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Verunsicherte Gesellschaft (Teil 1)
Vom schmalen Grat der Terrorberichterstattung

Passiert ein Anschlag, ist das Informationsbedürfnis der Bürger groß. Für Nachrichtenmedien ist diese Situation nicht einfach. Während in den sozialen Netzwerken bereits Videos, Bilder und Gerüchte kursieren, müssten sie sich eigentlich zurückhalten, bis gesicherte Informationen vorliegen. Nicht alle halten sich daran.

Von Anne Raith | 27.12.2016
    Wiedereröffnung des Weihnachtsmarktes am Breitscheidplatz in Berlin am 22.12.2016 nach dem Terroranschlag vom 19.12. mit einem LKW.
    Die aktuelle Berichterstattung über Anschläge ist für Nachrichtenmedien eine Herausforderung. (imago / Gartner)
    Es kursieren bereits Hinweise in den sozialen Netzwerken, als die ersten Eilmeldungen eintreffen. "Auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin ist am Montagabend nach Polizeiangaben vermutlich ein Anschlag mit einem Lastwagen verübt worden", meldet etwa die Deutsche Presse-Agentur. Es wird noch Stunden dauern, bis sich dieser Verdacht bestätigen wird.
    Die Nachrichten, die dieser Eilmeldung folgen, klingen erst einmal vorsichtiger - und ähneln den vielen anderen Meldungen, die in diesem Jahr als "EIL" eingestuft wurden. Mit Ortsmarken überall auf der Welt und ersten spärlichen Informationen. Explosionen in Brüssel, Tote in Nizza, bewaffneter Angreifer in Würzburg. Immer werfen diese Eilmeldungen mehr Fragen auf, als dass sie Antworten liefern. Und immer verlangen sie von den Redaktionen schnelle Entscheidungen.
    "Wir kommen instinktiv alle zusammen", sagt Bettina Schmieding, Chefin vom Dienst beim Deutschlandfunk. In kurzer Zeit versammelten sich die Kollegen auf der Newsfläche, wo die aktuellen Sendungen geplant werden, um gemeinsam die Lage einzuschätzen:
    Gemeinsame Einschätzung der Lage
    "Manchmal hat man das Gespür, daraus wird was, wir müssen gucken, dass wir die Sendestrecken ein bisschen öffnen oder uns zumindest flexibel halten. Manchmal ist es aber einfach nur die harte Faktenlage, wie zum Beispiel nach dem Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin, da war relativ schnell klar, dass es sich um etwas handelt, wovor wir uns seit Monaten fürchten: Der große ‚Breaking News Fall‘, der schlimme Anschlag jetzt auch in Deutschland. Und dann haben wir reagiert, dann haben wir geguckt: Wo können wir reingehen und das Wichtigste: Was haben wir eigentlich zu sagen?"
    Das ist auch das, was beim ZDF den Ausschlag gebe, erklärt der stellvertretende Chefredakteur Elmar Theveßen in seinem Büro in Mainz. Es ist der Nachmittag vor dem Anschlag in Berlin. Am Abend wird er in seiner Funktion als Terrorismus-Experte live im "heute journal" auftreten. Noch weiß er nicht, dass der Alarmplan, über den wir sprechen, in wenigen Stunden zum Einsatz kommen wird. Jener Plan, der dafür sorgen soll, dass in hektischen Situationen jeder genau weiß, was er zu tun hat. Im Zweifel könnten die Kollegen so binnen acht Minuten auf Sendung gehen:
    "Wir haben eine Abstufung aber, dass wir sagen, vielleicht machen wir erst nur ein Laufband, können dann entscheiden, ob wir an der nächsten Bruchstelle mit einer Breaking News ins Programm gehen, das heißt, zwischen zwei Sendungen, oder ob wir mitten rein gehen."
