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Tschechien
Gedenken an Todesmarsch von Brünn

Die gewaltsame Abschiebung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg war in Tschechien jahrzehntelang ein Tabu-Thema. Das will die Stadt Brünn jetzt ändern: Sie will in einer Gedenkstunde an die Opfer des Todesmarsches von Brünn erinnern - nicht unbegleitet von Kritik.

Von Stefan Heinlein |
    Jirina Borecka war im Mai 1945 noch ein Kind. Doch der Fronleichnamstag vor 70 Jahren ist noch heute tief in ihrem Gedächtnis. Ihre Familie und die anderen 20.000 deutschsprachigen Bürger von Brünn werden in der Nacht aus ihren Häusern getrieben. Der Racheakt der Revolutionsgardisten trifft vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen. Zu Fuß geht es am Morgen über 50 Kilometer in Richtung Österreich:
    "Wir sind den ganzen Tag marschiert. Es war schrecklich. Wir waren alle total erschöpft. Irgendwann haben wir in einer Holzbaracke auf dem nackten Boden gelagert. Ich erinnere mich - viele Kinder sind dort gestorben."
    Mindestens 2.000 Menschen sind den Strapazen nicht gewachsen. Sie sterben in den folgenden Tagen an Entkräftung oder Krankheit. Lange Jahrzehnte ist der Brünner Todesmarsch ein Tabuthema in Tschechien. Auch nach 1989 bleibt der Mantel des Schweigens. Erst jetzt verabschiedet der Stadtrat eine Versöhnungsdeklaration. Eine Entschuldigung an die Opfer und eine Botschaft an die heutige Generation, so Oberbürgermeister Petr Vokral:
    "Ich glaube, jetzt ist die richtige Zeit dafür, auch weil die alte Generation, die das erlebt hat, einfach langsam ausstirbt und ich glaube es ist die richtige Zeit, jetzt einfach laut zu sagen, dass das nicht in Ordnung war."
    Doch die Entscheidung ist in der zweitgrößten Stadt Tschechiens nicht unumstritten. Die Kommunisten im Stadtrat stimmen gegen die Deklaration. Auch die Vertreter der Sozialdemokraten und der konservativen ODS verlassen aus Protest den Sitzungssaal. An der Spitze der Kritiker steht der Landeshauptmann in Südmähren, Michal Hasek:
    "Das ist eine leere Geste. In nur wenigen Sätzen wird an unsere Opfer gedacht. Der Rest ist ein herzzerreißender Text über die nicht ganz glückliche Vertreibung der Deutschen aus Brünn. Das stört mich ungemein."
    Themen Flucht und Vertreibung sorgen regelmäßig für politische Debatten
    Doch ungeachtet der massiven Kritik wird an diesem Wochenende in Brünn erstmals mit Unterstützung der Stadt an das Schicksal der deutschen Mitbürger gedacht. Schon seit Jahren organisiert Jaroslav Ostrcilik gemeinsam mit einigen Mitstreitern einen Versöhnungsmarsch auf den Spuren der Vertriebenen. Diesmal werden die Stadtväter mitmarschieren. Anschließend folgt eine zentrale Gedenkfeier auf dem Marktplatz. 70 Jahre nach Kriegsende sei dies ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der Vergangenheit:
    "Es ist so, dass so eine Geste noch relativ selten in Tschechien ist beziehungsweise so in diesem Umfang hat so etwas noch keine Stadt gewagt zu sagen. Offenbar ist Brünn eine sehr selbstbewusste Stadt, die doch allen anderen voraus ist und sich traut zu sagen, was damals passiert ist und die Sachen zu benennen."
    Tatsächlich sorgt das Kapitel Flucht und Vertreibung noch immer regelmäßig für politische Debatten in Tschechien. Während eine junge Generation in Kunst, Kultur und Wissenschaft immer stärker kritische Fragen zur eigenen Schuld und Verantwortung für die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg stellt, ist das Thema für viele Politiker vor allem auf regionaler Ebene noch immer ein Tabu. Oberbürgermeister Petr Vokral hofft deshalb mit seiner Stadt Vorbild zu sein für einen neuen Umgang mit der gemeinsamen Geschichte beider Nachbarländer:
    "Ich glaube, die Politiker sollten ein bisschen mehr nach vorne schauen und aus der Geschichte lernen und in diese Richtung wollen wir gehen. Die jetzige Generation sollte nie zulassen, das sich so etwas Ähnliches wiederholt. Wir brauchen Toleranz gegenüber allen Leuten und Ethnien und allen verschiedenen Kulturen."