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Über Russen und Kaukasier

Wladimir Makanins Erzählung "Der kaukasische Gefangene" gehört in Russland schon seit einigen Jahren zum allgemein anerkannten, in Lehrbüchern gewürdigten Kanon der nachsowjetischen Erzählliteratur, und es ist höchste Zeit, dass dieses kleine Meisterwerk auch dem deutschen Leser zugänglich gemacht wird. Zusammen mit zwei weiteren längeren Prosatexten ist "Der kaukasische Gefangene" nun in der Übersetzung von Annelore Nitschke im Luchterhand Literaturverlag erschienen. Die beiden anderen Erzählungen des Bandes sind durchaus lesenswert, können sich aber in ihrer manchmal allzu angestrengten surrealen Bildsymbolik mit der Titelerzählung nicht messen.

Von Karla Hielscher | 14.07.2005
    "Der kaukasische Gefangene" entstand im Sommer 1994, also Monate vor Ausbruch des ersten Tschetschenien-Krieges. Erschienen 1995, ist die Erzählung jedoch von Kritik und Leserschaft sogleich in engem Zusammenhang mit dem russischen Tschetschenienfeldzug gelesen worden. Und das hat natürlich auch seine Berechtigung, obwohl der Gehalt dieses knappen Textes weit über solche aktuellen Bezüge hinausreicht. Die bewegende Geschichte vom russischen Soldaten und seinem kaukasischen Gefangenen enthält keinerlei exakte Zeit- oder reale Ortsangaben. Sie schreibt sich ein in die Tradition der literarischen Verarbeitung des inzwischen länger als zwei Jahrhunderte dauernden heißen oder kalten imperialen Kaukasuskrieges, der eine tiefe Spur in der russischen Literatur hinterlassen hat. Die beiden populärsten, klassischen Werke mit einer vergleichbaren zentralen Erzählsituation und - bis auf eine Endsilbe - gleich lautendem Titel, die jeder gebildete Russe kennt, stammen von Alexander Puschkin und Lew Tolstoj.

    Die Erzählung Makanins ist aber mehr als ein postmodernes Spiel mit den berühmten Vorbildern, sie ist ein sehr eigenständiges Stück bedeutender, zeitloser Literatur. Die Grundkonstellation einer Gefangenschaft im Kaukasus wird von Makanin in seiner modernen Version jedoch sehr bewusst umgekehrt: nun ist nicht wie bei den großen Autoren des 19. Jahrhunderts ein Russe Gefangener der Bergvölker, sondern ein Bergbewohner der von Russen, und am Ende steht nicht die Rettung, sondern der Tod des Gefangenen.

    Die Handlung ist von klassischer Einfachheit und Strenge: Zwei russische Soldaten greifen sich bei einem Scharmützel einen jungen Kaukasier, um ihn zum Austausch für die Freigabe einer von den Bergbewohnern gesperrten Straße einzusetzen. Während des Marschs mit dem Gefangenen durch die phantastische Bergwelt keimt eine zarte homoerotische Beziehung zwischen dem Soldaten Rubachin und dem leicht verwundeten blutjungen schönen Kaukasier mit dem schulterlangen Haar auf. Rubachin beginnt, sich um ihn zu sorgen, trägt ihn durch einen Bergbach, gibt ihm nachts seine Wollsocken, und der Junge schläft mit dem Kopf auf der Schulter des durch seine Gefühle irritierten Soldaten. "Wieso sind wir eigentlich Feinde?" fragt dieser, "wir sind doch vom selben Schlag."

    Als die kleine Gruppe jedoch auf kaukasische Rebellen stößt und ein einziger Schrei des Gefangenen zu ihrer sicheren Entdeckung führen würde, erwürgt der Russe im Überlebensinstinkt in einer tödlichen Umarmung den geliebten Gefangenen.

    Wie bei seinen großen literarischen Vorgängern geht es Makanin also um die menschliche Verbundenheit, um die Nähe zwischen Russen und Kaukasiern, durch die die ganze Absurdität und Sinnlosigkeit ihres Kampfes erst recht offenbar wird.

    Man hat sich eingerichtet in der Alltagsroutine des ewigen Krieges, in dem die Täler den Russen, die Berge den Kaukasiern gehören: die Soldaten betrinken sich, haben ihre Liebschaften mit einheimischen Frauen, der russische Oberstleutnant Gurow, der "Allmächtige dieses Ortes", lebt mit seiner Frau in einem weinumrankten Bauernhaus und feilscht beim Tee auf der Veranda in einem gemächlichen Gespräch mit seinem alten Feind Alibek um die Lieferung von Waffen für Proviant. "Tee ist ja nicht Krieg, Tee wird kalt", sagt Alibek.

    Trotzdem ist der Tod ständig als unheimliche dunkle Bedrohung gegenwärtig. Die genaue Sprache der Erzählung ist geprägt von der faszinierenden und verstörenden Verbindung von Schönheit, Erotik und Tod. Gleich zu Beginn finden die beiden Soldaten in der verschwenderischen Pracht der Berglandschaft einen Kameraden, der im Wald seinen Rausch ausschlafen wollte, mit herausgerissenen Eingeweiden, aus nächster Nähe erschossen.

    Die lakonisch und zurückhaltend erzählte Geschichte ist von äußerster Dichte und Deutungsoffenheit. Im Vordergrund steht die polemische Auseinandersetzung mit Dostojewskijs idealistischer, und in Russland immer wieder simplifiziert zitierter Idee, dass Schönheit die Welt rettet. Bei Makanin ist die gewaltige Schönheit und "stumme feierliche Erhabenheit" der kaukasischen Bergwelt aufgeladen mit Angst und tödlicher Gefahr. Die Schönheit des jungen Kaukasiers kann ihn nicht retten. Zitat: "Mit dem Arm, der ihn umfing, nahm Rubachin seinen Kehlkopf in die Zange. Drückte zu. (...) Ein paar Zuckungen ... und Schluss."

    Wladimir Makanins Erzählung "Der kaukasische Gefangene" beschwört in formvollendeter Prosa, mit nicht nachlassender, unter die Haut gehender Spannung und ihrem schockierenden Höhepunkt den Wahnsinn dieses mörderischen Krieges, dessen Gefangene Russen wie Kaukasier gleichermaßen sind.