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Über das Heimischwerden

Großvater, Vater und Sohn kehren in "Damals am Meer" in das Ferienhaus der Familie zurück. Die verschiedenen Erinnerungswelten der drei Protagonisten geben tiefe Einblicke in das Italien der letzten 80 Jahre. Die Familiengeschichte handelt auch davon, wie aus Emigranten Einheimische werden.

Von Katja Lückert | 19.08.2011
    Für viele Ferienhäuser gilt der Satz: Man lebt weniger in den Häusern, als in den Erinnerungen an sie. Dieser Tatsache werden sich Nicola, sein Vater Riccardo und sein Großvater Leonardo langsam bewusst, denn schließlich haben alle drei das Haus im süditalienischen Städtchen Barletta schon seit vielen Jahren nicht mehr betreten. Alles droht dort zu verkommen und zu verfallen, weshalb die drei mehr oder weniger widerwillig beschließen, von Mailand noch einmal in den Süden zu fahren, um das Objekt am Meer zu verkaufen.

    Nach Ansicht meines Vaters muss man seit jeher "reisen, solange es kühl ist", das heißt, gegen halb sieben losfahren, um am frühen Nachmittag in Apulien anzukommen und die heftigste Sonne zu vermeiden. Auch Großvater findet, man müsse "reisen, solange es kühl ist", aber für ihn bedeutet das, mitten in der Nacht aufzubrechen, spätestens um halb fünf. "So kommen wir voran", sagt er. Aber voran, wohin? Und bezogen auf was überhaupt?

    Großvater Leonardo setzt sich selbstverständlich durch, wie er überhaupt die treibende Kraft bei dem ganzen Unternehmen ist. Er will die Sache mit dem Haus ins Reine bringen, solange er noch die Kraft dazu hat. Aus der Perspektive seines inzwischen fast 30-jährigen Enkels Nicola, beschreibt Marco Balzano ihn als den energischsten und lebenslustigsten der drei Männer. Als ehemaliger Bauer aus Apulien ist er auch nach der Emigration in den Norden Analphabet geblieben und spricht eine Art italianisierten Dialekt, der sich im Roman jedoch in nur wenigen kursiv gedruckten Dialektausdrücken niederschlägt.

    Sein Sohn, ein Chemiker, spricht Italienisch mit dialektalen Einsprengseln, während dessen Sohn, der Ich-Erzähler Nicola, bereits ein richtiger Mailänder geworden ist. Er ist der Einzige, der in einer einsprachigen Welt lebt und nicht ständig Mailand mit Barletta vergleicht. Während für die anderen beiden Männer die Immobilie in Apulien die eigentliche Heimat der Familie Russo ist, war sie für ihn nur Schauplatz für ein paar kurze Schulferien und Sommeraffären.

    "Das einzige Band, das diese drei Figuren miteinander verbindet, ist der Wunsch, überhaupt ein Verhältnis zu den eigenen Erinnerungen zu bekommen. Sie wissen, dass diese Welt untergegangen ist, und wünschen sich, sie trotzdem noch einmal, wie zum ersten, aber auch zum letzten Mal zu sehen. Und zwar unabhängig von den Rollenklischees und diesem Schweigen, was sehr oft die Familienbeziehungen charakterisiert, besonders, wenn die Beteiligten so völlig verschiedene Leben geführt haben. Eigentlich habe ich erst, seitdem ich dieses Buch geschrieben haben, dieses Schweigen zwischen den Generationen richtig verstanden, das auch andere Schriftsteller immer wieder thematisiert haben, etwa Vittorini über Sizilien. Im Grunde ist es auch egal, ob Sizilien, Apulien oder Venezuela. Es ist so, dass drei verschiedene Dispositionen im Alltag einfach keine Möglichkeit haben, miteinander ins Gespräch zu kommen."

    Dabei sind es gerade diese stillen Szenen, die Marco Balzano besonders gelungen sind. Der Vater, ganz Patriarch, pflegt seiner Frau und seinen Kindern nur morgens an der Haustür, kurz bevor er das Haus verlässt, seine Pläne für den Tag durchzugeben. Am Mittagstisch schält er seine Melone akkurat und teilt dann aus: je ein Stück an seine Frau, an seine Tochter und zuletzt an seinen Sohn Nicola. Später tritt er auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen oder einen Espresso zu trinken, wie üblich aus seinem angeschlagenen Tässchen.

    Durch die 20 Kapitel dieses Buchs behält Marco Balzanos Ich-Erzähler Nicola die Perspektive des Sohns und Enkel bei. Er sitzt auf dem Rücksitz des Fiat Punto, mit dem die drei durch Italien fahren und lauscht noch einmal wie ein Kind den Gesprächen der Erwachsenen. So richtig begreift er nicht, was in der weitverzweigten Familie Russo eigentlich vorgefallen ist, dass nun niemand mehr die Ferien am Meer in Apulien verbringen will und die Geschwister seines Vaters sich auch sonst aus dem Weg gehen.

    Auch der Leser erfährt es nicht, nur aus Nebenbemerkungen kann er vermuten: Es geht wie in den meisten Familienzwistigkeiten um Geld, um beleidigten Stolz und mangelnde Zuwendung.

