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Uwe Müller: Supergau Deutsche Einheit

Als sich im vergangenen Jahr im Vorfeld von Hartz IV in den inzwischen gar nicht mehr so "neuen" Bundesländern eine Renaissance der Montagsdemos abzeichnete, wurden diese von der hohen Politik in Berlin nicht eben ernst genommen, mitunter sogar mit einer Arroganz abgetan, die den gelernten Ostdeutschen an die Arroganz der SED-Mächtigen im Herbst 1989 erinnert haben mag. Wie ernst die Situation im Osten Deutschlands tatsächlich ist – und wo die Ursachen der Misere liegen –, beleuchtet ein Buch mit dem provokanten Titel "Supergau Deutsche Einheit".

Von Sandra Pfister | 25.04.2005
    "Bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir alles besser" – so patzig-treffend beschied Kurt Biedenkopf bereits 1992 Kritiker der Wiedervereinigungspolitik. Wenn Hans Eichel heute erneut die Maastricht–Latte reißt, gibt er unumwunden zu, dass die Einheit ein finanzielles Desaster ist - ohne Scham bemüht er die Wiedervereinigung als Entschuldigung. Jenseits der politischen Ränke ist klar: Ostdeutschland ist tief verschuldet und von Transferzahlungen abhängig. Die Arbeitslosigkeit liegt längst weit über 20 Prozent, und die Misere im Osten lädiert längst auch den vormals wirtschaftlich weitgehend intakten Westen. Der Überbringer der schlechten Nachricht ist diesmal ausnahmsweise nicht Klaus von Dohnanyi, sondern Uwe Müller, Redakteur der Berliner Tageszeitung "Die Welt". Der gebürtige Wessi hatte 1990 enthusiastisch rübergemacht in den Osten, wollte dabei sein beim historischen Zusammenwachsen. Jetzt zieht der Volkswirt eine wirtschaftliche Bilanz. Unterm Strich stehen jede Menge rote Zahlen. Die deutsche Einheit – ein "Supergau", wie das Cover reißerisch behauptet?

    "Weil wir nach 15 Jahren feststellen müssen, dass das Wiedervereinigungskonzept gescheitert ist. Es bestand darin, dass man gedacht hat, die alte BRD nimmt viel Geld in die Hand, und damit kann es gelingen, den Osten rasch auf West-Niveau zu bringen. Das hat funktioniert während der ersten fünf Jahre. Doch dieser Prozess stoppte Mitte der 90er Jahre abrupt. Seitdem sinkt der Osten wieder. "

    Tatsächlich: Es gab einen Vereinigungsboom. Er bescherte vielen Unternehmen im Westen, vor allem der westdeutschen Bauindustrie, pralle Auftragsbücher. Doch auf fünf Jahre Hoffnung folgten fünf Jahre Stagnation. Und ein Jahrfünft der Selbsttäuschung. Müller will es endlich beenden. 14 Jahre später besserwisserisch zurückzublicken und den Zeigefinger zu haben, das ist leicht. Müller ahnt schon, dass er sich als Spielverderber und Miesmacher beschimpfen lassen muss – wie vor 15 Jahren Oskar Lafontaine. Mehrfach holt er sich deshalb prominente Schützenhilfe.

    "Ökonomisch wurde die deutsche Einheit miserabel organisiert. ‚Helmut Kohl’, so stellt der langjährige Jenoptik-Chef Lothar Späth fest, ‚hat politisch alles richtig und wirtschaftlich alles falsch gemacht’. "

    Und zwar, indem er den "Aufbau Ost" als "Nachbau West" konzipierte. Die Fehler der unmittelbaren Nachwendezeit sind bekannt. Müller gebührt das Verdienst, sie schlüssig und klar zusammengebunden zu haben. Der "Einheitskanzler" habe dem Osten sofort das komplizierte Regelwerk des Westens übergestülpt – und damit alle neuen Ansätze erstickt, kritisiert der Autor. Mit der Währungsunion habe Kohl die Ostbetriebe sofort internationaler Konkurrenz ausgesetzt.

    "Kohls Währungsunion? Sie sollte vor allem die Erwartungen seiner ostdeutschen Landsleute erfüllen, und, ganz nebenbei, den nächsten Wahlsieg sichern. "

    Als schwere Bürde erwies sich auch die schnelle Anhebung der Ost-Löhne. Sie konnte mit der Produktivität nicht standhalten, kritisiert Müller.