    Diese Entscheidung aber müsse sehr genau abgewogen werden, sagt Theveßen:
    "Es ist das Risiko immer da, das man mit Live-Berichterstattung zur Unruhe und zur Panik beiträgt. Wichtig ist für uns eigentlich der Spruch, den CNN mal geprägt hat: 'Be first but first be right'. Also es bringt uns nichts, wenn wir die Ersten sind, sondern wir müssen einfach sicher sein, dass es stimmt."
    Großes Informationsbedürfnis, unübersichtliche Lage
    Doch so einfach ist das häufig nicht. Auch nicht für CNN, die vergangene Woche zu den ersten gehörten, die live aus Berlin berichten. Denn die Lage nach Terroranschlägen ist immer anders. Sie ist unübersichtlich, oft über Stunden, manchmal über Tage - während das Informationsbedürfnis enorm ist. Zuschauer, Hörer und Nutzer wollen wissen, was geschehen ist. Wer dafür verantwortlich ist und warum es passiert ist. Warum es passieren konnte. Und Journalisten wollen möglichst schnell Antworten liefern, vielleicht einen Scoop landen.
    Georg Mascolo, Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung", am 13.05.2015 während der ARD-Talksendung "Anne Will".
    Georg Mascolo, Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung". (dpa / Karlheinz Schindler)
    Auch Georg Mascolo, Leiter des Rechercheverbunds von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung, wird bei Gelegenheiten wie diesen als Terrorismus-Experte eingeladen. Auch er versucht, schnellstmöglich die Hintergründe zu recherchieren – und mahnt bei der 60-Jahrfeier des Deutschen Presserates im Dezember dieses Jahres dennoch:
    "Dass Nachrichten in dem Moment, wo Dinge geschehen, sofort eingeordnet, bewertet werden, das können Journalisten überhaupt nicht leisten, das ist eine Illusion, was wir da tun. Dass die Nachricht an sich verbreitet wird, gibt es im Grunde seit der Einführung des Telegrafen, daran ist auch nichts schlecht. Aber dass wir ständig simulieren, wir könnten Dinge eigentlich schon einordnen und mit einem Kontext versehen können, all das, was guten Journalismus ausmacht, dass das praktisch in Echtzeit stattfindet, das halte ich für ein echtes Übel."
    Doch genau das ist in diesem Jahr nicht selten geschehen. Da wurde live nach Würzburg geschaltet, ohne dass der Reporter vor Ort mehr Informationen hatte als der Moderator im Studio. Da wurde in Nizza schon von "Terror" berichtet, bevor die Staatsanwaltschaft entsprechende Hinweise lieferte. Da war auch beim Amoklauf in München vorschnell von "Terror" die Rede. Da wurde viele Stunden live gesendet, obwohl die Berichterstattung überwiegend im Konjunktiv stattfinden musste.
    Berichterstattung im Konjunktiv
    Wie schmal der Grat bei der Terrorberichterstattung ist, zeigt auch ein Blick auf die Reaktionen. Sie folgen immer, meist sind sie heftig. Von Hysterie ist die Rede, davon, dass Ängste geschürt würden. Nach dem Amoklauf in München schreibt ein Hörer dem Deutschlandfunk:
    "Man weiß noch nichts – und über Ihren extrem sensiblen Sender werden Dinge verbreitet, die Spekulationen bedienen und Vorverurteilungen schaffen."
    Nach dem Anschlag in Berlin wiederum melden sich Stimmen im Netz, die kritisieren, dass nicht schnell genug berichtet wurde:
    "Vermutlicher Anschlag in Berlin. Wer berichtet? Na zumindest NICHT die Öffentlich-Rechtlichen" - "Ein Armutszeugnis!"
    Bei der Berichterstattung die Balance zu halten, sei schwierig, räumt Bettina Schmieding, Chefin vom Dienst beim Deutschlandfunk, ein:
    "Ich würde eventuell sogar von Dilemma sprechen. In Konkurrenz mit allen anderen klassischen Medien, in Konkurrenz mit den Online-Medien können wir dieses Hase-und-Igel-Rennen eigentlich nicht gewinnen. Ich finde, es ist wichtig, dass man besonnen auf ein Thema guckt und Recherche immer vor Schnelligkeit geht.
