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Verborgener Grund

Am Neujahrstag 1660 begann der siebenundzwanzigjährige Samuel Pepys ein gigantisches Tagebuch, in dem er 9 Jahre lang seine täglichen Erlebnisse festhielt.

Von Richard Schroetter | 01.09.2004
    Ich selbst bei beständiger guter Gesundheit und in sehr ansehnlicher Stellung und im Aufstieg begriffen,

    ... schmeichelte er sich bereits einige Wochen später. In der Tat: der Sohn eines einfachen Schneiders hatte es dank der Protektion seines Mentors Lord Sandwich weit gebracht: Vom kleinen Angestellten zum Staatssekretär der Royal Navy, der maßgeblich auch die Kriegs-Marine reformierte. Er war ein umfassend gebildeter Mann, der sich für Literatur, Kunst, Musik und die modernen Wissenschaften interessierte. 1684 wurde er Präsident der Royal Society, die er mitbegründet hatte. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn vermachte er dem Magdalen College in Cambridge seine kostbaren Sammlungen: darunter wertvolle Dokumente über das Marinewesen, fünf Bände mit alten englischen Balladen, darüberhinaus viele Musikinstrumente und sein legendäres Tagebuch.

    Dieses geheime Werk ist eine unerschöpfliche Quelle über die Epoche Charles II.; es zeigt aber auch, was für ein durchtriebener Bursche dieser hohe königliche Regierungsbeamte war, dessen hingestreute Notizen man heute weitaus ernster nimmt als die mit Wappen und Siegel versehenen Dokumente jener Zeit. Rätselhaft bleibt bis heute jedoch, warum Pepys überhaupt ein Tagebuch führte - auch für Roger Willemsen, dem Mitherausgeber der neuen bei Eichborn erschienen Pepys-Tagebuchausgabe.

    Es liegt ein Mysterium über der Entstehung dieses Tagebuches. Er hat 10 Jahr lang geschrieben, er hat damit aufgehört, weil man ihm gesagt hat, er schädige sein Augenlicht, und da er eine starke Bindehautentzündung hatte, hatte er Angst, er verliert sein Augenlicht. Also es gibt dieses Tagebuch nur für 10 Jahre. Dann ist es buchstäblich das erste, was es in der Literaturgeschichte gibt. Er hat keine Vorbilder. Wir wissen nicht wirklich, warum er es geführt hat. Und er hat es in einer zeittypischen Kurzschrift geschrieben, teilweise sogar in mehreren Sprachen, da wo es um erotische Stellen ging, und er hat es innerhalb seiner Bibliothek, die 3000 Bände hatte, versteckt, so dass als diese Bibliothek vererbt wurde, nach Cambridge ging, irgendwo 4 Bände in Kalbsleder gebunden mit diesen 10 Jahren Aufzeichnungen über 3000 Seiten sich befanden. Und durch Zufall 100 Jahre später diese 4 Bände herausgezogen werden, dann immer ausschnittartig veröffentlicht werden. Wir können nicht so richtig glauben, dass er jemals daran gedacht hat als dass ein anderes Auge als sein eigenes Blicke auf diese Tagebücher wirft. Denn er wäre sofort ins Gefängnis gewandert, wenn sie veröffentlicht worden wären, denn dafür gibt es zuviel politisch Brisantes darin, er wäre um jede Achtung gebracht worden, weil es dazu zu viel moralisch Anstößiges in dem Tagebuch gibt.

    Das Schöne an Pepys ist, dass er sich nicht als förmlicher Chronist versteht, als offizielle Person, die im öffentlichen Leben steht und sich entsprechend geriert, sondern dass er sich selbst zum Subjekt seiner Betrachtung macht. Dieser Samuel Pepys war auch ein großer Narziß - selbstverliebt auch in seine Schwächen, mit denen er die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Dabei erweist er sich als glänzender Empiriker ganz in der alten englischen Tradition von Bacon und Humet. So scheut er sich nicht, auch seine Intim- und Privatsphäre preiszugeben :

    Der offizielle Pepys wird wunderbar konterkariert durch den privaten Pepys. Der private Pepys kommt von der Beerdigung seiner Mutter und schlägt sich erstmal im Wirtshaus den Bauch voll und befingert danach einer der Bedienungen. Der private Pepys streitet sich mit der Hausangestellten, mit seiner Frau, die auch mal nen Veilchen kriegt zwischendurch, die er aber trotzdem liebt, er geht zu öffentlichen Schauprozessen, er geht ins Museum, er ist theatersüchtig, es gibt kein Lebensbereich, an dem er nicht Anteil nimmt. Der ist moralisch, würden wir mal sagen, zumindest ein schwankendes Individuum, der sich mal Geld zustecken lässt, der mal sich ein bisschen seiner Hausangestellten bemächtigt, der nicht immer ganz ehrlich ist, der ein bisschen opportunistisch ist, und so fort, wie wir alle eben.

