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Warnung vor dem Krieg

Das Thema spielte jahrzehntelang weder in der Öffentlichkeit noch in der Wissenschaft eine Rolle - niemand kümmerte sich um die Gewalterfahrungen heimgekehrter Soldaten nach dem 2. Weltkrieg: Ihre traumatischen Erlebnisse wurden gleichsam beiseite geschoben. Erst jetzt ist ihnen ein Buch gewidmet - und hat einen vermutlich unerwarteten aktuellen Bezug: den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan.

Von Tom Goeller | 14.12.2009
    "Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging. Und als Eintrittsgeld musste er mit seiner Kniescheibe bezahlen."

    Hier ist nicht von einem Bundeswehrsoldaten die Rede, der aus Afghanistan zurückkehrt, sondern so beginnt das berühmteste Nachkriegsdrama "Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert aus dem Jahr 1947. Es erzählt von der Heimkehr des aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Beckmann, dem es nicht mehr gelingt, sich in der Zivilgesellschaft zurechtzufinden.

    Wohl deshalb erwähnt Svenja Goltermann Borcherts Drama gleich zweimal in ihrer Studie über die psychischen Probleme der deutschen Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg. Auch dass "der Beckmann", wie Borchert seinen Protagonisten nennt, aus russischer Kriegsgefangenschaft kommt, ist bezeichnend, denn Goltermann untersucht überwiegend Fälle von Spätheimkehrern aus der Sowjetunion, um auf die psychischen Probleme deutscher Soldaten in der Nachkriegsgesellschaft einzugehen. Goltermann erklärt ihre Auswahl:

    "Die fachwissenschaftliche Debatte in der deutschen Medizin über psychische Leiden war maßgeblich angestoßen durch die zu begutachtenden Leiden der Kriegsgefangenen aus den sowjetischen Lagern."

    Doch wer, außer zögerlich die Fachmedizin, sprach nach 1945 über Kriegstraumata? Öffentlich niemand. Wer hat verschrobene Verhaltensweisen, gelegentliche Schrei- und Tobsuchtsanfälle, übermäßigen Alkoholkonsum oder totale Apathie unserer Eltern und Großeltern in Verbindung gebracht mit deren seelischen Ängsten und Albträumen aus der Kriegszeit? Wer forderte psychologische Betreuung für eine ganze Generation? Niemand. Erst seit 1980 die Amerikaner begannen ihre psychisch gestörten Vietnam-Veteranen psychologisch zu betreuen wurde das Phänomen der "posttraumatischen Belastungsstörung", wie der Fachbegriff heißt, bekannt. In Deutschland allerdings wird er erst seit einem Jahr in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
    Weder heute noch vor sechzig Jahren waren es die Deutschen, die auf die Idee kamen, hunderttausende ihrer Mitbürger könnten kriegsbedingt psychisch gestört sein. Das Wissen um die psychischen Auswirkungen der Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und die Debatte darüber sei erst durch den Druck ausländischer Psychologen zustande gekommen, belegt Goltermann. Erst durch die zahlreichen Wiedergutmachungsansprüche von ausländischen Holocaust-Überlebenden habe sich die deutsche Medizin gezwungen gesehen, auch die Rentenansprüche deutscher psychisch-gestörter Kriegsheimkehrern in den Blick zu nehmen und deren Leiden zu begutachten.

    Goltermann belegt hervorragend, wie sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft versuchte, davor zu drücken, die wahren Zusammenhänge von Gewalterfahrung und Krieg zuzugeben. Sie stützt sich dabei unter anderem auf Zeitungsartikel aus der Zeit, die sich des Themas annehmen.

    "In den Zeitungen fand sich reihenweise das gleiche Credo: Gegen das psychische Leid konnte man sich zur Wehr setzen (...) - den Willen zur Gesundung und zur Arbeit vorausgesetzt. Die Berichterstattung der ersten Nachkriegsjahre war von dieser Annahme geradezu gesättigt. (...) So kamen Russlandheimkehrer zu Wort, die vor dem Hintergrund ihrer Lagererfahrung davor warnten, sich sinken zu lassen und weich zu werden: in ihren Augen steckte dahinter nichts anderes, als die Flucht in die Krankheit anzutreten."