    " Ich gehe nicht nur mit den Gewerkschaften streng ins Gericht, sondern auch mit den Arbeitgeberverbänden. 1990 haben die westdeutschen Arbeitgeber und die westdeutschen Gewerkschaften die Löhne für Ostdeutschland ausgehandelt. Und beide hatten kein Interesse daran, dass im eigenen Land eine Billigkonkurrenz entsteht. (…) Das hat zu einem massenhaften Arbeitsplatzverlust geführt. "

    Und zwar nicht nur im Osten der Republik. Kurz nach der Wende gehörte Deutschland noch zu den drei leistungsfähigsten Volkswirtschaften Europas, heute sieht die einstige Wirtschaftslokomotive nur noch die Rücklichter von Großbritannien, den Niederlanden oder Österreich. Nicht nur, aber doch in wesentlichen Teilen eine Folge der Einheit, sagt Uwe Müller.

    "Wir wissen, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland um vier Prozent mindestens niedriger wären, wenn wir die hohen Kosten der Wiedervereinigung nicht zu tragen hätten. Das würde dazu führen, dass mehr Kaufkraft da wäre, es würde dazu führen, dass wir auch mehr Arbeitsplätze hätten. Und von daher ist das Kardinalproblem natürlich schon die mangelnden Erfolge beim Aufbau Ost. "

    85 Milliarden Euro fließen jedes Jahr von Ost nach West, vier Prozent des Sozialproduktes. Ostdeutschland, so konstatiert Müller, hänge immer noch am Tropf des Westens – jeder dritte Euro, der im Osten ausgegeben werde, sei nämlich nicht dort erwirtschaftet worden. Und mit dem steten Geldsegen gebe die Bundesregierung der schon zu DDR-Zeiten antrainierten Anspruchshaltung der Menschen in Ostdeutschland ständig neues Futter.

    "Für Ostdeutschland wurde ein Rundum-sorglos-Paket geschnürt – bestehend aus dem Fonds ‚Deutsche Einheit’, dem Solidarpakt I und dem Solidarpakt II. (…) Schlüssiger ist das Bild eines Versicherungskontraktes. (…) Die alte Bundesrepublik hat demzufolge die Bürger der DDR mit der Zusage einer annähernd unbegrenzten Zuschusspflicht gegen alle Risiken der Systemumstellung ‚versichert’. (…) Ständig verbrauchen die neuen Länder Geld, das sie nicht selbst erwirtschaften. Das gilt inzwischen als Selbstverständlichkeit, zumal ein komplizierter Verteilmechanismus die Herkunft der Mittel verschleiert.(…) Aus der Geschichte sind drei Hauptursachen für eine explodierende Verschuldung bekannt: Kriege, Wirtschaftskrisen und Verschwendungssucht. Letzterer wurde in Ostdeutschland nach 1990 gehuldigt – in Form der schon zuvor erprobten Volksbeglückung. "

    Denn die Landschaften zwischen Thüringen und Sachsen, sie blühen ja wirklich. Da entsteht ein krachneues Fußballstation in Leipzig, das 45.000 Menschen fasst – für einen Viertligaverein, der stets nur knapp der Insolvenz entkommt. Viele ostdeutsche Innenstädte mit ihren flächendeckend sanierten Altbauten gleichen Puppenstuben – herausgeputzt mit Transfermilliarden und Subventionen. Wären die ostdeutschen Bundesländer ein eigener Staat, sie wären längst zahlungsunfähig.

    "Länder wie Sachsen-Anhalt sind bankrotter, als es die DDR jemals gewesen ist. "

    Der Schuldenberg ist nur eines von drei drängenden Problemen, die Müller herausarbeitet. Schlimmer dürfte auf Dauer sein, dass Ostdeutschland keine eigene wirtschaftliche Kraft entwickelt, weil es viel zu wenig Firmen gibt. Und die sind zudem meist klein: So haben die 100 größten Ost-Betriebe gemeinsam nur rund 200.000 Beschäftigte – weniger als der Münchner Elektronik-Konzern Siemens. Für Müller, der die Verdienste der Treuhand durchaus nicht übersieht, auch das Ergebnis einer verfehlten Privatisierungspolitik:

    "Gleichwohl lässt sich die fast zwölfjährige Treuhand-Geschichte durchaus als Chronique scandaleuse schreiben. Statt für mehr Wettbewerb in Gesamtdeutschland zu sorgen, erweiterte die größte Staatsholding im Osten systematisch die Einflusssphäre der marktmächtigen West-Konzerne. "
    Zu hohe Schulden, zu wenig Firmen: Der fehlgesteuerte Aufbau Ost sei eine Zeitbombe für ganz Deutschland, warnt Müller. Und die demographische Entwicklung ist es, die in seinen Augen die Bombe scharf macht.

