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Spurlos verschwunden

Robert Haasnoots "Steinkind" handelt von zwei Jungen, deren Eltern eines Nachts spurlos verschwinden. Nach geraumer Zeit findet die Polizei die Leiche des Vaters am Strand, die Mutter bleibt unauffindbar. Während sein älterer, fast erwachsener Bruder versucht den Dingen realistisch ins Auge zu sehen, beharrt der junge Wouter darauf, dass die Mutter nicht tot sei.

Von Volkmar Mühleis | 22.08.2005
    Zeewijk ist ein fiktives Dorf an der holländischen Nordseeküste und Schauplatz der letzten drei Romane von Robert Haasnoot. Nach "Wahnsee", dem ersten Band der Trilogie, ist nun "Steinkind" auf Deutsch erschienen. Der 44-jährige Schriftsteller ist in Katwijk aufgewachsen und der populäre Badeort wird einen nicht direkt an die Szenerie von Zeewijk erinnern. Beiläufig findet man dort allerdings Namen wieder, die auch in "Steinkind" auftauchen: die Brittenburg zum Beispiel - wie heute eine Bushaltestelle heißt -, oder eine Straße, die nach dem Maler Jan Toorop benannt wurde. Die Geschichte des Buches spielt 1968. Damals stand Katwijk noch deutlich im Zeichen streng reformatorischer Glaubensrichtungen, wie es sie in den Niederlanden vielfach gibt. So stammt Haasnoot aus einer Gemeinde, deren Grundvorstellung es ist, Gott habe bereits vor Erschaffung der Welt bestimmt, welche Menschen einst in sein Himmelreich kommen werden. Das Schicksal eines jeden Einzelnen scheint somit absolut vorbestimmt. Für den Autor eine traumatische Situation:

    " Die Wahrheit ist eigentlich ganz einfach, und manchmal so einfach, dass es Jahre dauern kann, bis man dahinter kommt. In meiner Jugend wurde ich sehr stark von strenggläubigen Motiven beeinflusst. Ich habe jedoch nie das Bedürfnis gehabt - oder besser gesagt, den Mut -, um autobiographisch darüber zu schreiben. Außerdem haben das Autoren wie Jan Wolkers oder Maarten 't Hart ausführlich getan, was sollte ich dem also noch hinzufügen? In meiner Trilogie habe ich diese extreme Religiosität darum zu einer Art Folklore verarbeitet. Aberglaube zum Beispiel ist ein immer wiederkehrendes Thema, schließlich gehen Aberglaube und verblendet sein nahtlos ineinander über. So habe ich meine Ängste von früher im Schreiben unschädlich gemacht."

    Er hat sie dabei auf überaus produktive Weise unschädlich gemacht, ist die Reihe der Zeewijk-Romane doch literarisch sehr wirkungsvoll durchgearbeitet. "Steinkind" handelt von zwei Jungen, deren Eltern eines Nachts spurlos verschwinden. Nach geraumer Zeit findet die Polizei die Leiche des Vaters am Strand, die Mutter bleibt unauffindbar. Während sein älterer, fast erwachsener Bruder versucht den Dingen realistisch ins Auge zu sehen, beharrt der junge Wouter darauf, dass die Mutter nicht tot sei. Der Vater war Kunsthändler gewesen, und zur Aufklärung der Ereignisse wird dies gegen Ende des Romans wichtig werden, in einer ebenso überraschenden wie spannenden Wendung, mit Blick auf zwei Gemälde des besagten Jan Toorop. Doch zunächst gestaltet Haasnoot die Geschichte als eine ohnmächtige Suche Wouters nach seiner Mutter, welche still und zurückgezogen geschieht, auf seinem Zimmer, in seinem Bett, seiner Phantasie. Die Erinnerungen sollen lebendig bleiben, sich zur Gegenwart steigern, sie beschwören. Der niederländische Romancier meint:

    " Es ist eine große Herausforderung, aus der Sicht eines schlichten Jugendlichen wie Wouter zu schreiben und sich selbst auf kurze und einfache Sätze zu beschränken. Dieser Ansatz war für mich sehr ungewohnt, doch er half auch, um Dinge etwa nur anzudeuten oder poetisch zu betrachten. Die anderen beiden Bücher der Trilogie - Wahnsee und Der Unvergessliche - sind mir im Vergleich dazu sehr viel leichter gefallen. Das erste Buch, Wahnsee, wird aus der Sicht eines Stadtdirektors erzählt, der sich gewandt auszudrücken versteht, und das gleiche gilt auch für den Erzähler des letzten Romans. "Steinkind" dagegen hat durch die knappen Sätze fast etwas Filmisches."

    In das Erleben von Wouter flechtet der Autor Eindrücke und Szenen des Dorfgeschehens ein. So findet eine Kinovorstellung statt, in der ein alter Dokumentarfilm über die Fischer von Zeewijk gezeigt wird und in dem an einer Stelle ein Mann mit Stoppelbart erscheint. Die älteren Zuschauer kennen ihn, doch wollen ihn nicht mehr erkennen - als Jude war er während der deutschen Besatzung deportiert worden. Der Glaube an die von Gott ewig Auserwählten schloss ihn zuvor bereits aus der Gemeinschaft aus, und so erinnerte sie der Film insgeheim an ein Unrecht, dem von Seite der Gemeinde nichts entgegenstand. Für wen doch alles beschlossen liegt, handelt nicht. Demgegenüber situiert Robert Haasnoot die holländischen Studentenproteste von 1968 und ihren schwachen Nachklang an der Küste, mit Beatmusik und langen Haaren:

    " Das Lied Lola von den Kinks kam in der ersten Fassung des Textes vor. Ich dachte, es sei 1968 erschienen. Doch meine Frau arbeitet mit geistig Behinderten, und einer von ihnen weiß die komplette Hitparade von 1965 bis heute auswendig. Er war sich sicher, dass Lola nicht 1968, sondern ein Jahr später erst erschienen ist. Und er hatte Recht! Also habe ich den Song wieder gestrichen, weil mir '68 als Zeit einschneidender Veränderungen für den Text sehr wichtig war. Die Geschichte spielt zwar in einem abgeschiedenen Dörfchen an der Nordsee, doch umso reizvoller ist es dann zu sehen, inwieweit die Amsterdamer Unruhen sich dort widerspiegelten. Für alle Strenggläubigen brach natürlich die Welt zusammen. Das Freibad durfte zum Beispiel sonntags nicht geöffnet sein. Und das man sich auf einmal dagegen beschwerte und die Dorfjugend selbst am Vorabend schon über die Hecken kletterte und Partys dort feierte, läutete in den Augen mancher bereits die Apokalypse ein. "

    Der 15-jährige Wouter bleibt hiervon weitgehend unberührt. Er nimmt sehr genau wahr, was um ihn herum geschieht, doch er kapselt sich ab. Die bange Wut auf seine Umwelt mündet in den Ausspruch, er wünsche, dass seine Hände Pistolen würden; statt zu handeln, mit allem abzuschließen. Robert Haasnoot beschreibt eine Jugend, für die im plötzlichen Verlust der Eltern der eigene Weg abgeschnitten zu sein scheint. Als "Steinkind" empfindet Wouter sich, als leblos. Die religiöse Weltanschauung im Ort und die Geschichte des Jungen potenzieren sich darin. Die Verdichtung wird zu einer Verstrickung - und zu einem Roman, der in aller Nüchternheit ebenso beklemmend wie eindringlich ist.


    Robert Haasnoot
    Steinkind
    Roman
    Berlin Verlag
    Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby
    160 Seiten, 18 Euro