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"Zuletzt gesehen in Ostpreußen..."

Vor 50 Jahren – am 18. Oktober 1953 - legte der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes einen Zwischenbericht über den Stand der Suche nach deutschen Kriegsgefangenen vor. 1 272 896 Soldaten galten acht Jahre nach Kriegsende noch als vermisst. Das heißt, Millionen von Eltern, Ehefrauen, Kindern, Geschwistern, Freunden hofften auf Nachrichten – oder fürchteten die Meldung vom Tode der Gesuchten.

von Renate Faerber-Husemann | 18.10.2003
    "Mit großer Sicherheit”, so der Suchdienst in dem Bericht vor 50 Jahren, "sind 71 Prozent der Vermissten gefallen.” Von rund 120 000 Soldaten wusste man schon damals, dass sie in sowjetischer Gefangenschaft waren, nur mit weniger als 20 000 hatte das Rote Kreuz zu diesem Zeitpunkt Kontakt aufnehmen können. Der zwingende Schluss in dem Bericht: "Man muss von weiteren Todesfällen ausgehen.”

    Monat für Monat kehrten auch schon vor der legendären Moskaureise Konrad Adenauers im Oktober 1955 Kriegsgefangene aus der Sowjetunion zurück. Ihre erste Station auf deutschem Boden war das Lager Friedland, wo der Bundeskanzler drei Monate nach Veröffentlichung des Rotkreuz-Berichtes 1000 Soldaten und Offizieren begrüßte, fast alle in Russland zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und später begnadigt. Darunter auch ein Vater und sein Sohn. Die beiden waren sich als Gefangene ganz zufällig begegnet:

    Wo haben Sie sich denn getroffen?
    In Stalingrad vor drei Jahren.
    Da waren Sie drei Jahre zusammen?
    Ja.
    Und wann geht es nach Hause?
    Heute Nachmittag hoffentlich.
    Sie können einigermaßen gehen mit dem Stock?
    Jawohl, ich kann wieder gehen.
    Wo gehen Sie jetzt hin?
    Ich habe keine Heimat.

    Viele der Heimkehrer mussten mit Krankenwagen in ihre Heimatorte gefahren werden. Fast alle litten an Eiweißmangel-Krankheiten, Lungenentzündungen, allgemeiner körperlicher Schwäche durch die Hungerjahre und an Störungen, die "Heimkehrersituations-Krankheit” genannt und von den Lagerärzten in Friedland mit seelischen Erregungszuständen umschrieben wurden. Dass die Heimkehrer und ihre Familienangehörigen rasch zusammen kamen, war vor allem dem Suchdienst des Roten Kreuzes zu verdanken.

    Eine gigantische Kartei war schon 1945 aufgebaut worden. 60 Millionen Karteikarten mit den Namen von schätzungsweise 27 Millionen Menschen lagern heute noch beim Suchdienst in München und in der Berliner Außenstelle. Registriert sind Suchende und Gesuchte, Kriegsgefangene und Zivilinternierte, nach Kriegsende Verschleppte, aus politischen Gründen Inhaftierte, gefallene Soldaten und in Lagern gestorbene Menschen, Kinder, die während der Flucht und Vertreibung verloren gingen, Flüchtlinge, Vertriebene, Fremdenlegionäre und viele andere Gruppen.

    Zig Millionen Menschen irrten nach Kriegsende durch das in vier Sektoren geteilte Deutschland, immer wieder gezwungen, ihren Wohnort zu ändern auf der Suche nach Arbeit oder einer menschenwürdigen Behausung. Oft ließ sich ihre Spur nur über den Suchdienst verfolgen, wo Angehörige jede Adressenänderung hinterließen. Nach neun Jahren traf dieser Soldat in Friedland Frau und Tochter wieder – gerechnet hatte er mit einem Wiedersehen in Deutschland nicht mehr:

    Zum Tode verurteilt, zu 25 Jahren Arbeitsbesserungslager begnadigt.

