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Szenen aus dem KZ-Alltag

Auf einem Dachboden in Celle lag 67 Jahre lang eine Mappe mit 140 Bleistiftzeichnungen des französischen Résistance-Kämpfers Camille Delétang. Die kunstvoll gezeichneten Porträts werden ab dem Frühjahr 2013 in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ausgestellt.

Von Blanka Weber | 01.12.2012
    "Er ist kein Unbekannter, bisher gab es schon 40 Zeichnungen von Camille Delétang, die heute in der Gedenkstätte Auschwitz zu finden sind. Bislang ging man davon aus, dass es sich bei den 40 Zeichnungen um das Gesamtwerk Delétangs handelt."

    Doch es sollte alles anders kommen, erklärt Andreas Froese-Karow von der Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Er und seine Kollegen bekamen im Sommer eine Mappe in die Hand gedrückt. Eine Frau aus Celle übergab sie auf Wunsch ihres 91-jährigen Schwiegervaters.

    Der Inhalt? Eine Tagebuch, liebevoll eingebunden in hell gestreiften Stoff, darin enthalten: colorierte Bleistiftskizzen von Landschaften und Menschen. Szenen aus einem KZ-Alltag, dargestellt mit Details und sanften Linien:

    "Jetzt nach dem wir hier diese weiteren 140 Porträts und Zeichnungen gefunden haben, wissen wir, dass der Hauptteil des bisher bekannten Werkes von Delétang nicht in Auschwitz sondern hier in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora in Nordhausen sich befindet."

    Nordhausen im nördlichen Zipfel Thüringens gelegen, fast an Niedersachsen grenzend – hier wurde 1943 abgeschirmt im Wald und unter Tage das berüchtigte Lager Mittelbau-Dora errichtet. Erst wohnten die Häftlinge in Zelten, später in Baracken. Viele von ihnen lebten nur unter Tage – schliefen auf übereinandergestapelten Brettergestellen. Die SS ließ von ihnen die sogenannten Vergeltungswaffen bauen, die V2-Raketen.

    "Also in der gesamten Zeit des Lagers, zwischen Juli 1943 und der Befreiung im April 1945 waren rund 60.000 Häftlinge hier in dem Hauptlager Mittelbau Dora und in seinen etwa 40 Außenlagern im Südharz."

    Auch Camille Delétang arbeitete als Häftling für die Rüstungsindustrie. Er kam in das niedersächsische KZ-Außenlager Holzen. Woher er das Papier bekam, die Stifte und Farben für seine kleinen Kunstwerke, bleibt für immer sein Geheimnis. Er hat jedoch schriftlich und mündlich überliefert, dass er seine Mappe einem Lagerarzt gegeben habe, der ebenfalls Häftling war. Ihm räumte er höhere Überlebenschancen ein.

    Im Zuge der Angriffe und Massenabtransporte von Häftlingen nach Bergen-Belsen kam jene Mappe abhanden. Sie wurde in der Stadt Celle gestohlen. Der französische Lagerarzt war unendlich traurig über den Verlust, denn es waren auch Unterlagen aus dem Krankenrevier dabei, schrieb er Jahre später, nicht ahnend, dass die Mappe in guten Händen war.

    "Am Abend des 8.April 1945 hat eine Anwohnerin in der Nähe des Bahnhofes einen Beutel in ihrem Vorgarten gefunden und darin befand sich die Dokumentenmappe. Sie hat sich die Mappe angesehen, hat sie ihrem Schwiegersohn gegeben und bei diesem Schwiegersohn handelt es um den heute 91-Jährigen, der uns die Mappe diesen Sommer abgegeben hat."

    Seit knapp zwei Wochen haben wir Gewissheit, sagt der Historiker, dass die Nachkommen des ehemaligen französischen Häftlings die Kunstwerke der Gedenkstätte als Dauerleihgabe überlassen und zur Ausstellungseröffnung im nächsten Frühjahr anreisen wollen.

    Die Bilder sollen später auch in Holzminden, Frankreich und Polen gezeigt werden:

    "Wir werten diese Zeichnungen auch als eine Art von kulturellem Widerstand und Selbstbehauptung der Häftlinge. Da steckt unsers Erachtens auch eine Form von gedanklicher Flucht, von Selbstbehauptung, vom Glauben an den Überlebenswillen, vom Glauben an den eigenen Wert."

    Auch eine Geburtstagsglückwunschkarte übersetzt ins Französisch-Polnische, gehört zu dem Fund:

    "Wenn man so will nicht nur ein Ausdruck einer netten mitmenschlichen Geste, sondern auch eine Erinnerung an die eigene Identität: Heute ist dein Geburtstag, vergiss das nicht."

    Anhand der Porträts mit den gezeichneten Häftlingsnummern wurden sogar Familienschicksale rekonstruiert, denn diese Bilder, sagt der Andreas Froese-Karow, sind von manch einem das letzte Zeichen. Über die Hälfte der Porträtierten hat das Kriegsende nicht überlebt.