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Ukraine-Konflikt
"Der Faktor Zeit ist entscheidend"

Der Historiker Timothy Garton Ash hat Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert. Die Bereitstellung defensiver Systeme sei der einzige Weg, um Frieden herbeizuführen, sagte er im Deutschlandfunk. Das Land müsse sich selbst verteidigen können. Die Separatisten hätten Territorien dazugewonnen.

Timothy Garton Ash im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 05.02.2015
    Der Historiker Timothy Garton Ash.
    Der Historiker Timothy Garton Ash. (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
    Die Separatisten würden mit modernen Waffen aus Russland beliefert, sagte Ash. Dadurch würden sie immer die Oberhand behalten. Vor allem die Amerikaner hätten aber moderne Defensivwaffen, die der ukrainischen Armee im Gegenzug helfen könnten. Er unterstütze den Vorschlag, moderne amerikanische elektronische Abwehrsysteme direkt an die ukrainische Armee zu liefern. Es wäre nicht gut, wenn deutsche, französische oder britische Waffensysteme dort zum Einsatz kämen.
    "Manchmal muss man leider Waffen anwenden, damit Waffen schweigen", sagte er und räumte ein, dass es auch ein Risiko gebe. Sanktionen würden aber nur langfristig wirken. Der Faktor Zeit sei entscheidend, da die Separatisten jeden Tag weiteres Land gewinnen würden. Wäre der Krieg nicht neu ausgebrochen, hätte er gesagt, man solle beim Verhandlungsweg bleiben.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Braucht die ukrainische Armee die militärische Unterstützung des Westens? Die Frage steht seit wenigen Tagen im Raum. Nicht nur in Washington, auch in vielen anderen Hauptstädten wird darüber diskutiert. Zu den Beobachtern, die sich bereits sehr deutlich für Waffenlieferungen und für eine militärische Unterstützung ausgesprochen haben, zählt der britische Historiker, Publizist und Europakenner Timothy Garton Ash. Er lehrt in Oxford und hat sich in seiner Forschung immer wieder intensiv mit den verschiedenen Konflikten in Osteuropa beschäftigt. Ich hatte gestern Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. - Professor Garton Ash, warum braucht die Ukraine Waffen aus dem Westen?
    "Hier findet ein zweites Bosnien statt"
    Timothy Garton Ash: Das sage ich natürlich schweren Herzens. Aber wir müssen klar sein: Es findet statt ein zweites Bosnien. Ein europäisches Land wird vor unseren Augen mit Gewalt auseinandergerissen. Da sind 5.000 Tote, mehr als eine Million Menschen vertrieben. Wir haben ja gerade über ein Jahr lang alles versucht, mit Verhandlungen, mit wirtschaftlichen Sanktionen. Gerade die deutsche Regierung hat immer wieder alles versucht. Es hat den Krieg nicht gestoppt, und zwar aus einem einfachen Grund, dass mit modernen Waffenlieferungen gerade aus Russland, Panzer, Raketensysteme, elektronische Kommunikationssysteme, die russischen Separatisten, unterstützt von Moskau, immer die Oberhand haben. Sie haben immer die Chance, weiterzukämpfen und weiteres Territorium zu gewinnen.
    Insofern scheint es mir: Der einzige Weg leider, den Frieden herbeizuführen, ist, wie von manchem Amerikaner sehr sorgfältig vorgeschlagen, bestimmte defensive, ich betone defensive Waffensysteme an die ukrainische Armee zu geben, nebenbei bemerkt die legitime Armee eines unabhängigen Staates, also nicht irgendeiner Terroristen- oder Guerilla-Gruppe, die legitime Armee eines unabhängigen Staates, damit sie sich selber verteidigen können.
    Armbrüster: Herr Professor Garton Ash, wenn ich Sie da kurz unterbrechen darf. Ist das nicht etwas voreilig? Wir sind ja gerade in einer Situation, wo wir durchaus noch die Chancen haben, wirtschaftliche Sanktionen zum Beispiel gegen Russland weiter zu verschärfen. Da ist ja längst noch nicht alles ausgeschöpft.