    Bei manchen Hörern kommt das so an, dass sie der Meinung sind, dass wir zu lange warten, bei manchen Hörern kommt es so an, dass sie der Meinung sind, dass wir zu schnell reagiert haben, ohne etwas zu sagen zu haben. Aber allen Hörern kann man sagen: Wir machen uns diese Entscheidung nicht leicht."
    Und, ergänzt Schmieding, das habe sie gelernt: Wir müssen diese Entscheidungen noch besser erklären. Denn während in den Redaktionen noch abgewogen und recherchiert wird, werden im Internet längst die ersten Videos und Bilder verbreitet.
    "Hallo, wir sind jetzt hier am Breitscheitplatz, an der Gedächtniskirche, am Weihnachtsmarkt."
    Konkurrenz durch soziale Netzwerke
    Mit den sozialen Netzwerken haben die traditionellen Medien einen einflussreichen Konkurrenten bekommen. Der in Echtzeit berichtet. Immer schneller ist, weil es kaum Instanzen gibt, die das Getwitterte und Gepostete verifizieren. Die ersten umstrittenen Bewegtbilder aus Berlin liefert ein Reporter selbst, der zufällig in der Nähe ist und mit seinem Handy zu filmen beginnt. Der Medienwissenschaftler Bernd Zywietz sagt selbstkritisch:
    "Da sind wir natürlich in einer Umbruchphase, weil die sozialen Medien und die entsprechenden Dienste eine ganz neue und neuartige Rolle spielen. Ich muss ganz persönlich sagen, von den Anschlägen in Paris vor einem Jahr habe ich auch über Twitter mitbekommen und wollte eigentlich schon ins Bett gehen und bin dann drangeblieben und habe mich selber ertappt, dass ich einen Informationshunger hatte, über den ich mich fast ein bisschen geschämt habe."
    Französische Sicherheitskräfte vor der Pariser Konzerthalle Bataclan.
    Französische Sicherheitskräfte vor der Pariser Konzerthalle Bataclan. (picture alliance / dpa / Olivier Corsan)
    Der Medienwissenschaftler ist nicht der einzige, der in Krisensituationen im Netz nach Neuigkeiten sucht. Schnell macht nach Terroranschlägen der erste Hashtag die Runde, Augenzeugen laden Videos hoch, Nutzer teilen Fotos vom Tatort, verbreiten Geschichten und Gerüchte, die für manche zu Fakten werden.
    "Livestream vom OEZ, vom Olympiaeinkaufszentrum in München."
    Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrem Artikel "Timeline der Panik" sehr eindrucksvoll nachgezeichnet, wie aus dem Münchener Amoklauf in den sozialen Netzwerken ein "Terroranschlag mit 67 Zielen" wurde. In knapp 3.000 Tweets fällt in den Abend- und Nachtstunden des 22. Juli das Stichwort "Amok". 58.000 Mal ist von "Terror" die Rede. Die Gerüchte verbreiten sich nicht nur über Twitter und Facebook, sondern auch über Messanger-Dienste wie Whatsapp. Es ist eine moderne Form der "Stillen Post".
    Moderne Form der "Stillen Post"
    Sich nicht von der Dynamik in den Netzwerken treiben zu lassen, ist schwierig. Auf manche Bilder und Videos aus dem Netz sind die Medien außerdem angewiesen – etwa weil ein Augenzeuge zufällig das Tatgeschehen gefilmt hat. Das sind Bilder, die nicht im Nachhinein gedreht werden können, die aber abbilden, was geschehen ist. Auf anderes Material aus dem Netz müsse das ZDF verzichten, sagt der stellvertretende Chefredakteur Elmar Theveßen:
    "Ein Beispiel: Nach dem Anschlag in Ansbach fand man unter dem Hashtag Ansbach unendlich viel bei Twitter, davon war aber 95-98 Prozent einfach nur Müll und auch fremdenfeindliche Hetze. Aber in den wenigen Prozent, die dann übrig sind, fanden sich natürlich schon authentische Augenzeugenberichte – Videos, Fotos vom Tatort und so weiter – die hätte man gerne gehabt und auch genutzt, aber dafür braucht man Personal, das dann weiß, wie kann man Authentizität schnell prüfen, wie kann man an die Urheber kommen, um Genehmigungen einzuholen."
