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"Wenn du lügst, dann lüge so nah wie möglich an der Wahrheit"

Es geht mir im Folgenden um die Analyse des literarischen Werks der Schriftstellerin Barbara Honigmann, um die Ethik ihres autobiografischen Schreibens. Es geht mir um Barbara Honigmann, deren Bücher ich schätze, weil sie formal wie inhaltlich mit einer Konsequenz und Unbestechlichkeit auftreten, die man so nicht ein zweites Mal in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur findet.

Von Hajo Steinert | 05.04.2010
    Man kann aus Barbara Honigmanns Büchern sehr viel lernen, ohne das Gelernte in der Aufarbeitung des eigenen bisherigen Lebens unmittelbar anwenden zu können. Ihre Texte sperren sich vor einer leichtfertigen Identifikation mit dem Geschilderten. Die Figuren in Barbara Honigmanns Prosa rücken einem von Buch zu Buch zwar näher, bleiben einem aber auch fremd, was nicht heißt, dass sie einen kalt ließen. Das Fremde kann einen Leser tiefer bewegen als das Vertraute.

    Darin liegt das Irritierende ihres Oeuvres, ja, eine Provokation. Für atheistische, katholische oder protestantische Leser ist es eine Herausforderung, eine Irritation, vielleicht sogar eine Zumutung, von Buch zu Buch mitzuerleben, wie hier eine Autorin um ihre jüdische Identität ringt. Sie selbst würde sagen, wie hier jemand darum ringt, dass ihr Judentum als eine aus der persönlichen Geschichte heraus selbstverständliche religiöse Identität endlich akzeptiert und nicht dauernd hinterfragt wird.

    Barbara Honigmann ist eine Tochter von jüdischen Emigranten, aufgewachsen in der DDR, noch vor dem Fall der Mauer ins Exil nach Frankreich gegangen und lebt dort - entfernt vom komfortablen deutschen Literaturbetrieb und seinen Zirkeln - als praktizierende Jüdin. Da Barbara Honigmann den Stoff für ihre Bücher aus ihren nur von einem vergleichsweise geringen Teil der Bevölkerung geteilten Lebenserfahrungen schöpft, bemühen sich die Interpreten, Vita und Literatur nebeneinanderzustellen und darüber hinaus in Einklang zu bringen, wenn nicht sogar miteinander zu verschmelzen.

    Manche Interpreten machen es sich mit Barbara Honigmann allerdings geradezu leicht, ihre Seiten zu füllen. Die Grenze zur Leichtfertigkeit ist dabei fließend. Dass Barbara Honigmann über autobiografische Voraussetzungen ihres literarischen Werks frank und frei Auskunft gibt, hängt durchaus mit ihrem außerhalb Deutschlands liegenden Lebensmittelpunkt zusammen. Sie nimmt nicht an den täglichen Ritualen des literarischen Betriebs in Deutschland so selbstverständlich teil wie Kolleginnen, die in Berlin leben und schreiben und jederzeit einsatzbereit sind.

    "Mal aus der Isolation des Künstlerdaseins herauskommen", sagt sie selbst. Wäre ihr vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnetes Werk nicht erhaben über die Reduzierung ihrer Prosa auf das Selbsterlebte – man könnte der Annahme verfallen, das Feuilleton verteile in Anbetracht eines nicht gewöhnlichen, abenteuerlich, bisweilen exotisch anmutenden Lebenslaufes einen biografischen Bonus.

    Aber gibt es wirklich einen Honigmann-Biografie-Bonus? Verhindert der Respekt vor der Einzigartigkeit ihrer persönlichen Geschichte eine unvoreingenommene literaturkritische Beschäftigung mit ihrem Werk? Die Frage kommt einem zumindest in den Sinn, zumal nach dem Erscheinen eines neuen Buchs der Autorin das deutsche Feuilleton von seltener Einigkeit zeugt bei der literaturkritischen Bewertung.
    Nach dem Erscheinen ihrer 2004 erschienenen Prosa "Ein Kapitel aus meinem Leben" – die Gattungsbezeichnung "Roman" wird von der Autorin ganz bewusst nicht gewählt – gab es von der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" bis zur "Neuen Zürcher Zeitung", von den "Nürnberger Nachrichten" bis zur "Süddeutschen Zeitung", von der Wochenzeitung "Die Zeit" bis zum "Spiegel", von der "Tageszeitung" bis zur "Stuttgarter Zeitung", von der "Thüringischen Landeszeitung" bis zum "Focus" einhelliges Lob.