    "In den letzten 15 Jahren hat Ostdeutschland 1,3 Millionen Menschen verloren, wir wissen, dass bis zum Jahr 2020 der Osten noch mal 1,5 Millionen Menschen verlieren wird. Gleichzeitig altert die Gesellschaft dort auf eine rasante Art und Weise. Das bedeutet gleichzeitig, dass damit auch die Transferabhängigkeit bestehen bleibt. "

    Wohnungen werden abgerissen, Infrastruktur verfällt. In die bevölkerungsarme Oberlausitz sind bereits wieder wilde Tiere zurückgekehrt, die in Europa seit 200 Jahren als ausgestorben galten: Wölfe. Der Exodus lasse den Osten nicht nur ‚versteppen, verblöden und vergreisen’, wie der Regionalforscher Ulf Matthiesen meint.

    "Weil mehr männliche als weibliche Bewohner ihrer Region den Rücken kehren, kommen in manchen Regionen nur 80 junge Frauen auf 100 Männer der gleichen Altersgruppe. Was solche Männergesellschaften, denen vergleichsweise viele schlecht ausgebildete und unterprivilegierte Jugendliche angehören, für die Stabilität der Demokratie bedeuten, ist bisher kaum erforscht. Der Erfolg von NPD und DVU (…) lässt nichts Gutes ahnen. "

    "Supergau Deutsche Einheit": Anders, als der reißerische Titel vermuten lässt, kommt Müllers Analyse sehr sachlich daher. Nur selten klingt eine leise Polemik an. Die Dramatik der Fakten spricht für sich. Mühsam hat der Autor Zahlen zusammengetragen, die nirgendwo zentral erfasst werden. Und er schafft es, sie so beiläufig im Text zu verpacken, dass dieser lesbar bleibt – ja sogar unterhaltsam ist. Ganz nebenbei wird auch deutlich, dass die Bundesregierung sich nach und nach aus der wissenschaftlichen Begleitung und Auswertung des Aufbau Ost verabschiedet hat.

    "Man muss sich das einmal vorstellen. Bei jedem Entwicklungsland besteht die internationale Gemeinschaft darauf, dass Ziele gesucht werden, dass beschrieben wird, wie man Ziele erreichen kann. Beim Aufbau Ost gibt es das überhaupt nicht mehr. "

    Müller hat viel mit Wissenschaftlern, Politikern und Firmenbesitzern geredet, er hat einige Fachliteratur gewälzt und seine Erkenntnisse dann sehr leserfreundlich eingedampft. Keine Schachtelsätze, keine volkswirtschaftlichen Fachtermini: Müller schreibt in bester Journalistentradition für ein breites Fachpublikum, ohne Tiefenschärfe vermissen zu lassen. Und so manche tiefgreifende Erkenntnis kommt bei ihm wunderbar lakonisch daher. Ein Beispiel: In vielen ehemaligen Bruderstaaten der Ex-DDR findet mittlerweile der Aufschwung statt, den Ostdeutschland gerne hätte. Müller verdichtet:

    "Die gute Nachricht lautet: Der Osten holt auf. Die schlechte: Ostdeutschland ist nicht dabei. "

    Von einem, der so viel kritisiert, wüsste man am Ende natürlich gerne, wie man’s besser machen könnte. Kann Ostdeutschland, wie Müller suggeriert, das "neue Irland" werden, also innerhalb zweier Jahrzehnte von Null auf Hundert beschleunigen? Ja, sagt Müller – und empfiehlt unter anderem den irischen Dreiklang: niedrige Steuern, weniger Bürokratie und Lohndisziplin. Will heißen: Gleichwertige Lebensverhältnisse sind erst mal zweitrangig, wichtiger ist, dass im Osten experimentiert werden kann: Mit Sonderwirtschaftszonen, schlanken Genehmigungsverfahren, mit einem flexiblen Kündigungsschutz beispielsweise oder gar echten Steuervorteilen wie in der Schweiz.

    Sozialdemokraten und Gewerkschaften dürften dabei die Haare zu Berge stehen. Müller schickt noch einige Vorschläge hinterher, die noch weniger konsensfähig sein dürften: Er empfiehlt, mit der Axt durch den Subventionsdschungel zu marschieren. Die neuen Länder müssten weg von der Transferdenke, und damit sie nicht unbegrenzt neue Schulden machten, müssten ihre Kredite gedeckelt werden. Und last, but not least: Eine Länderneugliederung ist angesagt, denn so viele Verwaltungen können sich die neuen Bundesländer schlichtweg nicht mehr leisten.

    Harte Maßnahmen – und gerade deshalb wird Müller wahrscheinlich der ungehörte Mahner in der Wüste bleiben. Wer den Osten wirklich zur Chefsache machen wollte, der müsste den Menschen dort auch Unangenehmes zumuten. Das aber ist nicht nur im Vorfeld der nächsten Bundestagswahl unwahrscheinlich.

    Sandra Pfister über Uwe Müller: Supergau Deutsche Einheit. Veröffentlicht bei Rowohlt Berlin, das Buch umfasst 256 Seiten und kostet 12 Euro und 90 Cent.