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Talking Brains

Das Gehirn ist ein begehrtes Objekt, seit die Neurowissenschaften es mit bildgebenden Verfahren erforschen. In Potsdam am Einsteinforum zogen Wissenschaftler auf einer internationalen Tagung nach 20 Jahren intensiver Hirnforschung kritisch Bilanz.

Von Bettina Mittelstrass | 09.12.2010
    "Seit den 1990er Jahren, die wir die "Dekade des Gehirns” nennen, tauchen jede Menge Disziplinen auf, die alle "Neuro” plus irgendwas heißen. Das geht durch das ganze Alphabet von Neuro-Anthropologie bis Neuro-Theologie, dazwischen Neuro-Ökonomie, Neuro-Ästhetik, Neuro-Ethik und vieles mehr. Wenn man sich den ganzen Bereich ansieht, stellt man fest, dass sie alle eine grundlegende Annahme verbindet, nämlich die, dass das der menschliche Geist das ist, was das Gehirn tut."

    Alle diese Neuro-Disziplinen, sagt Fernando Vidal, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, richten ihren Blick ausschließlich darauf, was im Gehirn passiert. Was immer außerhalb und unabhängig vom Gehirn von Bedeutung ist – wie ein gesellschaftlicher Kontext oder eine individuelle Geschichte – wird als Randerscheinungen betrachtet.

    "Die Forschungen und die Experimente auf diesem Gebiet sind so angelegt, dass sie Gehirnfunktionen von angeblich außerhalb liegenden Faktoren trennen. Und das macht keinen Sinn. Im Fall von Ästhetik zum Beispiel kann man neurobiologische Prozesse der Wahrnehmung nicht einfach von den kulturellen Assoziationen zu bestimmten Reizen abkoppeln. Immer wenn "Kultur" ins Spiel kommt, macht es keinen Sinn, biologische Faktoren von Bedeutungsinhalten zu separieren. Aber die Neurodisziplinen glauben fest, dass das geht und man damit zu irgendetwas Grundlegendem kommen kann."

    Die wissenschaftliche Tagung im Einsteinforum Potsdam machte aufmerksam auf viele solche Lücken – zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Gehirn und Geist, zwischen Versuchsanordnung und Interpretation, zwischen "Neuro-" und Kulturwissenschaften und so manch anderem. Auf noch viel mehr "Dazwischen" verwies die begleitende Ausstellung "Mind – The Gap" des Wiener Medienkünstlers Herwig Kopp.

    "Guten Abend sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie zu der Ausstellung Mind - The Gap. Ich habe die Ehre, Sie als Exponat dieser Ausstellung einführende Worte zu finden. Ihnen zu erzählen, worum es bei Mind – The Gap geht. Ich habe genauer gesagt das unerhörte Vergnügen, sie auf den Gedankenstrich zu bringen."

    Nach zwanzig Jahren neurowissenschaftlicher Forschung bleibt, so der Tenor vieler Vortragender, vor allem eine Lücke zwischen Versprechungen und den Ergebnissen. Professor Cornelius Borck, Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck.

    "Das große Versprechen ist erstmal, endlich wissenschaftlich rauszukriegen, was Bewusstsein ist, was Freiheit ist, was Wollen ist, was Fühlen ist, was Denken ist. Aber sobald man darüber nachdenkt, was man eigentlich als mögliche Antwort zulassen würde, entdeckt man sofort das Problem der Neurowissenschaften. Denn eigentlich wissen wir ja nur zu gut, was Fühlen ist, weil wir fühlen, was Denken ist, weil wir denken und so weiter. Wir haben also sehr, sehr verlässliche Beschreibungen im Alltag, wie wir die ganzen Dinge, die wir so bezeichnen, was wir damit meinen und was wir dahinter verstehen. Aber jetzt entsteht der Anspruch, diese offensichtlich nur scheinbar selbstverständlichen Dinge jetzt "tatsächlich" aufklären zu wollen, und das heißt dann eben doch in der Agenda der modernen Forschung, sie als naturwissenschaftliche Gegenstände zu etablieren, oder zu beweisen, dass ihnen naturwissenschaftlich nichts entspricht."

    Das Bewusstsein als Hirngespinst, der freie Wille Illusion: Immer wieder sorgt die Versuchsanordnung, die Benjamin Libet Anfang der 80er Jahre erstmals anstellte, um Handlungsentscheidungen und ihrer motorische Umsetzung zu untersuchen, für wissenschaftliche Debatten um den freien Willen – gibt es ihn? ja oder nein?

