenzeit" (Droemer, 424 S., 22,99 Euro)

    Wibke Bruhns ist als Pionierin der Emanzipation in der Männerdomäne Journalismus eine Legende. Dennoch reicht ihre Autobiografie nicht ganz an die erzählerische Wucht ihres vorigen Buchs "Meines Vaters Land" heran. Amüsant, ja bisweilen erhellend sind Bruhns Medienmemoiren allemal.

    2) Rolf Dobelli: "Die Kunst des klaren Denkens" (Hanser, 256 S., 14,90 Euro)

    In 52 kurzen Kapiteln analysiert Dobelli messerscharf 52 klassische Milchmädchenrechnungen, also von vielen Menschen gern begangene

    "Abweichungen von der Rationalität."

    Eine kurzweilige Fibel der Fehlervermeidung, ein Handbuch der Trug- und Fehlschlüsse.

    Platz eins der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch:

    Joachim Gauck: "Freiheit" (Kösel, 64 S., 10,00 Euro)

    Eine Sonntagspredigt des frisch gekürten Bundespräsidenten, mit allen satztechnischen Mitteln auf Buchlänge aufgebläht und für zehn Euro nicht gerade eine Fastenspeise. Aber wenn der Mann sich dadurch mit legalen Mitteln etwas Geld verdienen kann, will ich nicht daran herumkritteln. Kleinkariert auch der Einwand, dass Gauck in diesem Text tatsächlich so peinliche patriarchalische Formulierungen unterlaufen wie die, seine Tochter habe ihm "mein neuntes Enkelkind geschenkt." Solche Einwände verblassen angesichts des in Gaucks Rede mit ansteckender Begeisterung vollzogenen Dreisprungs von Freiheit über Verantwortung zu Bezogenheit. Alles in allem ein mitreißender optimistischer Text, Gesellschaft zu gestalten.