    "Ein gefährlicher Präzedenzfall"
    Garton Ash: Das ist nicht richtig. Die haben in den letzten Wochen, als die russische Seite den Waffenstillstand, den wir ausgehandelt haben, gebrochen hat, die russische Seite hat ja etliche Quadratkilometer von Territorium zugewonnen, und man sieht ja klar eine Strategie, der Versuch, ein halbwegs funktionsfähiges, sagen wir mal, Protektorat oder Marionettenstaat, vergleichbar die Serbische Republik in Bosnien, zu gewinnen. Und dann in diesem Moment kann Herr Putin und die russische Seite sagen, wir haben es ja erreicht, wir haben unser Ziel erreicht, jetzt sind wir gern bereit zu verhandeln. Aber da hat Putin schon gewonnen. Als Präzedenzfall, möchte ich sehr stark betonen, ist das sehr, sehr gefährlich. Das bedeutet, mit Gewalt können Sie gewinnen.
    Armbrüster: Jetzt sagen Sie, es sollen defensive Waffen in dieses Kriegsgebiet geliefert werden für die ukrainischen Streitkräfte. Wie soll das aussehen? Deutsche Luftabwehrraketen an der westlichen Grenze von Russland?
    "Wladimir Putin hat Milosevic-ähnliches Ziel"
    Garton Ash: Das ist natürlich eine gute Frage. Der amerikanische Vorschlag – und ich unterstütze ja den Vorschlag von dem großen amerikanischen Russland-Kenner Strobe Talbott und anderer – sagt sehr sorgfältig, das sind die ganz modernen amerikanischen elektronischen Abwehrsysteme (und das haben vor allem die Amerikaner) sollen direkt an die ukrainische Armee geliefert werden. Diesen Vorschlag unterstütze ich.
    Ich gebe Ihnen völlig Recht. Ich glaube, es wäre sicherlich nicht gut, wenn deutsche Waffensysteme, möglicherweise auch nicht französische und britische Waffensysteme so in dieses Gebiet geliefert werden. Aber ich betone noch mal: Manchmal in der Politik haben wir nur die Wahl zwischen einer schlechten und einer noch schlechteren Alternative. Wenn wir nichts mehr unternehmen, nur noch Verhandlungen und Sanktionen, die langfristig wirken, aber nicht kurzfristig, wird Wladimir Putin sein Milosevic-ähnliches Ziel erreichen, und das hat verheerende Konsequenzen nicht nur für die Ukraine, sondern für das ganze europäische Sicherheitssystem.
    Armbrüster: Aber da muss ich jetzt doch noch mal fragen. Warum denn nicht weitere verschärfte Sanktionen, mit denen man Putin möglicherweise zurückbringen könnte an den Verhandlungstisch und ihn möglicherweise auch dazu bewegen kann, Positionen in der Ukraine wieder zu räumen?
    Garton Ash: Sie haben jetzt gleich zweimal das Wort „möglicherweise" benutzt, und das ist völlig richtig. Möglicherweise, aber unwahrscheinlicherweise. Ich bin für verschärfte Sanktionen. allerdings wie Sie sehr wohl wissen, ist das in einer Europäischen Union von 28 Mitgliedsländern, unter anderem Griechenland, Ungarn und Bulgarien, sehr schwer zu machen und das findet über Nacht nicht statt.
    Der Faktor Zeit ist hier so entscheidend. Die russischen und separatistischen Streitkräfte kommen Tag für Tag weiter voran, um dieses Ziel zu erreichen. Wir haben nicht die Zeit, diese langfristigen Instrumente wirken zu lassen – leider, leider!
    Armbrüster: Man würde damit aber ja, mit solchen Waffenlieferungen, ein völlig neues Kapitel auch in der europäischen Geschichte aufschlagen: Zum ersten Mal seit 1945 greifen die Amerikaner in einen Krieg ein auf europäischem Boden, in den auch Russland verwickelt ist.
    Garton Ash: Das ist richtig. Allerdings darf ich Sie noch mal an Bosnien erinnern. Wir Europäer mit unseren Verhandlungen und Sanktionen (und möglicherweise bewegt sich dies oder das) haben es ja drei Jahre lang zugelassen, dass ein Land auseinandergerissen wird und ein Genozid stattfindet im ehemaligen Jugoslawien. Sind wir bereit, im Namen des Friedens einen solchen Krieg noch mal zuzulassen?
    "Mitten in Europa ein Krieg"
    Armbrüster: Ist dieser Vergleich denn nicht ein bisschen übertrieben? Ich meine, Sie haben selber das Wort "Genozid" genannt. Dieser Begriff ist ja zumindest in diesem Konflikt bislang noch nicht gefallen.
    Garton Ash: Sie haben Recht! – Sie haben Recht, das kam später. Das kam in Srebrenica, das kam nach drei Jahren. Aber was im Moment passiert im Osten der Ukraine ist schlimm genug. Ich meine, mitten in Europa Krieg, ein voller Krieg und mehr als eine Million Menschen vertrieben, das haben wir auch lange Zeit nicht gesehen.