    "Für mich als Historiker der Neurowissenschaften ist interessant wie ein Experiment solche Eigendynamik gewinnen kann. Warum soviel Interpretation von einem Argument oder einer Kette von Argumenten gewonnen werden kann."

    Die Argumente für und wider kreisen umeinander. Derweil hat sich am alltäglichen Bewusstsein von uns Menschen und an der Tatsache, dass wir frei entscheiden – nichts geändert.

    "Solange wir in einer Versuchsanordnung starten, wo wir auf der einen Seite den freien Willen haben und auf der anderen Seite Naturprozesse, und das Rennen losgeht, indem wir das, was auf der linken Seite des freien Willens ist, dingfest machen durch das, was auf der rechten Seite ist, sind wir zum Scheitern verurteilt."

    Und noch eine Zunft scheitert, die sich das "Neuro" auf die Fahnen geschrieben hat, erzählt der Kai Fehse, Mitglied des Instituts für medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und Geschäftsführer des Institute for Cognition and Communication. "Neuromarketing", sagt Fehse, der einst selbst im Marketing Bereich arbeite, funktioniere nur wegen des zugkräftigen Adjektivs. Manipulation durch Werbung kann man im Gehirn nicht nachweisen.

    "Das Spannendste und Spektakulärste in diesem Kontext ist ja, dass die Neurowissenschaften genau diese Paradigmen und die Mythen entzaubern, von denen die Neuromarketingberater reden. ... Dieses Bild des geheimen Verführers, genau diese Geschichten, ... unterschwellige Werbung und Manipulation - all diese Dinge - funktionieren, wenn sie es sich im Brainscan anschauen, funktionieren sie eben nicht."

    Die Idee, dass Werbung manipulieren könne, sei ein Auslaufmodell aus den 60er Jahren, ob da nun "Neuro" vor dem Marketing stehe oder nicht, sagt Fehse. Eine erheiternde Erkenntnis neben viel scharfer Kritik an den Neurowissenschaften, denen manche Tagungsteilnehmer jeden Erkenntniszugewinn absprachen und damit die Lücke zum alten Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufrissen. Der Historiker Cornelius Borck sieht hingegen Perspektiven für die Neurowissenschaften in der Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Dieselben Experimente, sagt er, die Libet dazu zwingen, auf die Nicht-Existenz des freien Willens zu schließen, sind die technische Basis für so genannte Brain Computer Interfaces –

    "Also für ein stabiles elektrisches Potential, was in diesem Fall nicht mehr Versuchspersonen, sondern Patienten relativ verlässlich selbst kontrollieren und steuern, also gezielt auf ihre eigene Veranlassung hin produzieren können."

    Das führt dazu, dass sich querschnittgelähmte Menschen verständigen können.

    "Da sieht man, dass da irgendwo der Wurm drin stecken muss. Weil exakt derselbe technische Aufbau im einen Fall dazu führt, dass Wissenschaftler sagen, wir hätten keinen freien Willen. Und im anderen Fall, bei Patienten, die eben ihren freien Willen nicht mehr umsetzen können, genau dieselbe technische Anordnung dazu führt, dass sie in dieser Situation buchstäblich überwältigende beweise ihrer Intentionalität, ihrer eigenen Persönlichkeit, ihres Denkens und Fühlens an eine Umwelt bringen können, mit der sie ansonsten nicht mehr in Kontakt treten können."

    Mind – the Gap, das klingt so vertraut, dass niemand mehr darüber stolpert. Wie Sie wissen, hört man diesen Spruch in vielen verschiedenen U-Bahnstationen der Welt als Warnung vor der berühmten Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante.
    Über den Titel stolpern sollen die Besucher der Ausstellung – und angesichts der Lücke nichts für endgültig halten.

    "Wir sollten uns nicht verführen lassen, die Antworten, die uns heute überzeugen in den Neurowissenschaften, auch für die endgültigen Antworten zu halten. Gerade dieses Fenster der technischen Gestaltung von Welt, von Mensch – Umweltbeziehungen durch die Ergebnisse der Forschung zeigt, dass die Richtungen sehr viel offener sind als die erste Interpretation dieser Forschungsergebnisse."