    Ich zögere im Widerspruch zur zurückhaltenden Entscheidung der Autorin, ihrem Buch keine Gattungsbezeichnung zu geben, nicht damit, "Ein Kapitel aus meinem Leben" Roman zu nennen. Denn was hier passiert, zeugt von einer vielgestaltigen Erzählstruktur, von parallel laufenden und auf einander zulaufenden Motivsträngen, von einer über das individuelle Erleben hinausgehenden zeithistorischen Relevanz, kurz: von einer Weltoffenheit, die unabhängig vom autobiografischen Gewicht des Erzählten eine traditionelle Gattungsbezeichnung verdient. Eine Frage allerdings wird immer wieder gestellt: wann sie denn einmal einen Roman schreibt, der nicht mit ihrer Familie, mit Emigration, mit der Suche nach einer jüdischen Identität, mit dem Jüdischsein, mit Erinnerungen und deutscher Geschichte zu tun hat. In ihrem "Selbstporträt als Jüdin" wehrt sie sich gegen Zudringlichkeiten:

    "Obwohl ich selbst das Jüdische thematisiere und auf meinem jüdischen Leben insistiere, bin ich schockiert, wenn man mich darauf anspricht, empfinde es als Indiskretion, Aggression, spüre die Unmöglichkeit, in Deutschland über die 'jüdischen Dinge' unbelastet, unverkrampft zu sprechen. Ich reagiere gereizt, die Reaktionen auf beiden Seiten scheinen mir überstark und jedes Wort, jede Geste falsch."

    Pflichtbewusst und politisch korrekt wird in den Feuilletons auf die jüdische Herkunft der Tochter deutscher Emigranten stets hingewiesen und bekannte Einzelheiten aus ihrem Lebenslauf werden angeführt, um sich nicht dem Verdacht des Verschweigens auszusetzen.

    Verschweigen: Das will, das darf sich das deutsche Feuilleton nicht erlauben. Barbara Honigmanns Eltern überlebten zu einer Zeit, da die Mutter noch mit einem anderen, ihrem zweiten Mann verheiratet war, den Nationalsozialismus im britischen Exil. Als überzeugte Antifaschisten – den jüdischen Glauben hatten sie zu dieser Zeit gegen eine kommunistische Weltanschauung längst ausgewechselt – kamen die Honigmanns in Ost-Berlin 1947 an, brachten hier 1949 ihre Tochter Barbara auf die Welt.

    Jeder, der sich demnächst an ein neues Buch von Barbara Honigmann setzt, weiß seit Erscheinen von "Ein Kapitel aus meinem Leben" schon vor der Lektüre, dass die Autorin, die da einem von sich und anderen erzählen wird, die Tochter einer Frau ist, die in der Zeit des Nationalsozialismus mit einem berühmten englischen Doppelagenten und Meisterspion im Dienste des KGB verheiratet war, Tochter einer Mutter mit ungarischen Wurzeln aus Wien, Tochter eines Vaters, der, vom Kommunismus überzeugt, als Journalist im englischen Exil und danach auch in der DDR arbeitete.

    Barbara Honigmann studierte an der Humboldt-Universität Theaterwissenschaften, arbeitete in der Provinz als Regisseurin, verließ, weil sie in diesem Land ihre sich entwickelnde und immer fester werdende jüdische Identität nicht frei ausleben konnte, die DDR. Darüber erzählt sie seit dem Erscheinen ihres ersten Buches, der 1986 erschienenen Prosasammlung "Roman von einem Kinde", dem Briefroman "Alles, alles Liebe" (2000) und dem 1991 erschienenen Roman "Eine Liebe aus nichts".

    Steht das Wissen um biografische Schlüsseldaten im Leben der Autorin einer unbefangenen Lektüre im Wege? Oder ist es, andersherum gefragt, gerade das Wissen um die Persönlichkeit prägenden Lebensdaten, das einem den Kopf frei hält für einzig und allein literarische, also nicht biografische Fragen an einen vorliegenden Text? – Beides wäre möglich.