    Sein Schicksal gleicht dem vieler anderer, die in den Berichten des Suchdienstes auftauchen:

    Ich wurde 39 Soldat, machte Anfang 39 meine Übung und rückte dann im November 39 ein und habe den Frankreichfeldzug mitgemacht und Russland und wurde dann im August 41 verwundet. Bin dann aber weiter im Osten tätig gewesen. Über Rumänien ging es dann per Schiff über das Schwarze Meer nach dem Kaukasus und von dort ging es dann wieder nördlich über Stalingrad rauf in den Raum von Pensa. Man hat sich so durchgeschlängelt und man muss sich wundern, dass man heute noch auf den Beinen steht.

    Im Herbst 1955 reiste der Bundeskanzler nach Moskau, um - wie man damals hoffte – die letzten Kriegsgefangenen heim zu holen. Adenauer auf dem Flughafen Köln-Bonn :

    Ich bin im Begriff, nach Moskau zu fliegen. Ich gehe nach Moskau mit dem festen Vorsatz, alles zu tun was in unseren Kräften steht, um dem Frieden in der Welt zu nützen. Um die Einheit unseres Vaterlandes wieder herzustellen und um zu erreichen, dass unsere Kriegsgefangenen zurückkehren.

    Mit der "Einheit des Vaterlandes" dauerte es dann doch noch bis 1990. Dennoch galt Adenauers Reise als Erfolg, denn 9628 gefangene Soldaten wurden freigelassen obwohl die Russen betonten, bei den Häftlingen handle es sich um verurteilte Mörder und Kriegsverbrecher. Der Preis war hoch. Mitten im Kalten Krieg musste der konservative Kanzler die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den Kommunisten akzeptieren. Während einer Pressekonferenz in Moskau nach Abschluss der Verhandlungen zeigte sich Adenauer dennoch zufrieden, denn er hatte erreicht, was die Deutschen mehr interessierte als außenpolitische Finessen. Die Männer durften heimkehren.

    Sie werden zum Teil begnadigt werden von den Sowjets und dann nach Deutschland in Freiheit gesetzt und sie werden, soweit die Sowjet-Regierung glaubt, dass dort Verbrechen begangen wurden wirklich schlimmer Art, werden sie den deutschen Behörden in der Bundesrepublik übergeben, damit die Bundesregierung nach den Gesetzen unseres Landes mit ihnen verfährt. Ich glaube, meine Damen und Herren, dass sehr viel Leid und sehr viel Kummer und Schmerz gerade dadurch gelindert werden wird. Nicht nur bei den fast 10 000 Menschen hier in der Sowjetunion, sondern bei den zahlreichen Angehörigen in der Heimat. Wir haben erreicht, dass wir diese Kriegsgefangenen sofort zurückbekommen und wir dürfen mit Bestimmtheit annehmen, dass die anderen hierhin gebrachten Personen, die bei Kriegsende hingebracht wurden, auch zurückkommen.

    Doch das dauerte teilweise noch Jahrzehnte. Und Kriegsgefangene wie Zivilinternierte, die in den gefürchteten geheimen Lagern des Geheimdienstes NKWD festgehalten wurden – und deren Existenz lange geleugnet wurde – blieben spurlos verschwunden. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bekam der Suchdienst Zugang zu Archivlisten mit einer Dreiviertel Million Namen. Klaus Mittermeier, seit 1986 Chef des Suchdienstes:

    Der Zugang zu den russischen Archivunterlagen ermöglicht uns in einer großen Zahl von Fällen, das konkrete Schicksal zu klären. Das Schicksal von Verschollenen. Das sind Menschen, die in sowjetischen Lagern gestorben sind und über die wir nun wissen, in welchem Lager das passiert ist und zu welchem Zeitpunkt.

    Im Winter 1945 hatte die Suchdienstarbeit eher zufällig begonnen. Heimgekehrte Soldaten sammelten Namen von Kameraden, die ihre Angehörigen suchten und von Angehörigen, die auf ein Lebenszeichen von ihrem vermissten Sohn, Bruder, Mann oder Vater hofften. Manche dieser regionalen Gruppen hatten zunächst nichts als eine alte Schreibmaschine und zusammengebetteltes Papier. Viel erreichen konnten sie als Einzelkämpfer nicht. Reisen war kaum möglich, die Telefone funktionierten nicht. Das halbe Land schien zu Fuß unterwegs zu sein. Die Menschen vegetierten in den Kellern von ausgebombten Häusern, nächtigten in Notunterkünften oder auf Bahnhöfen, hatten keine feste Adresse.

