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Wissenschaftler diskutieren
Der Islam in der Einwanderungsgesellschaft

"Die Idee eines islamischen Staates ist nicht theologisch begründbar, sondern ein absurdes politisches Konstrukt". Es waren durchaus brisante Thesen zur Rolle des Islam in der westlichen Welt, über die auf einem internationalen Symposion in Berlin diskutiert wurde. Der Deutschlandfunk war für Sie dabei.

Von Thomas Klatt | 16.10.2014
    Für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft brauche es vor allem ein gegenseitiges Verständnis der jeweiligen Religion, sagt die Berliner Kulturwissenschaftlerin Angelika Neuwirth. Der Koran sei mehr als einfach nur eine Heilige Schrift.
    "Nun ist der Koran auch noch etwas anderes, nämlich tanzil oder munazul, herabgesandt, hier ist das Wort Gottes, im Judentum die Tora, im Christentum nur Christus vergleichbar. Der tansil, der transzendente Charakter macht die Koranlesung zu einer sinnlichen Vergegenwärtigung des Transzendenten, des Sakralen in der Welt. Koranlesung ist daher mit der Eucharistiefeier im Christentum und mit dem synagogalen Umgang mit der Torarolle im Schabattgottesdienst verglichen worden."
    Der Koran und seine Entstehungszeit
    Vor allem müsse der Koran im christlichen und jüdischen Kontext seiner Entstehungszeit des 7. Jahrhundert gelesen werden.
    "Er kann von Haus aus kein eindeutig fester Text sein, da er in einer Zeit und in einem Kulturraum entstanden ist, in dem die beiden anderen Religionen bereits eine ausdifferenzierte Interpretationskultur entwickelt hatten. An ihrem Vorbild musste sich die Korangemeinde orientieren. Besonders eindrucksvoll war dabei das jüdische Modell der vielen Gesichter der Tora, es gibt die Vorstellung von 70 Gesichtern der Tora, das heißt von unendlich vielen Möglichkeiten, Textstellen zu interpretieren."
    Das bedeute aber nun nicht, dass sich jeder Muslim wie eben auch jeder Islamkritiker einfach nach Gutdünken irgendwelche Suren herauspicken und sie willkürlich auslegen dürfe. Es drohe sonst ein Verlust der islamischen Wissenskultur.
    "Nehmen wir den prekären Vers der Freigabe der körperlichen Bestrafung von Ehefrauen durch den Ehemann als Beispiel. Sure 4,34, Die Männer stehen für die Frauen ein, weil Gott ihnen die Vorzüge vor den anderen gewährte, auch weil sie etwas von ihrem Vermögen aufgewandt haben. Diejenigen Frauen, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet, die ermahnt, meidet ihr Lager und schlägt sie. Wenn sie wieder zum Gehorsam zurückkehren, unternimmt nichts weiter gegen sie."
    Der historisch-kritische Kontext
    Daraus nun im 21. Jahrhundert ein Recht auf Züchtigung abzuleiten, widerspreche jeder aufgeklärten und sachgemäßen Interpretation. Richtig könne der Koran nur verstanden werden, wenn er in seinem historisch-kritischen Kontext gelesen werde. Und das gelte auch für alle liberaleren Betrachtungsweisen.
    "Statt in der Rechtsliteratur nachzusehen, presst man seitens feministischer Exegetinnen Wunschbedeutungen in den Koran hinein. Das Wort darawa Schlagen bedeute gar nicht Schlagen, sondern nur Zurechtweisen. Es ist klar, dass eine solche willkürliche Deutung wenig Überzeugungskraft hat und von Gegnern der Frauengleichstellung als Manipulation abgetan wird. Der Ausweg kann nicht liegen in der Verbiegung der arabischen Sprache, sondern nur in der historischen Lektüre. Nur die Einordnung des Koran in die Wertewelt seiner Zeit mit Kapitalstrafen für unbotmäßige Ehefrauen, Tötung, nichts ganz ungewöhnliches waren, hilft zu verstehen, dass der Vers gewiss keiner Verschärfung, sondern eher Milderung der Lage der Frau das Wort redete, woraus nur eine substantielle Aufwertung der Frau zu lesen ist, da ja vor Gott mit dem Mann gleich ist, kann den Mehrwert zu Tage fördern, der im Koran ein reformatorischer ist."
