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Vom Leben und Sterben der großen Romanisten

Hellwarmes Licht noch auf den verstiegensten Seiten, ein Glanz, der den Romanistikstudenten fortzog in die sonnendurchfluteten Regionen Südeuropas. Die Reise dorthin führte über Etymologie und Lautentwicklung, über Racine, Boccaccio und Cervantes. Trotz aller Verschiedenheiten, sinnierte der Erstsemester, bilden die romanischen Länder am Ende doch eine große sprachlich-kulturelle Einheit, in ihrer sanften Anmut unendlich anziehender als die unterkühlten Länder des germanischen Europas.

Kersten Knipp | 16.08.2002
    Der härteste Vorwurf, den man einer wissenschaftlichen Disziplin machen kann, ist wohl der, sie animiere zu eskapistisch-ästhetizistischen Träumereien. Und doch bot die deutschsprachige Romanistik seit ihrer Geburt aus dem Geist der Romantik im frühen 19. Jahrhundert ihren Vertretern Gelegenheit, dem Unbehagen am eigenen Land durch die Anschauung ebenso fremder wie schöner Formen zu entweichen. Zwar immunisierte das Fach keineswegs zwangsläufig gegen nationalistische Aufwallungen, wie schon das Beispiel seines Gründervaters Friedrich Diez zeigt: "Deutsch und gut/oder an den Galgen mit/der Franzosen-Bruth" dichtete der spätere Fachmann für französische Sprachgeschichte anlässlich des Befreiungskrieges gegen Napoleon; und auch der große Romanist Karl Vossler empfahl 1922, noch ganz unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stehend, "doch lieber slawisch [zu] sprechen mit den Slawen, oder meinethalben Esperanto, oder noch besser deutsch, auf keinen Fall und nie wieder aber Französisch."

    Doch derartige Regungen, so Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Buch über Leben und Sterben der großen Romanisten, hielten sich zumindest bei den führenden Vertretern der Zunft in engsten Grenzen, und zwar auch während der großen moralischen Bewährungszeit, der Herrschaft des Nationalsozialismus. Seine Porträts der fünf "großen" Romanisten Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach und Werner Krauss lassen bei aller Verschiedenheit der Charaktere und Lebensläufe zwar nicht auf eine zwingende Verbindung zwischen wissenschaftlicher Größe und moralischem Heldentum schließen. Aber sie zeigen doch, dass die Romanisten erster Klasse eine viel größere Distanz zum Dritten Reich wahrten als ihre Kollegen aus der zweiten Reihe, denen Gumbrechts Freiburger Kollege Frank Rutger Hausmann vor einigen Jahren in einer Aufsehen erregenden Studie nachgegangen ist. Dank ihrer fünf größten Vertreter durfte sich die Romanistik nach dem Krieg ein halbwegs gutes Gewissen bewahren - so dass selbst im unruhigen Jahr 1968, wie Gumbrecht in der autobiographisch gehaltenen Einleitung augenzwinkernd erklärt, "nichts Romanistisches je in den Verdacht geraten konnte, zu einem peinlichen oder gar kompromittierenden Grad deutsch zu sein", weshalb auch - milder Segen dieses wunderbaren Faches - "die Entscheidung für das kulturell Andere (...) unendliche Bestände an erleichtertem Gewissen verschaffte."

    Allerdings: Ihr Interesse am kulturell Anderen mag die großen Romanisten zwar gründlich gegen das nationalsozialistische Weltbild immunisiert haben. Es bewahrte sie aber nicht zwangsläufig davor, "wegzuschauen" - auch wenn ihr Blick in sehr viel entlegenere Zeiten und Regionen reichte als der der meisten Zeitgenossen. "Wie werden wir die Schande des Antisemitismus los?" fragte Karl Vossler zwar öffentlich noch 1930. Aber in den folgenden Jahren verlor er offenbar seine republikanische Zuversicht und zog sich mehr und mehr auf seine Arbeit zurück. Seine 1940 veröffentlichte Studie zur "Poesie der Einsamkeit in Spanien" liest sich passagenweise wie ein hilfloser Kommentar zur eigenen Situation - die Worte über Karl V. etwa, der, Zitat, "tapfer und mutig nur noch aus Verzweiflung, (...) das beste seines ungeheuren Reichtums nur noch in der Phantasie zu realisieren vermochte."