    Noch in den letzten Kriegswochen bündelte das Rote Kreuz die Arbeit, die zum großen Teil von ehrenamtlich tätigen Frauen geleistet wurde. Manfred Blum, einst Leiter des Suchdienstes, erinnert an diese Zeit, und die heute unvorstellbaren Schwierigkeiten, die zu überwinden waren:

    Das war 1945 im April, als große Bevölkerungsströme sich von Osten in Richtung Westen bewegten, weil zum einen die Personen, die damals hier im Westen wohnten, evakuiert waren wegen der Fliegerangriffe, dann im Osten lebten und anschließend von der Roten Armee mit dem deutschen Bevölkerungsteil, der im Osten lebte, gegen Westen zog. Sie wurden zum Teil überrollt, zurückgeholt und hier war praktisch gegen Ende des Krieges das totale Chaos. Und hier hat der Suchdienst des Roten Kreuzes damals in Flensburg seine Arbeit aufgenommen und konnte innerhalb weniger Jahre rund 14 Millionen Menschen ausfindig machen, zusammenführen. Das kann man sich gar nicht vorstellen, dass praktisch jeder 4. Bürger gesucht wurde oder selbst suchte, praktisch in jeder Familie ein Vermisster war.

    Wann immer ein Heimkehrertransport auf einem Bahnhof ankam, drängten sich dort Frauen, die ungelenke Papptafeln hochhielten und auf Auskünfte hofften. An Häuserruinen klebten Zettel mit Informationen über neue Adressen. Wo immer ein Treffpunkt für Menschen war, wurde nach Vermissten gefragt.

    Besonders herzzerreißend war die Suche nach verloren gegangenen Kindern. Viele dieser Mädchen und Jungen kannten nicht einmal ihre Namen, wussten nicht, woher sie kamen, waren auf den Flüchtlingstrecks, wenn sie im Chaos ihre Müttern verloren hatten, von barmherzigen Menschen mitgenommen und in einem Waisenhaus abgeliefert worden. Auf jeder Behörde, in jedem Postamt hingen bald Plakate mit Kinderfotos. Alle Radiosender strahlten Suchmeldungen aus, in den Wochenschauen der Kinos wurden diese jüngsten Opfer des Krieges vorgestellt:

    Von diesem zweijährigen Mädchen kennen wir nicht einmal den Namen. Auch dieser Junge ist namenlos und wurde auf dem Bahnhof in Frankfurt/Oder gefunden. Werner, drei Jahre alt, ebenfalls in Frankfurt/Oder aufgegriffen. Wolfgang, 5 Jahre alt, gefunden im Wald bei Neubrandenburg, Mecklenburg mit seinem vierjährigen Bruder. Man fand ihn mit geöffneten Pulsadern.

    Im Bonner "Haus der Geschichte” ist die Arbeit des Suchdienstes dokumentiert. Wer will, kann dort in die Nachkriegszeit eintauchen, etwa Zusammenschnitte von Filmen des Kindersuchdienstes sehen. 300 000 Karteikarten mit Angaben über "Suchende” und "Gesuchte” sind dort in einer Vitrine ausgestellt. Und jede Karte steht für ein Schicksal wie zum Beispiel dieses:

    Ende Mai 1945 übergab die Mutter den zwei Wochen alten Säugling auf der Flucht einer Frau Klein. Die Mutter wurde gefangen genommen und nach dem Osten in ein Lager transportiert. Nach ihrer Entlassung kam die Mutter nach Österreich und hat dort geheiratet. Sie sucht jetzt das Kind.

    Wie aber sucht man ein Kind, das als Säugling oder Kleinkind verloren ging? In Zeitungen und auf Plakaten listete das Rote Kreuz auf, welche Hinweise hilfreich sein konnten:

    Wie sind die Ohren? Groß, klein, anliegend, abstehend, kantig, mit angewachsenen oder nicht angewachsenen Ohrläppchen? Sind Ohrringlöcher vorhanden? Hat es einen breiten oder schmalen Mund, volle oder schmale Lippen? Wie ist die Zahnstellung? Sind Zahnlücken da und seit wann? Hat das Kind lange, schmale Hände und Füße oder kurze, gedrungene Gliedmaßen?