    Die sozialen Netzwerke sind auch für die Sicherheitsbehörden eine Herausforderung. In der Vergangenheit musste die Polizei immer wieder darum bitten, keine Bilder von laufenden Einsätzen zu verbreiten.
    "Gut, meine Damen und Herren, schönen guten Abend, mein Name ist Marcus da Gloria Martins, ich bin Pressesprecher der Polizei München."
    Andererseits profitieren die Behörden von möglichen Augenzeugen und: Sie haben die Möglichkeit, selbst Einfluss auf die Diskussion zu nehmen. Die Münchener Polizei und namentlich ihr Sprecher sollten später viel Lob für das unaufgeregte Krisenmanagement nach dem Amoklauf erhalten.
    Nicht zu Unrecht: Eine Studie zeigt, dass offizielle Stellen Debatten durchaus mitformen und beruhigend wirken können. Kommunikationsforscher Robert Kahr von der Hochschule der Polizei in Münster sagt:
    "Auch innerhalb dieser Kakophonie, die wir im Netz haben, vor allem bei solchen schweren Anschlägen, wo dann die Trends komplett durch die Decke gehen und extrem viel Traffic generiert wird, haben Medien und auch öffentliche Akteure wie die Polizei eine sehr, sehr wesentliche Funktion. Sie sind zwar eine Stimme von vielen in dieser Orchestrierung, aber sie sind wesentliche Multiplikatoren."
    Chance, das journalistische Handwerk zu zeigen
    Statt zu resignieren, sollten Journalisten lieber die Chance ergreifen, die sich ihnen biete, appelliert auch die französische Journalistin Cécile Calla:
    "Diese Konkurrenz und dieser Druck, der von den sozialen Medien ausgeht, ist die Möglichkeit zu zeigen, was ist das Handwerk des Journalisten: Er prüft, er macht eine Selektion, er versucht, Informationen verständlich zu machen, er trifft Entscheidungen, was ist wichtig für das öffentliche Interesse, inwiefern muss man die Privatsphäre schützen und das muss vielmehr ausgesprochen werden."
    Sie nennt ein Beispiel: Die französische Zeitung Le Monde stelle inzwischen bei jedem Anschlag ein Team von Journalisten ab, das sich online darum kümmere, die Fragen der Leser und Nutzer zu beantworten und einzuordnen: Das wissen wir, das ist ein Gerücht, dafür haben wir noch keine offizielle Bestätigung.
    Le Monde Le Monde

Le Monde Le Monde
    Die französische Zeitung "Le Monde" stellt nach jeden Anschlag ein Team ab, das Fragen der Leser beantwortet. (imago stock&people)
    Auch in Frankreich gab es in diesem Jahr wieder massive Kritik an der medialen Berichterstattung, vor allem nach dem Anschlag von Nizza. An den brutalen Bildern, die nicht ausreichend geprüft wurden; daran, dass ein TV-Sender einen Mann neben der Leiche seiner Frau und seines Sohnes interviewt hat; an einem Foto des Attentäters, wie er am Strand posiert und seine Muskeln präsentiert.
