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Vor 25 Jahren starb Carlo Schmid

Schmid: Nur weil der Tod ist, gibt es Trost zum Leben. Er ist sein Ziel. Nur er kann Hoffnung geben, die wie ein Elixier uns trunken macht und Mut gibt, auszudauern bis zur Nacht.

Von Peter Hölzle | 11.12.2004
    So beginnt Baudelaires berühmtes Gedicht Der Tod der armen Leute. So übersetzte es ein deutscher Politiker, und so rezitiert er es auch. Im Augenblick seines Gedichtvortrags - am 10. Dezember 1947 - ist der Mann stellvertretender Regierungschef und Justizminister des in der Französischen Besatzungszone liegenden Landes Württemberg-Hohenzollern. Er heißt Carlo Schmid, ist Sozialdemokrat, war im Widerstand gegen Hitler aktiv und verfügt auch sonst über Qualitäten, die ihn den französischen Besatzern akzeptabel erscheinen lassen:

    Schmid: ... war meine französische Mutter es, die mir sagte, sie sei der Meinung, dass der Sohn zur Sache des Vaters gehöre, zum Lande des Vaters. ... Aber, sagte sie, wir werden künftig miteinander nur noch französisch reden, denn das ist die Sprache deiner Mutter, deines Mutterlandes.

    1896 im südfranzösischen Perpignan geboren, zuerst in Weil der Stadt, dann in Stuttgart zweisprachig aufgewachsen und von bildungsbeflissenen Eltern, die beide Lehrer waren, getrimmt, bekam der junge Schmid neben gründlichen humanistischen nicht minder gründliche Kenntnisse des Französischen vermittelt. Dieser Hintergrund ermöglichte dem glänzenden Redner, geistreichen Causeur und trittfesten Grenzgänger zwischen deutscher und französischer Geisteswelt, die Härten des drakonisch harten Besatzungsregiments zu mildern und zu begrenzen. Ein deutscher Baudelaire-Übersetzer, der die romanische Kultur buchstäblich mit der Muttermilch eingesogen hatte und sich während des Krieges als deutscher Verwaltungsrat in Lille mit List und Geschick für die nordfranzösische Zivilbevölkerung eingesetzt hatte, verfehlte seine Wirkung bei den Spitzen der französischen Besatzungsmacht nicht. Carlo Schmid erwarb sich freilich auch noch in ganz anderen Gefilden Verdienste.

    Schmid: Ich erinnere mich an die Kontroverse, die ich im Parlamentarischen Rat mit anderen ehrenwerten Männern austragen musste, die verfahren wollten wie in der Weimarer Verfassung: die Grundrechte an den Schluss hängen. Ich sagte: Nein, die gehören an den Anfang hin, damit man sieht, der ganze Rest, der folgt - das Instrumentarium, das Politische - ist um dessentwillen so verfasst, damit wir diese Grundrechtswirklichkeit verwirklichen können in diesem Lande.

    Der homme de lettres war auch ein großer Staatsrechtler. Dass der Grundrechtskatalog heute an der Spitze unserer Verfassung steht, war genauso sein Werk wie dessen Formulierung, die weitgehend seine Handschrift trägt. Warum ihm Platzierung und Formulierung so wichtig waren, begründete er so:

    Schmid: Ich habe Wert darauf gelegt, dass wir davon absehen, Regierungsprogramme als Grundrechte in die Verfassung hineinzuschreiben, wie man das in der Weimarer Verfassung gemacht hat, - das hat keinen Sinn - sondern einklagbare Grundrechte - habe ich erklärt - müssen herein. Man muss vor Gericht gehen können mit dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Ich glaube, das hat sich bewährt ...

    Und wie sich das bewährt hat! Als Schmid kurz vor Weihnachten 1972 mit leisem Stolz diese Feststellung trifft, ist er gerade 76 Jahre alt geworden. Aber in seiner Partei - der SPD - hat er längst nichts mehr zu sagen. Er, der es trotz seiner vielen Begabungen nur zum Bundesratsminister und infolge des Wählervotums nur zum Bundestagsvizepräsident gebracht hatte, muss nun mitansehen, wie nach Willy Brandts glänzendem Wahlsieg seine Parteifreundin Annemarie Renger zur Bundestagspräsidentin gewählt wird, in jenes Amt, in dem er gerne seine politische Laufbahn beendet hätte. Aber nicht einmal das war ihm vergönnt. Dabei hatte er das Zeug zu Größerem. Aus ihm hätte ein Kanzler oder ein Präsident werden können. Was ihm freilich immer fehlte, war der sozialdemokratische Stallgeruch. Das wird schon in seiner Definition des demokratischen Sozialismus deutlich:

    Schmid: Die Welt dahin zu verändern, dass die großen Ideale, die die Ideale unserer klassischen Zeit sind, verwirklicht werden, und auch Werte, die uns das Christentum gelehrt hat, dass man die nicht nur zu deklamieren vermag oder sich daran das Gemüt zu erwärmen vermag, sondern dass man sie in seinem Leben selbst darzustellen vermag.

    Als Schmid am 11. Dezember 1979 stirbt, würdigt ihn ein anderer Sozialdemokrat, der so wenig wie er Stallgeruch hat. Erhard Eppler sagt über seinen Landsmann:

    Eppler: Man hätte aus dem, was Carlo Schmid an Gaben hatte, einen großartigen Rechtslehrer ... machen können, einen großartigen Schriftsteller, einen bedeutenden Philosophen, einen großen Künstler. Das heißt die Fülle, der Reichtum seiner Persönlichkeit war es doch, was die eigentliche Ausstrahlung ausgemacht hat. Allerdings war das, was er an politischer Begabung hatte, dann immer noch groß genug, um drei oder vier Politiker daraus zu schnitzen.