    Immer wieder erklärt Vater Riccardo, dass er die Reise nur auf sich nehme, weil es eben kein anderer aus der Familie tue. Nicola, der "Sohn des Sohnes", wie der Roman im Original heißt, wohnt als arbeitsloser Gymnasiallehrer immer noch im "Hotel Mama", weiß nicht, wie er je auf eigene Füße kommen soll. Täglich leidet er unter seinem Vater, der ihn für schwächlich und erfolglos hält. Marco Balzano erklärt, warum der Vater, die innerlich am meisten zerrissene Figur ist:

    "Der Vater hat zum einen die große gesellschaftliche Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg mit erlebt, zum anderen musste er erkennen, dass er in seiner neuen Heimat Mailand nie wirklich heimisch wurde. Er hat sich immer wieder nach dem Süden gesehnt, dem Land seiner Kindheit, das er unfreiwillig verlassen hat. Zugleich musste er erleben, dass sich dieser starke Zukunftsglaube in seiner Generation offenbar erschöpft hatte. Die Lebenssituation seines Sohnes empfindet er zunehmend als eine Sackgasse."

    Es sind kleinbürgerliche Verhältnisse von Wirtschaftsemigranten aus Süditalien, den "terroni", den Erdarbeitern, wie sie im Norden oft abfällig genannt wurden, im Gegensatz zu den "polentoni", den Mailänder "Polentafressern", die Marco Balzano beschreibt. Die Sehnsucht nach der Heimat und den Zweifel, ob sie es zu Hause im Süden nicht doch besser gehabt hätten, sind sie ihr Leben lang nie losgeworden.

    Großvater Leonardo hat sich noch am ehesten mit der neuen Heimat arrangiert. Zwar besitzt er kein eigenes Land mehr, gibt aber doch den Gärtnern, die im Mailänder Stadtviertel Loreto Gemüse ziehen, wertvolle Tipps, für die sie sich mit großen Tüten von Salat revanchieren. Er ist es auch, der Nicola groß gezogen hat und mit ihm häufig Ausflüge per Fahrrad unternahm: Nahe, das bedeutete bis zum nächsten Maisfeld und weite, das hieß in die Mailänder Innenstadt zum Castello Sforzesco oder zur Brera-Akademie. Der Roman erklärt nichts, er zeigt und beschreibt Haltungen, Stimmungen - und zwar authentisch und detailgenau.

    "Ich selbst habe diese Reise nie gemacht, obwohl dieses Buch starke autobiografische Züge hat, aber um es mit Pirandello zu sagen: 'Die Lügen in der Literatur heißen Geschichten.' Ich hätte mir vielleicht gewünscht, eine solche Reise zu machen, aber in jedem Fall war sie der beste literarische Trick, um die drei Figuren miteinander ins Gespräch zu bringen."

    Allerdings sind die Beschreibungen des Schweigens oft ertragreicher als die Gespräche, die Nicola im Laufe der Reise dann doch mit seinem Vater über den Glauben an Gott oder die Hoffnungslosigkeit der jungen Generation führt: Der erste in der Familie, der einen Universitätsabschluss besitzt, empfiehlt seinem Vater die Lektüre von Pascal und Hegel, wodurch das gegenseitige Missverstehen nur tiefer wird.

    Nicola ist auch keine große Hilfe für Großvater Leonardo, wenn dieser in einer grandios-wüsten Szene die brütenden Tauben auf der Terrasse des süditalienischen Hauses hinmetzelt, aber er begreift plötzlich, warum seine Großmutter sich so sehr gegen den Verkauf gewehrt hatte:

    Auch ich verlor etwas. Das wurde mir schlagartig klar, während die beiden stritten, während die Stille zunahm und sich alles in den Schatten zurückzog. Auch ich verlor etwas. Im Grunde hatte auch ich Erinnerungen, an meine Cousins, die kleinen Mädchen, die Großeltern, das laue Meer, dessen Geruch bis in die Zimmer aufstieg, einfach weil ich wusste, dass die Wohnung da war. Der Schauplatz der Kindheit. Und dass es sie gab, weit weg, dass darüber geredet wurde, wenn auch immer wie von einem Unglück, war nicht nur der Anstoß, um die Erinnerungen aufzufrischen, sondern die einzige Art, sie am Leben zu erhalten. Wenn es dieses Wissen nicht mehr gab, wenn ich die Wohnung in den unendlichen Kreis der Dinge einreihen musste, die nicht mehr mir gehörten, würde ich sie bald vergessen, und damit würden auch jene mit Spielen und Spaziergängen zum Meer und durch die Felder angefüllten Tage verblassen. Das wollte Großmutter Anna mit ihrem Geschrei ausdrücken. Sie wollte sagen, dass man ihr nicht die Bilder der Zeit nehmen sollte, die zu ihrem Leben als Frau und Mutter und noch davor als Mädchen gehörte. Und sie wollte sagen, dass auf jene Jahre und die Emigration keine andere Zeit gefolgt war, in der sie gute Erinnerungen hätte sammeln können, um im runzeligen Alter davon zu zehren. Kurz und gut, sie kämpfte darum, ein Verhältnis zum Raum zu bewahren, da man das Verhältnis zur Zeit nicht bewahren kann.

    Es braucht zwei Generationen, damit aus Emigranten Einheimische werden. Das Gefühl eines unbestimmten Heimwehs hält sich jedoch offenbar noch viel länger. "Damals am Meer" ist eine Familiengeschichte, die durch die verschiedenen Erinnerungswelten der drei Protagonisten einige tiefe Einblicke in das Italien der letzten 80 Jahre gibt. Aber vor allem ist Marco Balzanos Debütroman eine feinfühlige und kluge Studie über das Heimischsein und Heimischwerden an sich.

    Marco Balzano: "Damals am Meer".
    Antje Kunstmann Verlag
    224 Seiten, 17,90 Euro
    ISBN-13/ISSN:978-3-88897-726-8