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Zwischen Kühle und Empathie

"Wie das wohl ist für einen, der den letzten Augenblick gesetzt hat. Wie das wohl ist, wenn einer geht." Die ersten beiden Sätze von Nina Jäckles Roman haben es gewissermaßen in sich. Etwas Tragisches, Unabwendbares schwingt darin mit. In der Formulierung "den letzten Augenblick setzen" stellt sich unweigerlich die Assoziation zu "den letzten Schuss setzen" ein. Für Nina Jäckle ist jeder jeweils erste Satz einer Erzählung oder eines Romans der Nukleus; er hat die Bedeutung einer Explosion, eines inspiratorischen Funken, aus dem sich alles Folgende gleichsam wie von selbst entwickelt.

Von Cornelia Staudacher | 15.09.2004
    Es ist ja immer so, daß plötzlich ein erster Satz passiert, der mir dann sagt, jetzt will ich weitergeschrieben werden, und in diesem Fall war das wirklich die Frage, wie das ist, wenn einer geht, und die wurde natürlich politischerweise aufgeworfen, es ist so, daß niemals zuvor der Freitod so präsent war, in gesellschaftsphilosophischer Sicht genauso wie als Kriegsansage, das ist ja ein Thema, das den Menschen, der sich über den Menschen Gedanken macht, schon umtreiben muß, ich hab das erste Mal das Gefühl gehabt, (....) daß ich jetzt in einer Welt lebe, die dem Schriftsteller tatsächlich auch wieder ein bißchen Politik abverlangt, während das vor kurzer Zeit noch nicht so war, ich meine das nicht moralisierend, ich meine, daß die Themen mit der Welt zu tun haben, in der du lebst, und die Welt hat sich sehr verändert. Natürlich bin ich biographisch sensibilisiert, aber ich hab mir nicht vorgenommen, irgendwann einmal ein Buch über Suizid zu schreiben, sondern es war, wie ich schon sagte, ein Thema, das sich mir aufdrängte durch bestimmte Ereignisse in der Welt.

    Die bevorstehende Selbsttötung des Protagonisten ist nicht politisch motiviert. Noll leidet an einer unheilbaren Krankheit und hat beschlossen, sich am folgenden Dienstag pünktlich um 16 Uhr in der verschlossenen Garage bei laufendem Motor in sein Auto zu setzen. Beschrieben werden seine letzten 24 Stunden. Der bevorstehende Abschied vom Leben bringt eine gedämpfte, gelegentlich melancholische Grundstimmung. Aber die Autorin, die ein Exempel statuieren will, stellt gleichzeitig eine kühle Distanz zu ihrem Protagonisten her.

    Sie beginnt mit einer Art Introitus, in dem das Motiv des "letzten Mal" paraphasiert wird. Im Folgenden wechseln erinnerte Episoden aus Nolls Leben mit der Beschreibung der akribischen Vorbereitungen, die Noll planmäßig unternimmt, als habe er eine längere Reise oder einen Krankenhausaufenthalt vor sich.

    Er ruft seine Schwester und eine Freundin an, beläßt es aber bei unwesentlichen Ansagen auf dem Anrufbeantworter. Dagegen verzichtet er auf einen Anruf bei der Mutter, aus Furcht, sie könne an seiner Stimme Veränderungen feststellen, seinen Vorsatz wittern und versuchen, ihn davon abzubringen. Ein ehemaliger Mitschüler, dem er zufällig auf der Straße begegnet, wundert sich im Nachhinein über die Gelassenheit, mit der er sich von ihm verabschiedete, "Bis dann, mach es mal gut."

    Die Möbel und Gegenstände seiner Wohnung versieht er mit Namensschildern, die er später allerdings wieder entfernt und auf dem Küchentisch liegen läßt. Er übergibt den Hund einer auf dem Lande lebenden Familie, bestellt die Zeitung ab und räumt den Kühlschrank leer. Er hinterläßt keinen Abschiedsbrief. Unterbrochen werden Nolls akribische Vorbereitungen zum Sterben von Erinnerungen an sein Leben.

    Mir war klar, daß es sich um Erinnern und das Erzählen von Leben handeln würde, ich wußte auch, ich möchte Noll selbst über sich nichts sagen lassen, ich möchte eine Figur haben, die über sich selbst nicht spricht, die nur klar wird über das, wie sie die eigenen Erinnerungen berichtet bzw. wie andere über diese Person sprechen, das alles war mir ein Reiz, das Buch zu schreiben. Aber ich bin eben nicht die Plottante, ich hab mir nicht vorher aufgeschrieben, was wann passieren würde, weils dann sowieso immer anders läuft. Bücher schreiben sich ja auch ein bisschen selbst von Satz zu Satz. Es ist tatsächlich so, wie es auch im Leben geht, die Sätze reihen sich nicht von ungefähr aneinander, und natürlich hat man, ohne es zu wissen, ein bestimmtes Ding im Kopf, wo der Text dann schon klüger war als ich, ich habs hinterher gemerkt, wenn ich irgendwelche Sätze oder irgendwelche Fäden wieder aufnahm.

