Der jüdische Pharisäer Saulus von Tarsos mutierte durch sein Erweckungserlebnis bei Damaskus bekanntermaßen zu Paulus. Er soll, so heißt es, dem auferstandenen Christus begegnet sein. In der Folge wurde er zu einer der wichtigsten Figuren für die Ausbreitung des Christentums. Er besuchte mehrere Gemeinden im Mittelmeerraum und verkündete die Lehre. Wie in der Oper "San Paolo" von Sidney Corbett nach einem nie realisierten Filmskript von Pier Paolo Pasolini deutlich wird, war Paulus durchaus ein besessener Missionar.
"Paulus war eine sehr gespaltene, streitbare Figur, der hat auf der einen Seite schreckliche Dinge geschrieben, hat starke frauenfeindliche Äußerungen gemacht, andererseits war er vielleicht der größte Lyriker des Neuen Testaments. Pasolini war natürlich als Filmemacher am meisten bekannt, aber für mich ist er ein viel größerer Dichter als Filmemacher."
"Ich sehe in beiden Figuren eine sehr starke Vereinsamung"
Pier Paolo Pasolini interessierte sich für Paulus/Paolo nicht nur in dem hinterlassenen Filmentwurf, sondern in zahlreichen anderen Filmen, die um neutestamentliche Themen kreisen, etwa "Das 1. Evangelium Matthäus" oder Teorema. Dem Apostel Paulus fühlte er sich seelenverwandt. Paulus stand oft im Widerspruch mit der sich bildenden frühen christlichen Kirche. Pasolini wiederum, war Kommunist und Homosexueller, er wurde aus Partei und Kirche ausgeschlossen und überstand 33 Gerichtsprozesse. Sidney Corbett:
"Ich sehe in beiden Figuren eine sehr starke Vereinsamung, besonders bei Pier Paolo Pasolini. Es ist ein beinhartes Stück, der wird sehr stark geprüft in unserer Fassung, fortwährend abgelehnt, er will die Botschaft des Heils der ganzen Welt zugänglich machen, niemand will es hören, er wird zusammengeschlagen. Im Filmdrehbuch nimmt Pasolini seine eigene Ermordung vorweg, was makaber ist, Paulus wird verraten von Timoteo. In Pasolinis Auseinandersetzung gibt es einen Streit, der historisch nicht richtig ist, aber für die Bühne sehr spannend ist, zwischen Petrus und Paulus über die Frage der Gründung der Kirche, oder die Nähe zur Botschaft selber. Dadurch äußert Pasolini sehr starke Kritik an der Kirche, und das übernehmen wir."
"Für mich sind es nicht so sehr eigentlich autobiografische Züge, sondern die Zerrissenheit in Paulus und in Pier Paolo Pasolini, diese Doppelfigur."
Es gibt zumindest eine Facette in der Biografie des amerikanischen Komponisten Sidney Corbett, die eine Parallele zum Leben des Apostel Paulus aufweist. Corbett hat einen katholischen Vater und eine jüdische Mutter, er kennt sowohl Christentum und Judentum.
Lebensstationen des Paulus
Sieben Szenen – Lebensstationen des Paulus - vertonte Sidney Corbett aus dem italienischen Libretto, das der Intendant des Osnabrücker Theaters Ralf Waldschmidt nach Pasolinis Filmskript eingerichtet hat. Darunter sind die Hinrichtung des Stephanus, den Paulus den Christenverfolgern ans Messer geliefert hat, das Erweckungserlebnis, natürlich Paulus’ bis heute kritisierte Äußerungen über ein keusches Leben und die Stellung der Frau in der Gemeinde, sowie das Apostenkonzil mit dem Streit, wer Christ werden könne. Paulus wollte auch Heiden einschließen, Petrus nur Juden.
Pasolini wollte mit seiner, wie er selbst sagte, poetischen Idee, die Lebensgeschichte des Heiligen Paulus auf Verfolgungs-Situationen im 20. Jahrhundert übertragen. Das belagerte Jerusalem um 35 wird zum besetzten Paris während des Zweiten Weltkrieges, oder Paulus Tod im Jahr 67 findet 1968 in New York im Jahr der Ermordung Martin Luther King statt.
"Ein Filmskript lebt viel kürzer, die Schnitte sind schneller, die Sprünge sind über geografische und zeitliche Räume viel schneller im Film zu machen als in der Oper. Ich habe viel Szenen zusammengefasst, die eigentlich in dem Drehbuch nicht zusammengehören, die an ganz verschiedenen Orten sind, aber die Funktion ist ähnlich."
Auf die Drehbühne hat Wolf Gutjahr einen zweigeschossigen Kubus mit rohem und weißgetünchtem Holz gesetzt. Fenster, Türen, Leitern, Treppen, Trennwände lasse große und kleine verschachtelte Räume entstehen, ideal für intime Szenen und große Chöre.
Immer wieder lässt Regisseur Alexander May das Gesicht Pier Paolo Pasolinis überdimensional projizieren, und so den legendären Künstler als Ideengeber des ganzen Szenarios präsent werden. Dass es auch um Pasolinis Leben geht, versteht man, wenn Pasolini als Kind und auch als alter Mann immer wieder auf der Bühne erscheint. Der Sänger des Paulus trägt die gleiche Brille wie Pasolini. Dennoch, die Übertragung der frühchristlichen Verfolgungssituationen auf Ereignisse im 20. Jahrhundert wird nur mit vorhergehender Lektüre des Programmheftes und einiger Gedankenarbeit deutlich, und nicht durch das Spiel auf der Bühne.
Musikalisch leistet das gesamte Ensemble des Theaters Osnabrück Großartiges
Sidney Corbetts häufig kammermusikalisch ausgerichtete Musik hat einen sehr fließenden und oft ins Lethargische tendierenden Charakter. Flirrende Streicher breiten einen Klangteppich auf, Konturen schälen hier melodisch agierendes Blech, oder klagende Holzbläser heraus. Brutale Situationen sind mit schrill und scharf akzentuiert aufspielendem Blech oder Schlagwerk unterstrichen. Der Chor schlüpft in die Rolle des Volkes, das den mehr und mehr vereinsamenden Paulus als Fanatiker anklagt. Sidney Corbett:
"Bei Paulus ist es fast formelhaft, die Töne werden immer reduzierter, also die Vereinsamung geht einher mit einer Verkleinerung seines Tonumfang, der Raum wird immer kleiner."
Am stärksten vermittelt sich bei Sidney Corbetts Oper "San Paolo" die Obsession des frühchristlichen Helden. Anders als bei Pasolinis Filmentwurf bleibt in der Musiktheater-Fassung offen, ob Paulus getötet wird. Musikalisch leistet das gesamte Ensemble des Theaters Osnabrück hier Großartiges, voran der wunderbar klar und bewegend singende Tenor Jan Friedrich Eggers in der Titelpartie, mit der Rolle "Una voce" (Eine Stimme), die für Jesus steht, empfahl sich die Sopranistin Lina Liu, und der aufrührerische Petrus lag bei dem facettenreich und ausdrucksstark agierenden Barition Rhys Jenkins in besten Händen. Die anspruchsvolle Partitur dieses zum Nachdenken anregenden Musiktheaters über den Apostel Paulus und Pier Paolo Pasolini setzten Opern- und Kinderchor sowie das Symphonieorchester des Theaters Osnabrück unter Daniel Inbal souverän um.