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Zukunftsmusik im Prachtgewand

Eine perfekt gestaltete Bühnenlandschaft, ein erstklassiges Solistenensemble und ein vitaler Chor: Pierre Audis "Guillaume Tell"-Inszenierung an der Oper von Amsterdam hat alles, was ein echt Schweizer Wilhelm braucht. Doch Audis Deutung von Gioacchino Rossinis Oper bleibt dabei letztlich zu nah an der Dekorationsoper.

Von Christoph Schmitz | 29.01.2013
    In Pierre Audis "Guillaume Tell"-Inszenierung gibt es alles, was ein echt Schweizer Wilhelm braucht: zerklüftete Berggipfel, glasklare Seen, Wasserfälle, gefährliche Schluchten von kühnen Holzbrücken überspannt, idyllische Holzhütten, Almkühe, Schafe und Hirsche. Wobei die Tiere kopfunter in der Luft hängen, von den Behausungen steht nur das Fachwerk, Felsbrocken stecken in der Brücke, die später zum Schiff auf stürmischem Vierwaldstädter See mutiert.

    Abstrahierte, leicht ins Traumatische verschobene Alpenpracht. So wie die Soldaten der Habsburger Besatzungsmacht Armbrüste und Kettenhemden tragen, zugleich aber auch nazimäßig schwarze Ledermäntel. Eine perfekt gestaltete Bühnenlandschaft, geläutertes Ausstattungstheater, das den Zuschauer mit drastischen Schmerzeffekten weitestgehend verschont. Man soll sich seinen Teil denken. Audi will Rossini nicht hineinreden.

    Die Oper selbst soll sprechen, die Musik gewissermaßen zu Wort kommen, die zeitlose Sehnsucht des Menschen nach Freiheit, sein Kampf für Gerechtigkeit, sein Ringen um Selbstverwirklichung. Der Amsterdamer Opernchef hat dafür ein Solistenensemble zusammengestellt, das von der kleinsten Nebenrolle bis zu den tragenden Figuren nicht besser hätte besetzt werden können. Wie die die lettische Sopranistin Marina Rebeka als habsburgische Prinzessin Mathilde.

    Samtig-glänzend und warm, wohlgeformt, raumgreifend und koloratursicher ist diese Stimme.
    Ganz in der Tradition der französischen Grand Opéra, für die Rossini 1829 in Paris sein Meisterstück abliefern wollte, hat der Chor im "Guillaume Tell" eine Hauptrolle. Republikanisch korrekt sind Volkes Stimme und Stimmung Motor des historischen Geschehens. Der Chor der niederländischen Oper präsentiert sie wuchtig und vital und überflutet immer wieder die Bühne, als hätte er bei Fritz Langs Arbeiterheer in "Metropolis" gelernt.

    Doch so gekonnt der Chor agiert, so bildmächtig durchgestaltet die Bühne in jedem Moment wirkt, so genau die Choreografien von Chor und Solisten in jeder Sekunde miteinander verzahnt sind – es bleibt eine gewisse Distanz, eine Skepsis, ein Argwohn. Vielleicht weil alles zu perfekt wirkt, die Regiekontrolle total ist, zu viel stilisiert und auf theatralische Bewegungsstereotypen zurückgegriffen wird. Audi bleibt letztlich zu nah an der Dekorationsoper. Als "Wirkung ohne Ursache" hatte das Wagner in Bezug auf seinen Erzfeind Giacomo Meyerbeer bezeichnet. Mit Altkanzler Gerhard Schröder könnte man auch sagen: zu viel "Gedöns". Vermutlich das passende Konzept für die MET in New York, die diesen Rossini mitproduziert hat und die kulinarische Oper liebt.

    Mit "Gedöns" aber ist diesem "Guillaume Tell" nicht beizukommen, auch nicht mit interpretatorischer Enthaltsamkeit. Der dramatisch betrachtet extrem schwerfällige "Tell" braucht eine politische, gesellschaftskritische, ironische oder wie auch immer geartete starke Hand, die ihm Beine macht und ihn das Tanzen lehrt. So wie der Tenor des Amerikaners John Osborn tänzerische Qualitäten hat. Seine Stimme ist so biegsam, schlank, strahlend und bis zum Schluss höhensicher und kräftig, wenn er den Arnold Melcthal singt, dass man meint, er könnte direkt wieder von vorn beginnen.

    Paolo Carignani zieht als Dirigent die Strippen bei diesem musikalischen Großunternehmen. Feinen Sinn fürs Subtile hat er, lässt es mal farbig leuchten und mal kräftig Krachen, wenn es sein muss. Und er zeigt uns vor allem Rossini als einen, der mit dem wundersamen Klangwolkenfinale seiner letzten von 39 Opern weit in die Zukunft der Musik beinahe prophetisch vorausweist - um im Alter von nur 37 Jahren als Opernkomponist für immer zu verstummen. Fast vier Jahrzehnte sollte er noch leben. Sein "Tell"-Finale so wie hier zu hören, ist schon Amsterdamer Verdienst genug.