    Wie kam es dazu, dass sie sich, je älter sie wird, je weiter sie sich geografisch wie mental von Deutschland und vom Deutschsein distanziert, immer stärker zu ihren jüdischen Wurzeln bekennt? Wie kam es dazu, dass sie selbst, längst Mutter von zwei Kindern, nach dem Umzug von Berlin nach Straßburg 1984 in Frankreich ihrerseits Wurzeln schlägt, indem sie sich in der jüdischen Gemeinde zunehmend engagiert und intensiv dem Studium des Talmud hingibt? Das bis heute jüngste gedruckte Gespräch mit ihr findet sich in einem Interview-Buch mit dem bezeichnenden Titel: "Gott lebt wieder. Gespräche zum Glauben im 21. Jahrhundert." Darin heißt es:

    "Wenn es in mir ein religiöses Zentrum geben sollte, dann ist es die Erlösungssehnsucht. Wie die in mich hineingekommen ist, weiß ich nicht genau."

    Dieses nicht-genau-wissen ist der Antrieb ihrer literarischen Arbeit. Sie geht auf Spurensuche, betreibt Selbsterkundung, was bei Barbara Honigmann vor allem heißt: Sie fängt an zu erzählen. Erzählen und Berichten sind bei ihr sehr miteinander verwandt.

    Die Art und Weise, wie sich Barbara Honigmann in Büchern, Vorlesungen und Interviews zum autobiografischen Impuls ihrer literarischen Arbeit bekennt, verführt den einen oder anderen Interpreten allerdings zu einer seltsamen Art von Bequemlichkeit. Man richtet sich, unabhängig vom psychologischen, existenziellen, zeithistorischen und politischen Gewicht, das Barbara Honigmanns Prosa innewohnt, in diesen Büchern ein und wird in seiner Bequemlichkeit der literarischen Anstrengung der Autorin, der harten Arbeit am Text, nicht in gebührendem Maße gerecht.

    Angesichts der Verführbarkeit der Literaturkritik beim Umgang mit autobiografischer Prosa zu Nacherzählung, Gefühligkeit und zu anderen Arten der Simplifizierung ist es nur zu verständlich, wenn sich die Autorin genervt zeigt. In ihrer 2006 in Druckform erschienenen ersten Zürcher Vorlesung "Über autobiografisches Schreiben" mit dem kämpferischen Titel "Wenn mir Leute vorwerfen, dass ich zu viel von mir spreche, so werfe ich ihnen vor, dass sie überhaupt nicht über sich selber nachdenken" bezieht sich Barbara Honigmann nicht nur auf ihre Vordenker einer Poetik des Autobiografischen, auf Montaigne und Stendhal, nicht nur auf Albert Cohen, dessen 1971 erschienene Prosa "Das Buch meiner Mutter" von großem Einfluss auf ihr eigenes war, sondern auch auf jene Zeitgenossen, die ihre, Barbara Honigmanns Bücher auf einen autobiografischen Kern zusammenschmelzen:

    "Immer wieder die gleichen biografischen Fragen beantworten, die ich schon tausendmal beantwortet habe und die mich langweilen. Ja, ich bin Jüdin, Deutsche, komme aus der DDR, lebe jetzt in Frankreich. Ob ich mich jetzt in Straßburg zu Hause fühle, weiß ich nicht, ob ich orthodox bin, bezweifle ich. Jedenfalls nicht, wie Sie sich das vorstellen. Nie fragt mich jemand nach einer Textstelle, warum steht sie so da, warum dieser Ausdruck an jener Stelle, warum gerade dieser und kein anderer und warum hier und nicht woanders. Darüber würde ich gerne sprechen ( ... ) Ich möchte gerne in meiner Eigenart des Schreibens und nicht in meiner Eigenart des Lebens wahrgenommen werden ( ... ) Alle Menschen haben eigenartige Lebensgeschichten. Es kommt aber darauf an, sie im Schreiben zu verändern."