    Ein im Kern deutungsoffener Glauben
    Damit ist und bleibt der Koran für Neuwirth interpretationsoffen. Ein Gläubiger, der nur eine Auslegungsweise als richtig ansieht, habe im Grunde den Wesensgehalt des Islam nicht verstanden. Daher sei eine aufgeklärte religiöse Bildung ein Schlüssel für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft. So wie jeder Bürger die Rechte aber eben auch Pflichten eines Staatsbürgers besitzt, so habe jeder Gläubige die Chance, seinen Glauben zum Wohle seiner Familie wie eben auch der Gesellschaft einzusetzen, sagt der aus dem Sudan stammende und heute in Atlanta lehrende Rechtsgelehrte Abdullahi Ahmed An-Na'im.
    "Es geht nicht um die Glorifizierung einer muslimischen Vergangenheit. Muslimsein bedeutet, religiöse Ressourcen bewusst für die Wahl der eigenen Autonomie zu nutzen, das Finden der eigenen Individualität in der eigenen Tradition. Und für einen europäischen Muslim bedeutet das eben: ich habe mein Zuhause in einem säkularen Staat."
    "Idee eines islamischen Staates theologisch nicht begründbar"
    Die Idee eines islamischen Staates sei deshalb nicht theologisch begründbar, sondern ein absurdes politisches Konstrukt, meint Na'im. Nur weil in einem Land mehrheitlich Muslime wohnten, werde es nicht automatisch zu einem islamischen Staat, meint auch der Erlanger Islamwissenschaftler Matthias Rohe.
    "Es geht um die ethische Seite des Glaubens, die man hier stark machen kann. Es geht darum, einen Islam zu lehren und zu leben, der anders als in anderen Teilen der Welt keinen Machtanspruch erhebt. Wir haben da übrigens ein reiches europäisches Erbe, das wir noch heben können. Ein Kollege aus Sarajewo hat mir berichtet von einem Sprichwort, das man lange Zeit schon in Bosnien wohl gepflegt hat, Bosnien hat eine lange Kultur mit säkularen Staatsformen mit einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung: die Gerechtigkeit ist der Glaube eines Staates und Ungerechtigkeit ist ein Unglaube."
    Deutschland integriert den Islam
    Daher sei zumindest Deutschland auf einem guten Weg den Islam in die Gesellschaft einzubinden, sagt Rohe. Er nennt etwa die neuen islamisch-theologischen Lehrstühle an deutschen Universitäten und die Ausbildung von deutschen Imamen und muslimischen Religionslehrern. Es bleiben allerdings die Vorbehalte in der europäischen Mehrheitsbevölkerung – nicht unbedingt gegenüber den Muslimen im eigenen Land und in der eigenen Stadt, sondern gegenüber "dem Islam" als Bedrohung des Weltfriedens. Solche Ängste sollte man auch gar nicht integrationspolitisch wegschweigen oder herunterdiskutieren, meint der Dilwar Hussain Islamwissenschaftler und Politikberater aus London.
    "Ich denke, dass es wichtig ist unsere Frustrationen über den Islam offen auf den Tisch zu packen und darüber in der Gesellschaft zu diskutieren. Auch ich bin angesichts der aktuellen Entwicklungen ängstlich. Das ist eine Herausforderung, die uns alle angeht."
    Denn zu den Opfern der religiösen Extremisten etwa im Irak und in Syrien zählen Muslime genauso wie Christen und Vertreter anderer Glaubensrichtungen. Wenn man sich also bewusst mache, dass die allermeisten Bürger unabhängig von der Glaubenszugehörigkeit einfach nur in Ruhe miteinander leben wollen, sei schon eine Grundlage für ein gutes Miteinander geschaffen.