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Staatenbund ohne Macht

Warum hat die Europäische Union bei seinen eigenen Bewohnern ein so schlechtes Image? Der Journalist Jochen Bittner wollte es genau wissen. Drei große Fehler der EU hat er ausgemacht und in einem Buch seziert.

Von Alexander Hagelüken | 21.03.2011
    Jochen Bittners Buch "So nicht, Europa", erfreut immer wieder mit Erzählendem, das der Brüsseler Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit" präsentiert. Etwa, wenn er das Bild einer Bürokratenschar zeichnet, die mit dem Klirren ihrer Champagnergläser zu überdecken sucht, wie unsicher sie in ihrer Rolle ist – nämlich in der Hauptstadt eines Imperiums Europa leben zu müssen, das kein Imperium sein will:

    "Frieden" ruft Ministerpräsident Kurt Beck ins Mikrofon. Er ist zu Besuch in seiner Landesvertretung in Brüssel und muss europäisch klingen. "Wohlstand", ruft er. "Grenzenlosigkeit". Die Besucher, bereits versorgt mit Champagnerkelchen, wenden die Köpfe ab. Wenn Politiker die Karlspreis-Vokabeln entsichern wie jetzt Beck, weiß das Publikum, es kann nicht mehr lange dauern, bis das Buffet eröffnet wird.

    Jochen Bittners Miniaturen sind kein Selbstzweck, sondern die Kulisse, vor der er sich den großen Fragen stellt. Fragen, die jeden bewegen, der erkannt hat, dass Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung wenig ausrichten – und dass Europa eine einzigartige Chance bietet. Warum also, fragt Bittner, hat der größte Staatenbund und Wirtschaftsraum der Welt bei seinen eigenen Bewohnern ein so schlechtes Image? Und warum wirkt er für Nicht-Europäer so schlaff?

    Seine zentrale Antwort: Die EU verliert über die Kleinigkeiten das Wichtige aus dem Blick. Sie duckt sich weg vor den großen Herausforderungen und ertränkt notwendige Debatten in Konsenssoße.

    Wenn sich die EU streitet, dann stellt dies, so empfinden es viele ihrer Hauptdarsteller, die EU selbst infrage. Das ist natürlich eine Fehlannahme, denn Staatswesen leben vom Streit und steigen erst durch Gegenwind. Doch in Brüssel gilt die Nestwärme als heiliges Feuer. Wer sie stört, wird schnell als EU-Skeptiker abgestempelt.

    Europa kümmert sich mit Inbrunst um die Harmonisierung von Babypausen oder dem Verbot von Kautabak. Und regelt dabei Themen oft wenig transparent – und damit demokratiefeindlich. Der Autor zeichnet das etwa am Verbot von Glühbirnen nach, das im Herbst 2009 viele EU-Bürger überraschte – und den Argwohn gegen die Brüsseler Gesetzesmaschine verstärkte. Bedenklich ist diese Neigung zum Detail, weil es globale Fragen gibt, für die das übernationale Europa geschaffen wäre, an die es sich aber im Gegensatz zum Kautabak nicht richtig heranwagt. Die Beschäftigung mit Außenpolitik, mit Arbeitsplätzen oder der Alterung seiner Gesellschaften bleibt somit seltsam diffus. Europa gibt Milliarden für Milchkühe und Olivenbäume aus, während es immer mehr Industriebranchen an andere Weltregionen verliert – und während Asien in Bildung und Informationstechnologie investiert. Und Europa drückt sich vor den demografischen Trends eines Staatenbundes, in dem in einem halben Jahrhundert jeder zweite Arbeitsfähige älter als 65 Jahre sein wird. Die politische Konzentration auf den Klimaschutz wertet der Autor Jochen Bittner übrigens nicht als Plus, sondern als Einseitigkeit, als Ablenkung von ebenso drängenden Aufgaben:

    Angesichts ernüchternder Leistungsbilanzen auf harten Politikfeldern stellt sich die Frage: Falls es Europa gelingen sollte, den Weltuntergang zu verhindern – was macht es eigentlich danach?
    Warum kümmert sich Europa zu wenig um die großen Fragen, die auch die Menschen bewegen? Mit dieser Frage hat Bittner sicher einen Punkt. Etwas kleinkrämerisch möchte man ihm aber zurufen: Weder auf dem Arbeitsmarkt noch in der Außen- oder Sozialpolitik besitzt die Europäische Union echte Macht. Die Nationalstaaten räumten und räumen ihr hier wenig Kompetenzen ein. So bleibt die EU an der Glühbirne hängen, weil sie bei der Generationengerechtigkeit nichts zu melden hat. Jochen Bittners Plädoyer wird erst vollständig, wenn mehr Macht für Europa gefordert wird. Uneingeschränkt nachvollziehbar dagegen ist seine Klage über die ewige Konsenssuche. Es gibt zu wenig edlen Wettstreit um Ideen aus Angst, dass dies wie eine Kritik an der EU aussehen könnte. Der sklavische Konsens verhindert, dass gute Ideen im Widerstreit der Meinungen zu zukunftsgewandter Politik reifen. Es geht aber nicht nur um mangelnde Streitbereitschaft. Kritisch sieht Bittner auch die Entfremdung zwischen Europas Entscheidungsträgern und den Bürgern:

    Die Europäische Union vermittelt heute den Eindruck eines Dauerläufers, der in die Fettverbrennungstrance geraten ist: Er sieht nicht mehr nach links oder rechts, sondern folgt gedankenverloren dem Rhythmus seiner Schritte.
    Europa, so Jochen Bittners Argumentation, hat eine Chance. Aber sie muss sie auch nutzen. Muss sich beschränken und den Kautabak sein lassen. Muss klarer, bürgernäher, besser vermittelt werden. Dann wird die Europäische Union eine Menge ausrichten – entgegen dem Pessimismus, der ihr immer wieder entgegenschlägt.

    Bedenkt man die endlosen Regale mit gelehrten Büchern, die sich dem Klimawandel, der Finanzkrise oder der Familienpolitik widmen, ist Bittners gut geschriebene Abrechnung mit den Schwächen Europas ein wohltuender Zugewinn.

    Jochen Bittner: "So nicht, Europa! Die drei großen Fehler der EU." Erschienen ist das Buch bei dtv, 288 Seiten kosten 14 Euro 90, ISBN: 978-3-423-24833-4.