Freitag, 10. Mai 2024

Archiv


Teilchenphysiker retten Schellack-Schätzchen

Physik. - 1877 erfand Thomas Edison mit dem Phonographen den Vorläufer der Schallplatte, der Töne noch auf Walzen aufzeichnete. Der Hannoveraner Emil Berliner ließ sich zehn Jahre später die erste Schallplatte patentieren, die zunächst aus Hartgummi, später dann aus Schellack gefertigt wurde. Diese frühen Tonträger sind heute äußerst empfindlich, zum Teil würde schon einmaliges Abspielen die Platten oder Walzen zerstören. Restauratoren können nun aber auf Hilfe aus der Teilchenphysik hoffen. Denn aus äußerst präzisen optischen Aufnahmen der Schallrillen lassen sich mit Computerhilfe die Schallinformationen rekonstruieren.

02.06.2004
    Die beiden Physiker Vitaliy Fadeyev und Carl Haber vom Lawrence Berkeley National Laboratory sind eigentlich Spezialisten für optische Präzisionsmessungen in Teilchendetektoren. Als sie von den Schwierigkeiten der Restauratoren hörten, alte Schallaufnahmen zerstörungsfrei zu digitalisieren, kam ihnen die Idee, doch das vertraute Instrumentarium auf diese Aufgabe loszulassen, um den Schall auf Schellack-Platten und Edison-Walzen zu rekonstruieren. Vitaliy Fadeyev:

    Wir haben zwei Methoden, bei der zweidimensionalen sehen wir uns die Platte unter einem Mikroskop an. Auf Schellack-Schallplatten schlängeln sich die Kerben dem Schall entsprechend, und wenn man die Platte entsprechend vergrößert, sieht man alle diese Kurven und kann die Bewegung rekonstruieren, die die Abtastnadel machen würde.

    Mit einem motorisierten Mikroskoptisch lässt sich eine Platte automatisch abtasten. Sogar einer zerbrochenen Platte könne man den ursprünglichen Inhalt wieder entlocken, schreiben Haber und Fadeyev, denn im Computer werden die Bruchstücke optisch und akustisch wieder zusammengesetzt.

    Zu Analyse der Rillenfotos setzen die beiden Physiker eine Software ein, die eigentlich für die Elementarteilchenphysik entwickelt worden war. Fadeyev erläutert:

    Wir haben uns von der Auswertetechnik für die Spiralbahnen inspirieren lassen, die ein Partikel im Magnetfeld eines Teilchendetektors zieht. Die Schlangenlinien auf einer Schellackplatte sind auch ein bisschen spiralig. Die Algorithmen für die Rekonstruktion einer Teilchenbahn sind also denen für die Schallplattenauswertung sehr ähnlich.

    Bei einer rein optischen Abtastung besteht keine Gefahr, dass der Tonträger beschädigt wird. Deshalb fördert die amerikanische Kongressbibliothek inzwischen die Arbeit von Fadeyev und Haber. Bei Wachszylindern müsse man eine andere optische Abtastmethode verwenden, sagt Vitaliy Fadeyev, denn in Wachszylindern sind nur Höhen und Tiefen eingeprägt, keine Schlangenlinien:

    Da muss man mit konfokaler Mikroskopie Punkt für Punkt die Vertiefung der Rille bestimmen und dann ein dreidimensionales Bild zusammensetzen.

    Womöglich ließe sich damit auch eine Aufgabe lösen, die als Aprilscherz unter Ingenieuren verbreitet ist. Die Frage lautet: Kann man herausfinden, was ein italienischer Stuckateur bei der Ausschmückung der Villa Borghese gesungen hat, indem man den Gips auf feinste Höhen und Tiefen untersucht, die der Spachtel des Künstlers wie eine Art Tonnadel in den Gips geprägt hat? Theoretisch vielleicht, aber...

    [Quelle: Mathias Schulenburg]