    Nicht von Terroristen instrumentalisieren lassen
    Es sind Bilder wie diese, auf die es die Terroristen abgesehen haben. Denn es geht ihnen nicht nur um die Toten am Anschlagsort. Ihr Erfolg misst sich auch in Schlagzeilen und Sendezeit. Die Konkurrenz durch die sozialen Netzwerke ist also nur eine der großen Herausforderungen. Sich nicht von Terroristen instrumentalisieren zu lassen die andere. Medienwissenschaftler Bernd Zywietz:
    "Das problematische Verhältnis zwischen Terrorismus und Medien ist schon lange bekannt, wir kennen ja die ganzen Schlagworte dazu, dass die Medien der Sauerstoff des Terrorismus seien, von einer Symbiose wird gesprochen. Da ist natürlich was dran, denn der moderne Terrorismus ist nicht nur zufällig zeitgleich mit den Massenmedien entstanden, mit der Rotationspresse auf der einen und dem Dynamit auf der anderen Seite, das geht Hand in Hand. Natürlich suchen Terroristen die Öffentlichkeit, ich möchte nicht das direkte Opfer treffen, sondern darüber hinaus eine Art Botschaft senden."
    Und diese Botschaft soll Angst machen und die Gesellschaft destabilisieren. Deswegen nicht über Terroranschläge zu berichten, wie es der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher vorschwebte, um den Terroristen den Sauerstoff zu entziehen, ist natürlich keine Lösung. Das war es damals nicht und das ist es heute erst recht nicht.
    Denn mit den sozialen Netzwerken haben sich die Terroristen quasi ihre eigenen Sauerstoff-Flaschen geschaffen: Sie twittern, posten und streamen an den Massenmedien vorbei, manchmal sogar live vom Ort des Anschlags – wie jener Terrorist, der im Juni dieses Jahres in Paris einen Polizisten und dessen Frau getötet hat. Die Propaganda ist professionell, das Netzwerk groß. Wenn bei Twitter ein Konto gelöscht wird, entstehen schnell zehn neue.
    Und doch haben die traditionellen Medien als Multiplikatoren Einfluss. Und den haben einige in diesem Jahr zu nutzen gewusst. Etwa indem sie die Propagandabilder als solche einstufen und nicht verwenden, dazu zählen auch Bekennervideos. Das ist richtig, findet der Münsteraner Kommunikationswissenschaftler Robert Kahr, wenn man sich auch hier entsprechend erkläre:
    "Man kann durchaus offensiv an die Sache herangehen und einfach ganz klar in Lagen formulieren, wie man sich positioniert. Das heißt, Transparenz dafür herstellen, welche Informationen man publiziert und welche nicht. Zum Beispiel zu sagen, wir posten grundsätzlich nichts, was vom Täter gesendet wurde. In dem Moment sagt man ja auch ganz klar, warum man etwas nicht kommuniziert. Nicht, weil man es dem Leser, dem Zuhörer, der Community vorenthalten will, sondern weil man für sich erkannt hat, aus nachvollziehbaren Gründen, dass es destruktiv ist."
    Opfer leiden oft unter Berichterstattung
    Oft stand in der Vergangenheit der Täter im Mittelpunkt der Berichterstattung. Was einleuchtet, will man wissen, was für ein Mensch das war, der eine solche Tat hat begehen können. Doch für die Opfer war die Art der Berichterstattung oft eine Zumutung. Die US-Amerikanerin Kerry Cahill hat beim Terroranschlag von Fort Hood vor sieben Jahren ihren Vater verloren. Kurz darauf habe sie den Täter auf dem Titel des "Time"-Magazins gesehen. Sie sei fassungslos gewesen, erzählt sie.
    "Welche Geschichte wollt ihr erzählen? Welche Geschichte soll die Leute inspirieren? Wenn ihr den Leuten erzählen wollt, sie sollen richtig unglücklich und wütend sein und das man daran nichts ändern kann….ok! Dann werdet ihr genau das bekommen! Wenn wir den Terrorismus in diesem Land besiegen wollen, müssen wir ihn wie Krebs behandeln. Wir müssen die Überlebenden zeigen und sagen: Sie haben es geschafft. Die Toten und Überlebenden müssen auf die Titelblätter."