    Zu Pepys legendären Ruf gehören auch seine Frauenaffären..

    Was die Frauengeschichten angeht, so wäre dieser Pepys durchaus vergleichbar mit Casanova. Casanova hat in den 40 Jahren, in denen er Tagebuch geschrieben hat, hat ungefähr 120 Frauen gehabt, das macht drei pro Jahr. Das ist nicht besonders dramatisch viel, vor allem wenn man bedenkt, wie viel semiprostituierte Verhältnisse dabei waren. Bei Pepys ist es ähnlich. Der hat Bittsteller, denen er mal unter den Rock fasst. Und er hat Hausmädchen, die irgendwie seiner Pflege befohlen sind und wo er sich dann Übergriffe zu schulden kommen lässt. Das alles wird von der Zeit etwas lässiger gesehen als von uns. Und er hat in dieser Hinsicht vor allem seine Frau gefürchtet, denn seine Frau glaubt bis auf die letzten 50 Seiten, er sei treu. Und dann passiert das, was wir immer erwartet haben, nämlich, er wird endlich erwischt, und er wird so dramatisch erwischt, er hat so einen dramatischen Rückfall, und er wird neuerlich erwischt, und er hat einen zweiten Rückfall. Also die Ehe ist kurz davor zu brechen. Merkwürdigerweise ist in allen früheren Ausgaben dieses wunderbaren Tagebuchs diese Passage komplett raus gelassen worden, obwohl sie zum Dramatischsten gehört, was dieser Mann erlebt hat. Nach Beendigung des Tagebuchs hat er mit seiner Frau eine Reise nach Holland und Frankreich gemacht, und danach ist diese Elisabeth Pepys leider sehr früh verstorben. Und er hat sich nie wieder verheiratet. Aber ich bin ganz sicher, dass er noch viele Affären gehabt hat.

    Der Spaß, den die Pepyslektüre bereitet, beruht allerdings nicht nur auf solchen "pikanten« Geschichten oder der Ansammlung historischer Fakten. Diese zünden erst so richtig dank seiner schriftstellerischen Qulitäten.

    Und dann hat man erst nach und nach, erstens erkannt, dass der in der Betrachtung des Alltagslebens ein ungemein präziser Zeitzeuge ist, und zweitens, dass er durchaus literarische Mittel hatte, die diese Präzision stützten. Also was hätte es uns geholfen, hätten wir einen Teilnehmer gehabt, der nicht präzise geschrieben hätte. Und Pepys schreibt präzise, schreibt häufig unfreiwillig sehr komisch. Und er hat ein großes Vokabular. Er ist außerordentlich interessiert an Schriftlichen; also er besitz eine Bibliothek von am Ende dreitausend Bänden, draus kann man ersehen, er besucht z. B. Shakespeare-Aufführungen, aber er sieht auch viel Quatsch, er sieht auch Soap-Operas, wenn man das auf heutige Verhältnisse übertragen wollte, oder er lässt sich die Schriften von Descartes kommen und so. Also jemand, der in dieser Weise gebildet ist, und der in Bildung etwas so Machtvolles erkennt, das ihm irgendwie wichtig ist, zu manifestieren; der bringt auch ein bestimmtes Talent mit, präzise zu formulieren, und das ist für uns gut, und in sofern hat das Tagebuch einen literarischen Eigenwert. Und ich würde sagen, wenn man sieht, wie viel Belanglosigkeiten Thomas Mann in sein Tagebuch geschrieben hat, der wird bei Pepys, sagen wir mal, mehr beschenkt. Auch Pepys interessiert sich dafür, warum er so starke Darmwinde hat, und hat alle möglichen Theorien wie gefährlich es ist, wenn man so stark furzen muss wie er das tut, aber er macht es nicht mit dieser notorischen Langeweile wie Thomas Mann das macht. Also insofern ist dieses Tagebuch als Geschichte der Irrtümer, oder der Vermutungen oder des Aberglaubens gut lesbar.