    Erinnerungern an seine Kindheit laufen vor Nolls innerem Auge ab: Da ist die schwierige Beziehung zu seiner Mutter, die immer mehr verbitterte, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, und voller Hähme über den Großvater herzog, der nach dem Tod seiner Frau seine langjährige Geliebte in das von der Familie gemeinsam bewohnte Haus holte. Da sind die Erinnerungen an seine Freundin Mara, die er nach einem Ferienaufenthalt auf einer mediterranen Insel allein nach Deutschland zurückfliegen ließ; und an Viejo, den alten Mann, mit dem er einige Monate in einer Bauruine auf eben jener Insel hauste. Das alles wird in einem kargen, komprimierten, aber doch bewegenden Stil erzählt. Wie in dem vor gut einem Jahr erschienenen Erzählungsband gelingt es Jäckle auch hier wieder, bei höchster Sparsamkeit der erzählerischen Mittel Spannung zu erzeugen und den Leser am Schicksal des Protagonisten Anteil nehmen zu lassen.

    Was ich da mache, ist natürlich auch extrem brutal, nämlich das ist ja auf eine sehr sezierende Art und Weise jemandem dabei zugesehen, wie er sich, ja nicht mal verabschiedet, sondern Teilchen für Teilchen aus dem Leben herausnimmt. ...... Das hat mir schon viel Herzlosigkeit abgefordert, dem Noll nicht zu sagen, nun laß das mal sein, wir finden schon einen Weg für dich. Der Nollteil, da ist mir eine gewisse Sprache gelungen, als Raum empfinde ich das, und ich hatte das Gefühl, das kannst du nicht auf den ganzen Roman durchhalten, und ich hatte ein Bedürfnis, diesen Sprachraum aufzubrechen, wollte dem was entgegenstellen, ich wollte das wieder öffnen, ich wollte da irgendwie raus, da war ich auf dem Land übrigens, in Wewelsfleth, und da habe ich den zweiten Teil angefangen, der ein ganz anderes Tempo hat sprachlich, und das hat mir unheimlich gut getan. Noll ist der stille Teil, und der zweite Teil hat mit Geschwindigkeit zu tun und geht mehr nach außen, habe ich das Gefühl, ich mag jetzt nicht sagen, jünger, aber es ist leichter.

    Im zweiten Teil, der ein Drittel des Romans ausmacht, eröffnet die Autorin eine neue Perspektive. Sonja, eine Versicherungsangestellte, hat Nolls Tod aus versicherungstechnischen Gründen zu bearbeiten. Aus Protokollen von Verwandten und Freunden wird Nolls Schicksal noch einmal, in neutralisierter Form abgehandelt und wird nun vollends zum soziologischen Fall.

    Der Noll ist ein Fallbeispiel,(.... )ist es kein wirklicher Mensch, kein wirklicher Nachbar, kein wirklicher Noll, es ist für sie erst mal nur ein Fall, der Fall Arnold Schrader, unter "s", wie sie ja immer sagt. Durch ihre Arbeit aber, und weil sie sich so intensiv mit dieser Recherche über diese, also dieser Fall wird für sie mehr und mehr zu einem wirklichen Menschen, und zu einem Grund, ihre Arbeit hinzuwerfen.

    Sonja entschließt sich, ihren bürgerlichen Beruf an den Nagel zu hängen und Nolls Lebensweg zu recherchieren und aufzuschreiben. Ihr Text bildet den ersten, ausführlicheren Teil des Buches und ist gleichzeitig das Bekenntnis zur uneingeschränkten Subjektivität als einziger Möglichkeit, einem Menschen und seinem individuellen Schicksal gerecht zu werden.

    Schon die leitmotivisch wiederkehrende Frage - "Wie das wohl ist, wenn einer geht" – deutet daraufhin, daß dem Roman das musikalische Kompositionsprinzip des Rondos zugrunde liegt. Und man könnte weitergehen und sagen, es sei in seiner ruhigen, beklemmenden, manchmal schmerzlich quälenden, manchmal fast feierlichen Grundstimmung in Moll intoniert, ein großes Adagio, nur ab und an unterbrochen von heitereren Tönen der Erinnerung, einem Scherzo. Nina Jäckle arbeitet an einer rhythmisierten Sprache. Einen starken Rhythmus, wie er sonst eher der Lyrik eigen ist, weisen viele der kurzen, wiederholten Passagen auf, die Fragen der Schwester, die wissen will, "was du treibst, wie es dir geht, was du so vorhast", oder die Aufzählung der letzten, ordnenden Handlungen, "den Hund aufs Land gebracht, hinter und unter den Möbeln gesaugt, die Zeitung abbestellt."

    Jäckle, die dem Plot einer Geschichte erheblich weniger Bedeutung beimißt als seiner Transformation in Literatur, die aber, wie sie beteuert, abgesehen von ein paar Versuchen im jugendlichen Alter keine Gedichte schreibt, gelingt in ihrem ersten Roman eine Synthese von Prosa und Lyrik zu einem in seiner sprachlichen Verdichtung eigenwilligen literarischen Konglomerat, das, changierend zwischen Nähe und Distanz, zwischen Kühle und Empathie, den Leser bei aller Rationalität und künstlerischen Ambition doch auch für das Schicksal des Helden einnehmen kann.

    Nina Jäckle
    Noll
    Berlin Verlag, 193 S., EUR 18,-