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Wem gehört mein Avatar?

Im derzeit Furore machenden Internet-Spiel "Second Life" begegnen sich die Teilnehmer über ihre virtuelle Repräsentationen, die so genannten "Avatare". Und wie im richtigen Leben kann es dabei auch zu Streitigkeiten kommen, wie ein Vorfall jetzt zeigt.

Von Maximilian Schönherr | 20.01.2007
    Eingeladen in das virtuelle Auditorium in Second Life hatte Mitte Dezember der amerikanische Nachrichtendienst CNET. Der Saal war mit einigen Dutzend Avataren anderer Spieler zur Hälfte gefüllt. Die Interviewpartnerin, die auf der Bühne links Platz nahm, ist eine Berühmtheit in der Onlinewelt, ein Avatar namens Anshe Chung, eine sehr attraktive junge Asiatin. Dahinter steckt eine hessische Lehrerin chinesischer Herkunft mit dem Namen Ailin Gräf. Frau Gräf hat mit ihrem Avatar Anshe Chung in den letzten zwei Jahren sehr viel Geld verdient, echtes Geld. Früher mit Eskortdiensten und Sexberatungen, inzwischen vor allem mit Immobilien. Bei Second Life kann man das Spielgeld in harte Dollars umtauschen.

    Das Interview fand als Chat statt, das heißt, es war nichts zu hören. Kaum hatte Interviewer Daniel Terdiman angefangen zu tippen, begann die Störung: Aus der rechten Wand des Saals schwebten rosafarbene Penisse auf Anshe Chung zu, durch sie hindurch und verschwanden hinter der Bühne. Durch die hinteren Scheiben des virtuellen Gebäudes kamen Fotomontagen geflogen, die eine Asiatin zeigten, wie sie einen riesigen Penis umarmt. Der Strom der 3D-Objekte riss nicht ab. Die Veranstaltung wurde nach 15 Minuten abgebrochen. Der Fall hätte kaum Aufsehen erregt, wenn nicht jemand – vermutlich der Störer selbst, der Programmierer der Penisse – das Ereignis mitgeschnitten, mit Musik unterlegt und in das Videoportal YouTube eingestellt hätte:

    Wenig später verschwand das Video wieder, denn die Betreiber von YouTube hatten vom Ehemann Ailin Gräfs, Guntram Gräf, die Aufforderung erhalten, es doch bitte zurückzuziehen. Begründung: Verstoß gegen den Copyright Millenium Act, das vor acht Jahren verabschiedete amerikanische Urheberrecht für neue Medien. Das schnelle Einlenken von YouTube, einer Firma aus dem Google-Imperium, sorgte für heftige Diskussionen. Viele Internetbenutzer hielten die Maßnahme nicht nur für voreilig und humorlos, sondern stellten die Frage danach, welches Urheberrecht hier überhaupt verletzt worden sei: etwa das eines Avatars, einer 3D-Figur? Mitte dieser Woche lenkte Guntram Gräf nun ein. Er erklärte, dass es ihm nicht ums Urheberrecht gehe – das sei ein Versehen gewesen –, sondern darum, seine Frau vor weiteren Diffamierungen und sexuellen Übergriffen zu schützen. Das Video ist inzwischen wieder bei YouTube zu finden.

    Der Frankfurter Anwalt Andreas Lober hält die Rechtslage für kompliziert. Er hat sich spezialisiert auf juristische Probleme an der Schnittstelle zwischen realer und virtueller Welt. Den Avatar von Frau Gräf hält Lober tatsächlich für urheberrechtlich geschützt, denn er ist mit erheblichem Aufwand geschaffen worden. Aber selbst das Abfotografieren des Avatars eines anderen mit anschließender unkommentierter Veröffentlichung sei problematisch, zumindest nach deutschem Recht. Bei uns gilt das Recht am eigenen Bild. Man könne, so Andreas Lober, aber argumentieren, dass Frau Gräfs Avatar eine "relative Person der Zeitgeschichte" sei, also eine Berühmtheit in einem bestimmten Zusammenhang, nämlich des Spiels Second Life, und damit frei abbildbar.

    Das Überfluten der Veranstaltung mit virtuellen Dildos geht nach Lobers Einschätzung in zwei Richtungen: Beleidigung und Satire. Ohne Kommentar, insbesondere ohne Bezugnahme auf die Eskortdienste und Sexberatung, für die Anshe Chung vor ihrem Einstieg in die Immobilienwelt von Second Life bekannt war, sei die Veröffentlichung des Mitschnitts problematisch. Vermutlich würde hier aber letzten Endes Artikel 5 Grundgesetz greifen, die Freiheit der Kunst, worunter auch Satiren wie diese fallen. Auch bei der Sprengung einer öffentlichen Veranstaltung gibt es laut Rechtsanwalt Lober Parallelen zwischen realer und virtueller Welt: Was in der realen Welt unter Hausfriedensbruch falle, sei in Online-Spielen unter Umständen der Verstoß gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Im Fall des Anshe Chung-Interviews durfte der Störer seinen Avatar nicht auf die Bühne steuern, denn das war abgesperrtes Gebiet. Die fliegenden Penisse waren sein Weg, gegen Sexismus und Kapitalismus zu protestieren, sein Hack.