    Natürlich stellt sich bei diesem umfangreichen Tagebuch die Frage nach der Auswahl. Noch immer traut sich hierzulande kein Verleger an den ganzen - also 3 tausend Seiten umfassenden - Pepys-Korpus heran. Die beiden Herausgeber Volker Kriegel und Roger Willemsen mußten hier grundlegende Entscheidungen treffen. Volker Kriegel, der Zeichner, Musiker und Autor, der im letzten Jahr plötzlich verstarb, war sich mit Willemsen einig, dem Leser diesmal den "wahrhaftigen" Pepys zu zeigen.

    Uns interessierte beide der musische Pepys, der Alltags-Pepys, der streitende Pepys, uns interessierte etwas weniger als die frühere sozialistische Ausgabe das höfische Leben oder das wirtschaftliche. Uns interessierte mehr das tägliche Leben, das was alltäglich, was gleichzeitig da war. Uns interessierte natürlich die Pest, der Brand Londons, also große historische Ereignisse, aber dieser kleine banale Pepys, also diese kleinen Sachen wie irgendwie die Museumsbesuche, die Theaterbesuche, die Heimlichkeiten, das Gleichzeitige von dem Erhabenen und dem Grotesken, das haben wir wirklich stärker herauspräpariert. Und glaube ich, da war unser separates Interesse ein und dasselbe.

    Die neue Pepysausgabe will nicht so akademisch förmlich auftreten wie die früheren Auswahlbände, keine posthume Klassiker-Ausgabe sein, sondern im Gegenteil, ein Buch für alle, lässig und heiter. So wollte es Volker Kriegel:

    Die Idee war ursprünglich die, dass er den Pepys so ein wenig wie ein Alterego sieht. Vorne hat er noch das Cover gezeichnet, wo der Pepys am Schreibtisch sich umdreht nach dem Leser gewissermaßen, und dass man durch das Schlüsselloch noch sehen kann, wie der Pepys sich nach dem Leser umdreht. Und das stammte von Volker- und es gibt auch noch Zeichnungen innen. Er hatte später vor pro Jahr eine Zeichnung vorzulegen. Jetzt ist es eine geworden und die ganzen Freunde aus der so genannten Frankfurter Schule, als Gernhardt, Wächter, Traxler und Sowa und Heidelbach, die haben also alle zum Teil meisterlich jeweils eine Stelle zu einem Jahr genommen und haben die mit einer Illustration versehen. Und so ist dieses gesamte Buch so eine Art Würdigung und Hommage sowohl für den Pepys wie auch für Volker Kriegel geworden. Und der Geist der Freundschaft, der geht da wirklich ganz durch.

    Das Tagebuch von Pepys ist von singulärer Bedeutung. Hier führt jemad zum ersten Mal ein intimes Tagebuch, ohne sich umzuschauen, wie haben es die anderen gemacht :

    Also es gibt bezeichnenderweise keinen einzigen Vorläufer von Pepys. Insofern entsteht da das Private. Es gibt allenfalls später, und dann würde ich wirklich Casanova nennen noch einmal ein so vollständige Darstellung sämtlicher Lebensbereiche eines Jahrhunderts, in dem Fall des 18. Jahrhunderts, aber das ist Casanova, und der ist sehr viel absichtsvoller, der weiß viel genauer, dass er publiziert werden wird. Aber diese Schlüssellochperspektive, die uns Pepys selber anbietet, für die gibt's buchstäblich kein Beispiel. Und wenn man dann bedenkt, dass man einem wahren Universalisten begegnet, so einem, der eigentlich sagt, der vollständig gebildete Mensch, der muss überall zu Hause sein, der muss am allen teilnehmen, dann ist das ein rarer Glücksfall.. Und ich glaube viel eher, dass sich die nachfolgende Geschichte eher an ihm orientiert, als dass er sich an irgendetwas Schriftlichem zuvor hat orientieren können.

    Samuel Pepys
    Die geheimen Tagebücher
    Eichborn Berlin, 416 S., EUR 29,90