    Womit wir beim springenden Punkt angelangt wären. Dieses "im Schreiben verändern", mit anderen Worten, der Versuchung, beim Verfassen eines Kapitels der eigenen Lebensgeschichte in die Fiktion zu gehen – das ist das große unterschwellige Thema, die große Versuchung in ihrem Roman "Ein Kapitel aus meinem Leben." Barbara Honigmann setzt hier um, was sie in ihrer 2002 gehaltenen, 2006 in ihrem Essayband "Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum" gedruckten Vorlesung theoretisch vorwegnahm:

    "Jeder, der schreibt, entfernt sich von der erlebten, gedachten und gefühlten Wirklichkeit, von der er berichtet, trennt Teile davon aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus, setzt sie neu zusammen, um sie zum Gegenstand seiner Betrachtungen zu machen; und bei diesen Betrachtungen muss er als zusätzliche Schwierigkeit eine mehrdimensionale Wirklichkeit noch auf lineares Erzählen reduzieren. Denn noch das dekonstruierteste, perspektivreichste, experimentellste Werk kann nicht anders als ein Wort nach dem anderen setzen. Hinter all diesen Bemühungen steht der Wunsch nach Gestalten, nach ordnen der vielfachen Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien des eigenen und fremden Lebens, einer Art Eingreifen in die Wirklichkeit also, nach Weltveränderung, wenn man so will."

    Es ist in "Ein Kapitel aus meinem Leben" nicht das erste Mal, dass Barbara Honigmann von ihrer Mutter, Lizzy Honigmann, geborene Kohlmann, erzählt. Sie tat dies schon in der Porträtskizze "Der Untergang von Wien", gedruckt in dem 1999 erschienenen Buch "Damals, dann und danach." Entscheidende Lebensstationen, Begegnungen und wesentliche Charaktereigenschaften der Mutter werden hier schon erzählt:

    die ungarische Herkunft, die Wiener Jahre, Ausflüge in die Berge, ihre Geselligkeit, ihr Schweigen, die Emigration, die Jahre in Paris, die große Liebe zu Pieter, Ehejahre in London, die Abkehr vom Judentum, die Hinwendung zum kommunistischen Widerstand, der neue Mann, die Nachkriegszeit im Osten Berlins, die Freunde, die letzte Begegnung mit der Mutter in Wien kurz vor ihrem Tod 1991, die Ortung der Grabstelle auf dem jüdischen Friedhof. Eine Frau voller innerer und nach außen getragener Widersprüche. Eine Getriebene im Wechselspiel der Melancholie:

    "Deine Mutter ist ein Mensch, den man wirklich nur schwer verstehen kann", sagte mein Vater manchmal zu mir. "Entweder ist sie viel naiver oder viel gerissener als die meisten Menschen. Entweder sie redet zu viel oder sie verschweigt alles, sie schäumt vor Temperament über oder sie fällt apathisch in sich zusammen, entweder bleibt sie die ganze Nacht wach, oder sie geht um neun Uhr ins Bett, sie begnügt sich mit dem Allernötigsten und schmeißt gleichzeitig das Geld zum Fenster raus, sie verschenkt und beschenkt ohne Maß, aber etwas von sich preisgeben, das konnte sie nie."

    Die Herausforderung beim Schreiben des Romans bestand für die Autorin darin, das perspektivreiche, widersprüchliche, paradoxe, ambivalente und durchaus chaotische, von der Mutter selbst wie eine Fiktion gestaltete Leben biografisch so weit zu ordnen, dass die Autorin sowohl dem Lebensdurcheinander der Mutter als auch dem eigenen literarischen Anspruch, nichts Erfundenes dazu zu setzen, gerecht wird.

    In der Gerechtigkeit, die sie ihrer abwechslungsreichen, aber strengen Form des Erzählens widerfahren lässt, gründet die Ethik ihres autobiografischen Schreibens. Die Erzählerin wandelt auf einem schmalen Grad. Zwei Gebote gab die Mutter ihr vor dem Tod auf den Lebensweg:

    "Erstens, du sollst nicht lügen, zweitens, aber wenn du lügst, dann lüge so nah wie möglich an der Wahrheit."
    Als die Mutter dies sagte, dachte sie nicht nur an sich und an ein, ja das bis dahin verschwiegene Kapitel in ihrem Leben - zwölf Ehejahre mit dem weltberühmten Doppelagenten Kim Philby - , sondern auch an die Tochter, die diese Gebote als Credo ihrer literarischen Arbeit aufnimmt und verinnerlicht.

