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Statistik im Sport
Ecken werden völlig überbewertet

Albert Einstein wird der Satz zugeschrieben: "Nicht alles was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles was gezählt werden kann, zählt!" Womit er schon vor langer Zeit das Dilemma des neuen Statistik-Wahns im Fußball vorausgesehen hat. Und zwei Professoren, die sich mit Wirtschaftstheorie, Sozialwissenschaft und Zahlen auskennen, eine schicke Vorlage für ein neues Buch gegeben: Der Titel: "Die Wahrheit liegt auf dem Platz"

Von Jürgen Kalwa | 31.05.2014
    Technische Systeme überwachen nicht nur Tore, sondern auch Laufwege, Kilometer, Pässe usw. der Spieler.
    Technische Systeme überwachen nicht nur Tore, sondern auch Laufwege, Kilometer, Pässe usw. der Spieler. (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    Es gibt Fußballspiele, da kann man einfach nicht erklären, was passiert ist. Überlegen gespielt. Trotzdem verloren. Und der Blick in die Statistik produziert null Erkenntnisse:
    "26 zu sieben Torschüsse 60 Prozent Ballbesitz, 57 Prozent gewonnene Zweikämpfe, 18:0 Flanken. Jetzt könnte man meinen, das Spiel ist anders ausgegangen. Ab das ist so nicht. Wir haben 4:1 verloren."
    So hat das mal Armin Veh bei einer Pressekonferenz nach einer Niederlage mit Eintracht Frankfurt zusammengefasst. Er sah dabei übrigens vergleichsweise enstpannt aus.
    Vielleicht ja, weil er insgeheim weiß, dass man mit diesen Statistiken, die im internationalen Fußball mittlerweile aus einer Flut von Datenmaterial bestehen, am Ende womöglich wirklich sehr wenig anfangen kann.
    Das denkt Chris Anderson schon länger. Der Sohn eines amerikanischen Besatzungssoldaten. In der Eifel aufgewachsen. Und im Rahmen einer erfolgreichen akademischen Laufbahn zum Professor an der Prestige-Universität Cornell an der Ostküste der Vereinigten Staaten aufgestiegen. Spezialgebiet: die Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Soziologie. Und dort vor allem die Analyse von Zahlen, insbesondere von Umfrageergebnissen.
    Fußballer war er früher auch: Torwart in einem Verein von Regionalligaformat. Nun hat er zusammen mit David Sally, einem Volkswirtschaftler, ein Buch geschrieben. "Die Wahrheit liegt auf dem Platz". Der Untertitel ist provokativ, aber auch richtungsweisend: "Warum (fast) alles, was wir über Fußball wissen, falsch ist".
    "Die Gefahr ist, dass man seinen Statistiken wirklich glaubt. Eine Wahrheit in dem Sinne gibt es nicht. Im Fußball und in anderen Sportarten ist die Wahrheit eher von der Situation abhängig und von der Mannschaft. Die, die Erfolg haben, sind die, die verstehen, wie man die Zahlen mit anderen Beoachtungsweisen verbinden kann. Der Trick ist einfach, die Sachen so zu kombinieren, dass man im Moment, also am Samstagnachmittag, optimieren kann."
    Anderson kennt und nennt sie gerne – die Fehleinschätzungen, die immer mehr kursieren, seit die statistischen Informationen auch dem Fußballverbraucher serviert werden. Sei es bei der Live-Fernsehübertragung oder bei der Analyse danach.
    "Zum Beispiel der Ballbesitz. Der Ballbesitz ist relativ nutzlos. Der Ballbesitz hat relativ wenig Aussagekraft, wie erfolgreich eine Mannschaft spielt. Und komischerweise Obwohl die Tore natürlich das allerwichtigste im Spiel ist. Ob eine Mannschaft gut oder schlecht ist. Eckbälle ist auch so ein wunderbares Beispiel. Eckbälle sind relativ ungefährlich. Nur wenn du Trainer fragst oder Spieler, egal in welchem Land, die sagen alle: Eckbälle müssen wir üben. Das sind ganz gefährliche Situation. Statistisch gesehen sind sie relativ ungefährlich."
    Es gibt viele alte Mythen, die sich bei einer Auswertung von umfangreichen statistischen Informationen in die Tonne treten lassen. Zum Beispiel: Dass Mannschaften unmittelbar nach dem Erzielen eines Tores in Euphorie versinken und besonders nachlässig sind und Gefahr laufen, einen Gegentreffer zu kassieren: Statistisch gesehen ist das eindeutig falsch.
    Das viele Geld für Einfädler und Stürmer: vergleichsweise schlecht angelegt. Entscheidend für den Gewinn von Titeln sind die oft etwas hölzernen Figuren in der Verteidigung, die meistens sehr viel weniger verdienen. Kein Wunder, bei einem Spiel, in dem die zählbaren Erfolge fast immer etwas damit zu tun haben, dass jemand in der Defensive ausgespielt wird oder überlistetet oder einen Tick zu langsam reagiert. Der Zahlen-Wust von heute allerdings verstärkt die Fehleinschätzung von der Bedeutung der Angriffsleistung einer Mannschaft, sagt Chris Anderson und kann es erklären:
    "Die Offensive ist einfacher in den Statistiken wiederzufinden: Tore, die man geschossen hat, wichtige Pässe, Ballbesitz, Duelle, die man gewinnt und solche Sachen. Womit die Statistik eher Probleme hat, ist die Defensive zu verstehen, weil es in der Defensive darum geht, Sachen zu verhindern. Gefahrenmomente abzuwehren. Das heißt Tore, die man sich nicht einfängt, sind die allerwichtigsten. Aber die sind ja nirgendwo in der Statistik widergespiegelt."
    Aber auch bei der Bewertung der geschossenen Tore empfiehlt sich ein etwas schärferer Blick. Denn die zählen zwar alle genauso viel. Aber sie sind nicht genauso viel wert. Anderson und sein Co-Autor Sally haben ein System entwickelt, mit dem sie spielentscheidende Treffer – den ersten und den zweiten, die eine Mannschaft erzielen – höher einstufen. Warum? Nur so findet man heraus, für welche Spieler man wirklich viel Geld ausgeben sollte und für welche vielleicht lieber doch nicht.
    Denn natürlich gibt es jene Stürmer mit dem häufig zitierten Riecher, die öfter für ein wichtiges Tor sorgen als andere. Man muss einfach nur ihre Namen aus dem Zahlenberg herausfiltern. Und darauf vertrauen, dass im Fußball auch weiterhin ein Rest von unerklärbarer Magie und Geheimnis stecken wird. Der Grund, warum Anderson und wir überhaupt zuschauen.