    Jede Einzelheit half den Detektiven am Schreibtisch. Besonders erfolgreich aber waren die Suchmeldungen im Radio und im Kino. Ohne sie wären wahrscheinlich zigtausende von Schicksalen ungeklärt geblieben:

    Heinz wurde mit seinen Geschwistern von russischen Soldaten in Müncheberg gefunden und in ein Heim gebracht. Der 4jährige Dieter, Nachname unbekannt, hat die Eltern auf der Flucht verloren. Hans-Dieter, ebenfalls ohne Familiennamen, vermutlich im Mai 1942 geboren. Joachim, vor einem Jahr in der Berliner Brunnenstraße in einem Pappkarton gefunden.

    300 000 einzelne Tragödien waren das und es wirkt heute wie ein Wunder, dass sich in den allermeisten Fällen Eltern und Kinder wieder fanden. 1952 beim Kindersuchdienst in Hamburg: Auf die Frage, ob all die auf den Plakaten abgebildeten Kinder noch ihre Eltern suchten, antwortete der dortige Leiter dankbar:

    Nein, Gott sei Dank nicht mehr alle. Sie sehen ja auf diesen Plakaten die vielen roten Stempel mit dem Text "Angehörige ermittelt".

    Je mehr Zeit verstrich, desto häufiger verlief alle Detektivarbeit im Sande. Bis Ende 1997 strahlte der NDR als letzte Rundfunkanstalt vor den 6-Uhr-Nachrichten noch Suchmeldungen aus:

    Hören Sie jetzt bitte Namen von Kindern, die im Krieg verschollen sind und von ihren Angehörigen immer noch gesucht werden.

    Als der Eiserne Vorhang durchlässiger wurde, als zum Beispiel in den achtziger Jahren viele Aussiedler aus der Sowjetunion nach Deutschland zurückkehren durften, konnte der Suchdienst des Roten Kreuzes viele Akten schließen. Manfred Blum 1985:

    Die Anfragen stammen vornehmlich von Aussiedlern, die zum ersten Male im Radio hören, wer gesucht wird. Sie erkennen darin möglicherweise ihre Angehörigen oder stellen fest, dass sie selbst gesucht werden, melden sich und auf diese Weise lassen sich Schicksale klären, wie gesagt, im letzten Jahr mehr als 25 000.

    Die Klientel hat sich verändert in den letzten Jahren. Da werden Zeugen gesucht, etwa zur Klärung von Renten- oder Erbansprüchen. Oder Männer und Frauen besinnen sich im Alter auf Menschen, denen sie einst in schweren Zeiten sehr nahe waren und die sie aus den Augen verloren haben. Eine Mitarbeiterin beim Suchdienst in München:

    Es sind Kriegskameraden, die sich suchen. Es sind frühere Freunde, Nachbarn, die sich aus den Augen verloren haben. Es sind Eltern-Kind-Beziehungen, die sich aus irgendwelchen Gründen, sei es, dass die Eltern sich haben scheiden lassen oder sonst irgendwelche familiären Ereignisse, die getrennt worden sind voneinander und die sich jetzt, wo sie älter werden, dann suchen.

    Die Erfahrungen des DRK-Suchdienstes, der im Laufe der Jahrzehnte über 14 Millionen Kriegsschicksale klären konnte, werden inzwischen weltweit genutzt. Manfred Blum:

    Es sind eine Reihe von Verfahren entwickelt worden, die beispielhaft für die Suchdienstarbeit in der ganzen Welt sind. Das Internationale Rote Kreuz in Genf mit seinem weltweiten Suchdienst orientiert sich an unseren Methoden. Das DRK hat zum Beispiel auch einen Suchdienst in Südostasien zugunsten der Boatpeople aus Vietnam eingerichtet.

    Das Elend der ganzen Welt landet auf den Schreibtischen der Suchdienstmitarbeiter. Jede Krise, jeder Krieg irgendwo auf dem Globus ist heute nahe, weil die Menschen als Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten durch die Kontinente ziehen. So sorgt sich ein in Köln lebender Flüchtling aus Sierra Leone um seine Familie, von der er nichts mehr hört und ein irakischer Student in Berlin weiß nicht, was aus seinen Leuten in Bagdad geworden ist.