    Um das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren und ihr dabei Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hat Barbara Honigmann keine Recherchen jenseits des Sortierens eines schwach bestückten brieflichen und fotografischen Nachlasses der Mutter benutzt. Die Basis ihres biografischen und somit autobiografischen Schreibens liegt in den eigenen Erinnerungen an die Person, die in den Mittelpunkt gestellt wird. Recherchen in Archiven, das Befragen von Zeitzeugen und dergleichen mehr hätten das Bild der Mutter verwässert. Solche Nachforschungen hätten etwas von einem Nachspionieren, einem Aneignen und Spiel mit dem fremden Leben.

    Einzig in den Erinnerungen der Tochter an die Mutter liegt die Chance der Authentizität des Porträts. Eigene Erinnerungen mögen nicht immer genau sein, sie sind aber unbestechlich. Je chaotischer sich das Leben der anderen ausnimmt, je undurchsichtiger es erscheint, umso strenger gestaltet sich die Form von Barbara Honigmanns Ästhetik der autobiografischen Erinnerung, umso strenger, lakonischer, unbestechlicher wird auch die Sprache ihrer Ich-Erzählerin.

    Eine paradoxe Angelegenheit: Die launenhafte, faszinierende, schöne, dominante, kleinlaute, großspurige, mal melancholisch verschwiegene, mal drauf los plappernde, mal in Einsamkeit erstarrende, mal in Geselligkeiten aufblühende, ihre Herkunft verschweigende, ihre Herkunft beschwörende Mutter liebt es, aus ihrer Person eine fiktive Gestalt zu machen, aus ihrem Leben eine Fiktion.

    Ständig wechselt sie ihre Vornamen, ihre Haarfarbe, ihre Männer, am Ende waren es immerhin drei Ehegatten - alle zum Vergessen. Sie fälscht das genaue Datum ihres Geburtstages. Sie hält es mit der eigenen Biografie nicht genau. Eigentlich eine postmoderne Existenz. Das genaue Gegenteil ihrer Tochter. Die will nichts vergessen, verbergen, verdrehen, verschweigen, verklären, sie will aufdecken, verstehen, mitteilen, aufklären. Die Mutter meidet die Öffentlichkeit, die Tochter sucht sie.

    Verkehrte Welt. Erzählen als ein Vexierspiel. Die Erzählerin benennt Geheimnisse, die ihre Mutter zeit ihres Lebens mit sich herumtrug (wohlgemerkt: eine Ehe mit einem Spion!), füllt die Lücken aber nicht mit Erfindungen aus, schützt sich somit vor Verklärung und Geschichtsklitterung. Andere Autoren hätten das - vorausgesetzt, sie haben den Stoff - liebend gerne getan: die Geschichte weiter spinnen, hinzu erfinden, alles ein wenig spektakulärer gestalten.

    So bleiben Rätsel zurück, vielleicht nur bis zum nächsten Buch, vielleicht für immer. Warum etwa stellte der sowjetische Geheimdienst Lizzy Honigmann nicht zur Rede, nachdem der KGB ihren Mann als Doppelagent enttarnte? War am Ende auch sie eine Geheimagentin? War das der wahre Grund für ihre Verschwiegenheit, ihr Spiel auf doppeltem Boden? Die Tochter Barbara Honigmann arbeitet nicht auf doppeltem Boden, sie neigt nicht zu Verschwiegenheit. Sie schreibt. Es gibt noch viel aus ihrem Leben zu erfahren, neue Kapitel "aus meinem Leben". Wir warten auf ihren nächsten Roman. Sei er biografisch, autobiografisch oder tatsächlich mal das Ergebnis reiner Fiktion. Ein Agententhriller wird es sicher nicht sein.

    Auswahlbibliografie Barbara Honigmann (alle erschienen im Hanser Verlag):

    Das überirdische Licht. Rückkehr nach New York. Hanser Verlag
    Ein Kapitel aus meinem Leben. München 2004
    Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. München 2006
    Alles, alles Liebe. München 2000
    Damals, dann und danach. 1999
    Roman von einem Kinde. München 1986
    Eine Liebe aus nichts. München 1991

    Weiterführende Literatur:

    Christian Döring: Gott lebt wieder. Gespräche zum Glauben
    im 21. Jahrhundert. München 2008 (Knesebeck)