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Ursprung in Kleinasien

Linguistik. - In der Evolutionstheorie gilt die Entwicklung der Lautsprache als Meilenstein in der Menschwerdung. Heute gibt es rund 4000 Sprachen, allein mehr als die Hälfte davon in Afrika. Die indogermanischen Sprachen bilden jedoch die sprecherreichste Sprachfamilie der Welt, ihr werden rund drei Milliarden Muttersprachler zugeordnet. Seit Jahrzehnten streiten sich Linguisten über ihren geographischen Ursprung. Eine Lösung bieten nun Sprachforscher aus Neuseeland im US-amerikanischen Fachmagazin "Science".

Von Michael Stang | 24.08.2012
    Obwohl Quentin Atkinson an der Universität von Auckland in Neuseeland arbeitet, befindet sich der Schwerpunkt seines Forschungsgebietes geographisch betrachtet auf der gegenüberliegenden Seite des Erdballs.

    "Wir wollten eine 200 Jahre alte Streitfrage in der Linguistik beantworten und zwar, wo sich der Ursprung der indo-europäischen Sprachfamilie befindet. Diese Sprachen werden von Island im Westen bis weit in den Osten hinein in Sri Lanka gesprochen, das sind mehr als 400 Sprachen."

    Der Ursprung dieser Sprachfamilie ist seit jeher umstritten. Die Experten spalten sich in zwei Lager. Die eine Seite vermutet die Wiege der indoeuropäischen Sprache vor etwa 6000 Jahren in der russischen Steppe, nördlich des Kaspischen und Schwarzen Meeres. Die Gegenseite vertritt die These, dass der Ursprung irgendwo im Bereich des fruchtbaren Halbmondes zu finden ist, dem niederschlagsreichen Gebiet im Norden der arabischen Halbinsel. Quentin Atkinson zufolge ist der Streit nun entschieden.

    "Die Gemeinsamkeiten von alten Sprachen haben wir anhand von so genannten Kognaten untersucht. Diese klingen meist ähnlich, da sie einen gemeinsamen Ursprung haben. Ein Beispiel wäre das englische Wort für 'Mutter', also 'mother', im Niederländischen gibt es 'Moeder', in Spanien 'Madre' und im Russischen 'мать'. Das klingt alles ähnlich und Linguisten schließen daraus, dass es sich hier um eine Sprachverwandtschaft handeln muss."

    Quentin Atkinsons Ausgangspunkt war eine simple Annahme: Mit einer ausreichend großen Zahl an Wörtern, die in allen Sprachen vorkommen, müsste man einen gemeinsamen Sprachstammbaum erstellen können.

    "Wir haben eine Datenbank aus 200 Wörtern angelegt, die etwas Bestimmtes bezeichnen, etwa Körperteile, Beziehungswörter wie Mutter oder Vater und Wörter aus der Natur wie Wasser oder Feuer. Solche Wörter haben wir aus mehr als 100 Sprachen aus ganz Europa und dem Nahen Osten gesammelt."

    Um die Verwandtschaftsbeziehungen und letztlich die gemeinsamen Ursprünge der einzelnen Wörter und Sprachen zu errechnen, bedienten sich Quentin Atkinson und seine Kollegen eines statistischen Modells aus der Evolutionsbiologie. Dort kommen solche Methoden zum Einsatz, um Veränderungen im Erbgut anzuschauen, den Verlauf von Grippeepidemien vorherzusagen oder sie zu ihrem Entstehungsort zurückzuverfolgen. Statt einer Viren-DNA speisten die Wissenschaftler Kognate ein und untersuchten keine mutierten Gene, sondern veränderte Wörter, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden.

    "Nachdem wir diese Methode angewendet hatten, konnten wir errechnen, welches Modell am besten die Ursprache angibt und das wiederum kann man geographisch festmachen. Dabei sahen wir: Es ist am wahrscheinlichsten, dass sich die indo-europäischen Sprachen in Anatolien, also der heutigen Türkei, entwickelt haben und zwar vor 8000 bis 9500 Jahren."

    Keiner der zahlreichen hypothetischen Stammbäume hatte seine Wurzeln in der russischen Steppe. Quentin Atkinson überrascht dies nicht, da auch viele archäologische Beweise dafür sprechen, dass im Bereich des fruchtbaren Halbmondes der Ursprung aller indo-europäischen Sprachen liegt. Dort begann zu jener Zeit auch die so genannte Neolithische Revolution, die Jungsteinzeit, in der Ackerbau und Viehzucht allmählich das Nomadentum ablösten. So verbreiteten sich mit den domestizierten Tieren und Pflanzen auch neue Sprachen über den ganzen europäischen Kontinent.