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Zahl der "Ehrenmorde" in der Türkei höher als angenommen

Zwischen dem Anspruch, ein säkularer, demokratischer Rechtsstaat zu sein und der Wirklichkeit täglicher Menschenrechtsverletzungen liegen in der Türkei Welten: Eine Untersuchung der Regierung in Ankara belegt, dass Ehrenmorde an jungen Frauen viel verbreiteter sind, als bisher angenommen.

Von Gunnar Köhne | 27.02.2007
    Vor dem Hauseingang patrouilliert ein Wachmann, die Fenster sind vergittert und dahinter liegen Schlafsäle mit Doppellstockbetten. Kleinkinder turnen auf den Matratzen herum, ihre Mütter unterhalten sich gedämpft. Sie kamen auf der Flucht vor ihren Ehemännern und Vätern hierher. 40 Frauen leben derzeit im Frauenhaus des Istanbuler Stadtteils Kadiköy - eine Notunterkunft, der Bedarf übersteigt das Angebot.

    Eine 20jährige, nennen wir sie Ayse, sitzt allein in einer Ecke des Raumes. Sie kam erst vor vier Wochen aus einem Dorf an der iranischen Grenze hierher. Sie versteckt sich nicht nur vor ihrem Mann, sondern vor ihrer ganzen Familie.

    "Mein Vater verkaufte erst das Vieh und dann mich für umgerechnet 3000 Euro an einen viel älteren Mann. Der schlug mich fast vom ersten Tag an und ließ mich nicht aus dem Haus. Als ich meinem Vater sagte, dass ich mich scheiden lassen wollte, schlug der mich mit einem Schlauch grün und blau. Zuhause bekam ich Prügel von meinem Mann. Am nächsten Morgen nahm ich ein Taxi und schlug mich mit meinen Ersparnissen irgendwie bis nach Istanbul durch."

    Mit Mut und Glück konnte Ayse ihr Leben retten - vorübergehend zumindest. Nach Angaben der türkischen Familienministerin Nimet Cubukcu wurden in den vergangenen sechs Jahren 1800 Frauen Opfer so genannter "Ehrenmorde" - das ist fast jeden Tag ein Mord.

    Bislang gingen Experten immer von etwa 70 getöteten Frauen im Jahr aus. Nicht eingerechnet in den neuen erschreckenden Zahlen sind die rund 900 Selbstmorde von Frauen - viele von ihnen wurden wahrscheinlich von männlichen Familienangehörigen in den Freitod getrieben.

    Die Opposition in Ankara spricht von einer "beängstigenden Situation". Zwar hat die Regierung - unter großem Druck der Europäischen Union und der Vereinten Nationen - der häuslichen Gewalt den Kampf angesagt. Doch Aufklärungskampagnen und verschärfte Strafen für die Täter - und neuerdings auch für die Anstifter - haben bislang keine nachhaltige Wirkung gezeigt.

    Die Behörden sehen in den vielen Ehrenmorden vor allem ein Armuts- und Bildungsproblem - und eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Umbruch in der Türkei. Die stellvertretende Bürgermeisterin von Istanbul-Kadiköy, Inci Bespinar, die das dortige Frauenhaus ins Leben gerufen hat:

    "Die Frauen, die in unser Frauenhaus kommen, haben keine Ausbildung, haben oft nicht einmal die Schule besucht und stammen aus Familien, die kaum genug Geld zum Leben haben. Wir beobachten eine Zunahme der häuslichen Gewalt in den Großstädten: Das hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass die Zugewanderten aus Anatolien mit dem modernen Leben der Großstadt nicht zurechtkommen. Mit ihren Gewohnheiten aus den Dörfern erleiden sie hier Schiffbruch. Den "unschicklichen" Lebenswandel der anderen, den sie bisher nur aus dem Fernsehen kannten, begegnet ihnen nun in der Wirklichkeit."

    Türkische Frauenorganisationen jedoch warnen davor, häusliche Gewalt nur den armen, ungebildeten Anatoliern anzulasten. Überhaupt halten sie von dem verharmlosenden Begriff "Ehrenmord" sehr wenig. Wenn jemand seine Ehefrau aus Eifersucht totschlägt - ist das auch ein Ehrenmord?, fragt Gülsen Kanat vom Istanbuler Frauenrechtsverein "Lila Dach":

    "Wenn Sie nur diejenigen Frauen nehmen, die nach einem Familienurteil wegen Ehrverletzung getötet werden, dann stimmt die Zahl von einem Opfer pro Tag vielleicht. Aber wenn sie die vielen anderen Formen der Gewalt in der Familie berücksichtigen, erscheint mir diese Zahl zu niedrig."

    Der Verein Lila Dach organisiert neuerdings sogar Frauenrechtsseminare für Beamte und Bürgermeister. Doch solche Maßnahmen scheinen machtlos zu sein gegen die erschreckende gesellschaftliche Akzeptanz, die Verbrechen an Frauen in manchen Teilen der Türkei immer noch haben. Eine Untersuchung der Vereinten Nationen in der südosttürkischen Provinz Urfa ergab, dass rund 30 Prozent der Männer und immerhin 27 Prozent der Frauen Morde aus verletzter Ehre für gerechtfertigt halten.

    Auch der 20-jährigen Ayse wollte niemand aus der Verwandtschaft helfen auf ihrer Flucht vor Vater und Ehemann. Nun, im Schutz des Istanbuler Frauenhauses, wagt die junge Frau vorsichtig Pläne für ihre Zukunft zu machen. Sie würde gerne einen Schulabschluss nachholen - doch dafür müsste der Lehrer ins Frauenhaus kommen. Draußen ist es ihr zu gefährlich.

    "Ich weiß, dass mein Vater nur darauf wartet, dass mein Bruder vom Militärdienst nach Hause kommt. Dann wird er ihn mit meinem Tod beauftragen."