    Herr Armbrüster, ich gebe natürlich zu, es ist ja völlig klar: Hier gibt es ein Risiko. Das ist ein sehr schwieriger und auch risikoreicher Schritt. Aber ich betone nochmals, ich sage das ja schweren Herzens. Ich betone nochmals: Die wahrscheinliche Alternative ist, dass der Krieg im Osten der Ukraine weitergeht, dass die russische Seite noch mehr Territorium gewinnt mit noch mehr menschlicher Misere und noch mehr Toten, und dann kann Putin sich als Sieger erklären zuhause. Und wie gesagt, die Lehre nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt ist verheerend: Versuchs mit Gewalt und Du kannst ja gewinnen.
    "Waffen anwenden, damit die Waffen schweigen"
    Armbrüster: Wenn wir jetzt über Waffenlieferungen diskutieren - und diese Kontroverse hält ja durchaus an -, ist das dann auch gleichzeitig ein Eingeständnis für die Europäer, für die Europäische Union, dass sie bislang in diesem Konflikt versagt hat?
    Garton Ash: Nein, glaube ich nicht. Ich glaube, im Gegensatz zu Bosnien, wo wir tatsächlich versagt haben. Ich bewundere gerade, was Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier versucht haben in diesem Konflikt. Wir sind sehr aktiv gewesen und es ist sehr richtig, dass wir jetzt über ein Jahr alles mit Verhandlungen und Sanktionen und wirtschaftlichen Mitteln versucht haben. Wenn der Waffenstillstand nicht neu gebrochen wäre vor ein paar Wochen, der Krieg neu ausgebrochen, und zwar initiiert von der russischen Seite, dann würde ich sagen, wir bleiben bei Sanktionen und bei dem Verhandlungsweg. Nur in dieser absolut kritischen und auch tragischen Situation sollten wir das schwer erwägen. Es ist manchmal so, dass man leider Waffen anwenden muss, damit die Waffen schweigen.
    Armbrüster: Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leute, die das jetzt hören, sich denken, da hat auch der Professor Garton Ash leider Wladimir Putin und Russland nicht ganz verstanden. Diese Leute, die Russen, die russische Führung fühlt, dass ihr Land seit 25 Jahren vom Westen eingekreist wird und auch nicht für voll genommen wird, und jetzt fangen wir auch noch an mit dieser Kriegstreiberei.
    Garton Ash: Wir mit der Kriegstreiberei? Wer hat denn Krieg betrieben in der Ukraine? Und wenn Sie sagen, ihr Land, meinen Sie, die Ukraine gehört zu Russland? Ukraine ist ein unabhängiges Land. Das ist ja unmöglich. Wenn Sie den sehr scharfen Vergleich erlauben: Das Sudetenland war auch nicht Deutschland, das Sudetenland gehörte zur Tschechoslowakei. Solches Denken dürfen wir nicht zulassen.
    Es steht auf einem völlig anderen Blatt, ob wir gewisse Fehler gemacht haben im Verhältnis zu Russland in den letzten 20 Jahren. Das ist durchaus zu diskutieren. Aber das legitimiert keinesfalls einen solchen Krieg auf dem Territorium eines anderen unabhängigen Staates. Da muss man sehr klar sein.
    Armbrüster: Wann hat denn diese Logik eigentlich zum letzten Mal funktioniert, dass man allein mit der Lieferung von defensiven Waffensystemen einen Krieg stoppen kann?
    Garton Ash: Jede geschichtliche Situation ist natürlich einmalig. Aber der bosnische Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist nur dann zum Ende gekommen, als die militärischen Verhältnisse, das Verhältnis der militärischen Kräfte vor allem durch die Angriffe von der kroatischen Seite, die ja die Amerikaner und andere unterstützt haben, die Serben zum Verhandlungstisch zurückgebracht hat. Das ist ein relativ gutes Beispiel dafür, natürlich mit etwas anderen Elementen, dass ein sorgfältiges und begrenztes militärisches Element die Gegenseite, also den Aggressor, zum Verhandlungstisch bringen kann. Und ich betone noch mal: Sinn dieser ganzen Initiative ist, die Russen und allen Seiten zum Verhandlungstisch zu bringen, damit Frieden wieder herkommt.
    Armbrüster: Timothy Garton Ash, vielen Dank für dieses Gespräch.
    Garton Ash: Bitte schön.