    Ermittler stehen neben dem LKW in Nizza, den ein Mann Donnerstag Abend in die Menschenmenge gelenkt hat
    Nach dem Attentat von Nizza entschied die französische Zeitung "Le Monde" auf Fotos von Attentätern zu verzichten. (AFP / Anne-Christine Poujoulat)
    Die französische Tageszeitung Le Monde hat sich nach dem Anschlag von Nizza genau dafür entschieden: Sie hat – das Einverständnis der Angehörigen vorausgesetzt - den Opfern des Terroranschlags eine Porträtserie gewidmet. Um sie in den Vordergrund zu rücken und nicht den Täter.
    Und die Zeitung kündigte damals noch eine Entscheidung an: Sie will in Zukunft ganz auf Fotos der Täter verzichten. Es sei denn, es handelt sich um Fahndungsfotos. Um die Täter nicht zu heroisieren und den Personenkult für mögliche Nachahmer nicht zu befördern. Neben Le Monde haben sich auch der Fernsehsender BFM-TV oder der Radiosender Europe 1 entsprechend erklärt, der auch die Namen der Täter nicht mehr nennen will.
    Doch diese Entscheidung ist umstritten. Weil man sich so selbst zensiere, weil man sich nicht dem Vorwurf aussetzen wolle, Informationen zurückzuhalten, argumentieren Medien, die sich anders entschieden haben. Tatsächlich dauert es nie lange, bis sich nach Anschlägen im Netz Vorwürfe verbreiten, die Medien hielten Informationen zurück. In einem Jahr, das mit der Debatte um die Silvesternacht in Köln begonnen und die Glaubwürdigkeit der Medien nicht gerade befördert hat. In Deutschland plädieren die meisten für Einzelfallentscheidungen.
    "Welche Geschichte wollt Ihr erzählen" diese Frage, die Kerry Cahill aufgeworfen hat, haben sich Zeitungen, Radioredaktionen und TV-Sender in diesem Jahr oft stellen müssen. Und haben aus Geschichten, die sie anders erzählt haben, als sie es im Nachhinein vielleicht hätten tun sollen, gelernt. Nicht aus allen, und nicht in jedem Fall. Drei öffentliche Rügen hat der Deutsche Presserat in seinen Beschwerdeausschuss-Sitzungen Mitte September wegen schwerer Verstöße gegen den Pressekodex ausgesprochen.
    Der Berliner Breitscheidplatz zwei Tage nach dem Anschlag.
    Der Berliner Breitscheidplatz zwei Tage nach dem Anschlag. (pa/dpa/AP/Sohn)
    Auch nach dem Anschlag in Berlin liegt schon eine Reihe von Beschwerden vor – wegen "unangemessen sensationeller Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid" sowie wegen Verstößen gegen das Persönlichkeitsrecht der Opfer. Es gab und gibt jedoch insgesamt nicht mehr zu bemängeln als nach solchen Fällen üblich, heißt es aus Berlin. In die Intensität der Berichterstattung mischt sich der Presserat allerdings nicht ein. Hier hat der Journalist Georg Mascolo bei der 60-Jahr-Feier des Gremiums stellvertretend Bilanz gezogen und appelliert:
    "Für mich steht ganz oben, dass wir uns dieser irrsinnigen Beschleunigungsspirale, der wir uns unterworfen haben, aus der müssen wir raus. Wenn die Welt immer komplizierter wird, dann muss der Journalismus mit der Komplexität der Welt letztlich Schritt halten und dann heißt das, dass eine Berichterstattung im Zweifel zu einer Zurückhaltung und Nachdenklichkeit zurück muss."
    Anne Raith
    Anne Raith, Jahrgang 1981, studierte Romanistik, Anglistik und Neuere Geschichte in Bonn und Aix-en-Provence. Nach ihrem Volontariat beim Deutschlandradio arbeitete sie zunächst als Redakteurin im Zeitfunk, bevor sie 2013 in die Abteilung Hintergrund wechselte, wo sie unter anderem die Sendung "Europa heute" moderiert. Anne Raith ist Arthur F. Burns Fellow.