    Dass psychische Leiden von Kriegsheimkehrern nichts weiter seien, als eine Art der Arbeitsverweigerung und Erschleichen von Rentenansprüchen war laut Goltermann sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch unter deutschen Psychiatern eine weit verbreitete Auffassung. Sie half der Gesellschaft, sich mit den eigentlichen Ursachen nicht näher auseinandersetzen zu müssen.
    Bedauerlich ist, dass ein so wichtiges Buch eine Reihe von Schwächen aufweist. Sie sind nicht inhaltlich, sondern konzeptionell: Braucht der herkömmliche Leser wirklich 140 engbedruckte Seiten Quellennachweise? Vor allem aber: Abitur reicht nicht aus, Goltermanns Buch zu verstehen. Sie zitiert nicht nur unnötigerweise vielfach in Englisch, sondern benutzt hemmungslos ihre Wissenschaftssprache, ohne Rücksicht darauf, wer, außer ihren professoralen Fachkollegen, dies verstehen soll. So spricht sie von:

    "Inkommensurabilität in der biographischen Konstruktion, exogenen Belastungen, Selbstperpetuierung des psychiatrischen Ansatzes, ätiologischen Suchbewegungen, vegetativer Symptomatik."

    Ungeachtet dieser typischen Ignoranz deutscher Elfenbeinturm-Wissenschaft bleibt Goltermanns Buch ein wichtiger Baustein für das Gesamtmosaik des Themas. Sie hat es noch nicht ausgereizt, zumal es schwer lesbar ist, aber es ist vorläufig das beste Buch über traumatisierte Soldaten und ihrer Rückkehr in die Zivilgesellschaft.
    Denn 64 Jahre nach Kriegsende waren bereits wieder sage und schreibe 270.000 deutsche Soldaten im "Auslandseinsatz", wie der Krieg auf dem Balkan und in Afghanistan hierzulande von der Bundesregierung vertuschend genannt wird. 126 von ihnen kamen wie Beckmann ohne Kniescheibe, ohne Bein, ohne Arm oder mit zerfetztem Bauch wieder; 1200 von ihnen sind aktuell registrierte traumatisierte Fälle, die medizinisch behandelt werden, Tendenz steigend: rund 230 Neu-Fälle pro Jahr; 82 starben, aber nicht im Krieg, wie der bis vor kurzem amtierende CDU-Verteidigungsminister Jung stets betonte.

    Genau diese Verlogenheit deckt Goltermanns Buch auf. Zwar stellt sie keinen Zusammenhang zur aktuellen Afghanistan-Debatte her. Aber sie warnt zwischen den Zeilen davor, dass die heutige Debatte um die psychischen Auswirkungen von Kriegserfahrungen erneut in die falsche Richtung gehen könnte.

    "In der Nachkriegszeit waren sich weltweit zahlreiche Ärzte und Wissenschaftler einig: Der gesunde Mensch verfüge sogar unter äußersten Belastungen über eine nahezu grenzenlose Fähigkeit, diese psychisch durchzustehen. Unter dieser Prämisse nahmen die Psychiater auch die Kriegsheimkehrer wahr."

    Heute, so belegt Goltermann, erhält diese Ansicht erneut Auftrieb, wohl auch, um wieder Renten- und Versorgungsansprüche von Kriegstraumatisierten abzuweisen. Als namhaftes Beispiel zitiert sie den Psychiater Klaus Dörner:

    "In einer Zeit, in der wir alle mehr als früher die Opfer so sehr lieben, gehört zu unserer ärztlichen Professionalität auch das Wissen, dass wir solche Patienten auch mit zu viel Liebe, zu vielen Rechtsansprüchen und zu viel Mitleid auf ihre Opferrolle fixieren. Wer ein wirklich schweres Schicksal hat, ist in der Regel stark genug, es zu tragen."

    Solche Expertisen wird die Bundesregierung gerne in Anspruch nehmen. Insofern ist dem Buch Svenja Goltermanns eine hohe Auflage zu wünschen.

    Svenja Goltermann: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. DVA, 592 Seiten, Euro 29,95, ISBN 978-3-421-04375-7