    Wir haben ja viele Somalier hier in Deutschland. Man wundert sich immer, wie viele Ausländer bei uns in Deutschland leben aus den verschiedensten Ecken. Ruanda zum Beispiel, Burundi. Als die Krise dort losging, haben wir gedacht, Ruanda, Burundi, na ja, es wird ja wohl kaum jemanden aus diesem Land in Deutschland geben. Aber es gibt so viele Verbindungen, Geschäftsverbindungen, religiöser Art, also Missionare waren tätig, dann die Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit...

    Und bis heute beschäftigen ungeklärte Schicksale aus dem zweiten Weltkrieg das Rote Kreuz. Im Jahre 2001 schrieb ein 96jähriger Vater an den Suchdienst:

    Wie ich aus den Medien erfuhr, hat das Russische Rote Kreuz Einsicht in die Archive freigegeben. Diese Maßnahme gibt mir die Hoffnung, durch Sie näheres über meinen vermissten Sohn zu erfahren. Die letzte Post erhielt ich 1942 aus dem Kessel von Stalingrad. Ich wüsste gern, wo er seine letzte Ruhe fand. Bitte antworten Sie bald!

    Noch viele Jahre wird sich der Suchdienst vermutlich mit dem zweiten Weltkrieg und seinen Folgen befassen müssen. Klaus Mittermeier hat in dem Buch "Vermisst wird..." geschrieben:

    Nach dem bisherigen Stand der Arbeiten ist davon auszugehen, dass mindestens 650 000 Deutsche in den Lagern im Osten den Tod fanden. Man muss damit rechnen, dass vermutlich 30 Prozent der noch offenen Kriegsverschollenen-Schicksale zu klären sein werden. Die Mehrzahl wird wohl für immer offen bleiben. Die letzten Lebensstationen diese Menschen lassen sich nicht rekonstruieren, weil sich ihre Spur spätestens auf dem Weg in die Gefangenschaft verlor. Die meisten der 90 000 Überlebenden der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 beispielsweise waren verwundet oder ausgehungert. Viele suchten in Erdbunkern, Baracken und zerstörten Fabrikhallen vergeblich Schutz vor der eisigen Kälte. Von 50 000 bis 60 000 Gefangenen, die in das Sammellager Beketovka, 50 Kilometer von Stalingrad entfernt, gebracht worden waren, starben 42 000 an Seuchen und Unterernährung – namenlos.

    Doch der Satz "Die Hoffnung stirbt zuletzt" gilt bis heute für die Arbeit des DRK-Suchdienstes. Immer noch gibt es Menschen, die jene jungen Männer nie vergessen haben, von denen sie seit mehr als sechzig Jahren keine Nachricht mehr haben. Wie der 96jährige Vater, der noch im Jahre 2001 an das Rote Kreuz schrieb, werden sie erst Ruhe finden, wenn sie wenigstens den Ort wissen, an dem Sohn oder Vater, Bruder oder Mann gestorben ist. Das ist zumindest die Erfahrung jener, die bis heute versuchen, Schicksale aufzuklären – mit immer weniger Erfolgsaussichten.

    Alle Vermutungen, die in der Nachkriegszeit angestellt wurden, dass der Suchdienst seine Aufgabe erfüllt haben werde, sobald die nächste Generation herangewachsen und das Kriegsleid psychologisch in den Hintergrund getreten sei, haben sich als Irrtum erwiesen.

    Deshalb lautet seine Zukunftsprogose:

    Wenn Sie mal bedenken, dass wir pro Jahr etwa 60, 70 , 80 Anfragen von Enkeln nach ihren verschollenen Großvätern aus dem ersten Weltkrieg kriegen, können Sie sich, wenn Sie die Dimensionen der beiden Weltkriege einmal vergleichen, gut vorstellen, wie lange das gehen wird. Mit Sicherheit wird noch im Jahre 2020 oder 2030, ich weiß es nicht, werden noch Anfragen eingehen nach Verschollenen.