    In vergleichbare Fernen entschwand auch Ernst Robert Curtius, der, nach Jahren engagierter Auseinandersetzung mit den großen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, Begriffe wie "Tradition" und "Wahrheit" schwinden sah. Seit Beginn der 30er Jahre warnte er darum vor den Gefahren von, Zitat, "Ent-Substantialisierung" und "geistiger Haltlosigkeit" und rief, nochmals O-Ton Curtius, zur "lebendigen Bewahrung überzeitlicher Geisteswerte" auf - Werte, die er in den lebensbedrohlichen Jahren nirgends anders als in den Studien zu seiner monumentalem Werk "Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" fand.

    Selbst der jüdischstämmige Leo Spitzer ließ durch sein ästhetisch dominiertes Weltbild wenig vom Elend der nationalsozialistischen Wirklichkeit zu sich dringen. "Wahrscheinlich habe ich selbst mein Unglück noch nicht genügend begriffen", schrieb er 1933, kurz nach dem Verlust seiner Kölner Professur. Aber was zunächst wie ein Bekenntnis völliger Fassungslosigkeit klingt, ist nicht viel anderes als Ausdruck seiner Abneigung, auch die drängendsten politischen Entwicklungen ernsthaft zur Kenntnis zur nehmen. Spitzer, so Gumbrecht, reagierte auf die Wechselfälle der Welt eher mit dem Pathos des Schauspielers als mit dem Ernst des existentiell Betroffenen, er pflegte, so Gumbrecht, ein "Dasein als virtuoso, als Spieler und als ex tempore-Schöpfer, unendlicher Variationen von bereits existierenden Repertoire-Rollen." Für diesmal eben die des politisch Verfolgten.

    Und sogar das politische Engagement des in Ost-Berlin lehrenden Werner Krauss, der 1942 an einer Aktion der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" teilgenommen hatte und dafür die Todesstrafe erhielt, die dank des couragierten Einschreitens mehrerer Kollegen (darunter Vossler und wahrscheinlich auch Curtius) dann aber in eine fünfjährige Haftstrafe umgewandelt wurde, mag im Innersten psychologisch motiviert gewesen sein. Kraus litt an Depression und Schüben von Paranoia, die er, durch ein gewagtes politische Aktionen wie etwa die Widerstandsaktion in Schach zu halten suchte. Die war eigentlich "zu gewagt", wie er während der Haftzeit schrieb, half ihm aber - und wohl gerade darum -, das psychische Gleichgewicht zu bewahren. Zitat: "Was mich gerettet hat, war meine Verfolgung durch die Justiz wegen Hochverrat und die Verurteilung zum Tode."

    Zumindest die hier porträtierten Romanisten, so kann man Gumbrechts detaillierte und stilistisch brillante Studie wohl verstehen, nahmen die Ereignisse der NS-Zeit vornehmlich unter ästhetisch-psychologischen Aspekten zur Kenntnis. Die aufgeladene Atmosphäre jener Jahre wirkte weniger auf ihren unmittelbaren Alltag als den Stil ihrer Werke ein, die, als Zeitdokumente gelesen, eine, so Gumbrecht, "spannungsgeladene Ambivalenz deutscher Intellektueller im Verhältnis zu ihren westlichen und südlichen Nachbarländern" bezeugen. Von der allerdings, so ein spürbar melancholischer Gumbrecht, ist in Zeiten der, Zitat, "sogenannte(n) 'europäische(n) Integration' nicht mehr viel zu spüren - mit der Folge, "dass die große Zeit dieses Faches unwiederbringlich vergangen ist."

    Sicher hat Gumbrecht Recht: Die großen innovativen Schübe sind vorbei, nicht nur in der Romanistik, sondern auch den Philologien. Von noch einer vergleichenden Sonettstudie, noch einer Arbeit über Balzac, Pirandello, García Lorca, ist grundlegend Neues kaum mehr zu erwarten, von sprachgeschichtlichen Studien ganz zu schweigen. Die Romanistik ist eine biedere Wissenschaft geworden. Sie vermittelt gründliche Kenntnisse zur Geschichte Europas und fördert die Integration des Kontinents nach Kräften, wirkt also ungemein segensreich. Innovative Energien wird sie aber schwerlich entfalten. Man mag das bedauern. Aber soll man mit Blick auf das gründlich befriedete Europa sich wirklich nach den alten, aufregenden Zeiten des Fachs zurücksehnen? Das kann niemand wollen.