Claudia Knappert ist eigentlich Architektin, doch in ihrer Freizeit hält sie das Erinnern an die deutsche Geschichte wach. Ein grauer Novembermorgen an der Gedenkstätte Bernauer Straße, mit einer fünften Klasse einer Grundschule erkundet die junge Frau den ehemaligen Todesstreifen.
Begeistert tollen die Zehn- und Elfjährigen durch das verwilderte Gelände, stolpern über Fundamente der ehemaligen Wohnhäuser, suchen im Gras nach den Spuren deutsch-deutscher Vergangenheit.
Dann stehen sie vor der einstigen Hinterlandmauer, blinzeln durch einen Spalt in den Betonplatten auf die geharkte Fläche vor der eigentlichen Mauer, die hier einst den Bezirk Wedding vom Osten Berlins trennte. Ihre Lehrerin hat ihnen im Unterricht viel davon erzählt, wie es zum Mauerbau kam, Kalter Krieg, 17. Juni, Sektorengrenze - alles keine Fremdworte. Claudia Knappert ist beeindruckt - selbst, dass die Mauer in der DDR nicht einfach Mauer genannt wurde, haben einige von ihnen schon mal aufgeschnappt:
Es hat was mit Anti zu tun … Anti-Berliner Mauer, Anti-Schutzwall… Ja gar nicht so schlecht... , Anti-Nazi-Mauer – ja, fast, ich sage euch mal wie das hieß: antifaschistischer Schutzwall!
Bis zum 9. November 89 sind die Schüler im Unterricht allerdings nicht gekommen, und überrascht muss die Mauerführerin feststellen, dass die Eltern ihnen vom Fall der Mauer gar nicht soviel erzählt haben. Claudia Knappert setzt also wieder an, versucht zu erklären, was sich am Abend des 9. November in Berlin abspielte:
Und dann ist also der Pressesprecherin zur Pressekonferenz gegangen, hat einen Zettel mitbekommen und den sollte er vorlesen…
Also Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt… das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort… unverzüglich!
Jeder, der jenen Tag miterlebte, hat diesen Satz des SED-Parteisekretärs Günther Schabowski wohl Dutzende Mal gehört. Er leitet eine der längsten deutschen Nächte ein, einen nie erlebten Freudentaumel:
Einen Moment lang noch mischt sich Angst in den Jubel, Angst davor, dass die DDR-Staatsgewalt doch noch versuchen könnte, die bedingungslose Öffnung der Grenzen zu verhindern:
Was war mit den Soldaten? Die wussten gar nicht, was sie machen sollten, weil, die hatten gar keine Anweisung, und es wurden immer mehr und immer mehr, und dann gab es nur zwei Möglichkeiten, entweder die hätten die Panzer rufen müssen und die Leute zurückdrängen, oder? – Aufmachen! – Wofür haben sie sich entschieden? – Aufmachen!
Dann dachte ich mir, das kann natürlich jetzt eine gefährliche Situation werden, dass dann irgendwo einer die Nerven verliert und Schusswaffen einsetzt!
Manfred Stolpe befürchtete damals wie viele ein Blutvergießen. "Mir war sofort klar: diese unbeholfene Erklärung Schabowskis war nicht so gemeint, dass jetzt jeder direkt losrennt," erinnert sich der damalige Kirchenfunktionär:
Ganz zuletzt, da war ich dann auch selber mit unterwegs, ganz zuletzt ging es dann am Checkpoint Charlie, die haben nicht geöffnet, die Grenzsoldaten, das waren offenbar Eliteeinheiten, die sagten: Unter gar keinen Umständen. Bis dann von der anderen Seite aus dem Westen schon die ersten Heimkehrer wiederkamen, die hatten ihren West-Berlin-Besuch beendet und wollten wieder rein, und da haben die dann auch die Strecke freigegeben. Das war der letzte kritische Punkt, das muss irgendwann – ich glaub - schon am frühen Morgen des 10. November gewesen sein, da habe ich mich ins Bett gelegt und habe gesagt, jetzt, jetzt ist es anders, jetzt kommt eine neue Zeit, es wird nichts mehr so bleiben wie bisher!
Die großen Erwartungen an die neue Zeit werden damals auch von der Politik geschürt. Schnelle Vereinigung, schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, so lautet die Marschrichtung im Wahlkampf 1990:
Wenn wir gemeinsam zupacken, wenn wir die Ärmel hochkrempeln, wenn die Menschen hier bereit sind, hart zu arbeiten – und das werden sie tun – und wenn wir insgesamt, auch wir, die bisher in der Freiheit der Bundesrepublik leben konnten – unseren Beitrag der Solidarität leisten, dann werden diese Landschaften, dann wird Sachsen und Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg, in drei, vier, fünf Jahren blühende Landschaften in Deutschland sein!
15 Jahre später muss auch Kohls Parteifreund Rainer Eppelmann, Minister für Abrüstung und Verteidigung im letzten Kabinett der DDR, eingestehen: Es ging alles viel zu schnell!
Das ist möglicherweise der Fehler, den wir 1989/90 begangen haben, dass wir der Meinung gewesen sind: das haben wir in vier, fünf Jahren geliefert. Das ist damals die Parole gewesen: In fünf Jahren leben die in Dresden genauso gut wie die in Düsseldorf!
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erinnert zudem an unterschiedliche Erfahrungen, die Deutsche in Ost und West miteinander machten:
Wir im Osten mussten alles neu lernen, die im Westen nichts, die spielten sich als Lehrmeister auf, jeder Ostdeutsche kann eben auch unfreundliche und unangenehme Geschichten von Besserwessis erzählen – soll man sie erzählen – aber man soll nicht vergessen, dass es eben die vielen anderen auch gegeben hat, und dass der ganze Prozess natürlich von innerdeutscher Solidarität auch gelebt hat und dass diese innerdeutsche, auch finanzielle Solidarität auch weiter gebraucht wird!
So deutlich wie nie zuvor tritt das Trennende im Sommer 2004 in den Vordergrund. Die Proteste gegen die Sozialreformen der Bundesregierung mobilisieren vor allem Menschen im Osten Deutschlands, und plötzlich werden die Montagsdemonstrationen wieder belebt: Standen sie ursprünglich für den Drang nach Freiheit und Demokratie, werden sie nun zum Symbol des Protestes gegen einen Staat, den man sich etwas anders vorgestellt hatte.
Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob es da wirklich nur um die Arbeitsmarktreform geht, sie war mit Sicherheit der Anlass, aber mehr mit dem Charakter, der Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen bringt!
Im Interview mit dem Deutschlandfunk ist Brandenburgs Ministerpräsident Mathias Platzeck im August einer der ersten, der etwas Tiefgründigeres hinter den Demonstrationen gegen Hartz IV vermutet. Der Sozialdemokrat muss die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung unterstützen, zugleich aber steht er im Landtagswahlkampf, versucht, die Sorgen seiner ostdeutschen Landsleute zu verstehen:
Das ist so ein Grundgefühl, so ein Grundgefühl der Zweitklassigkeit.
Der Aufbau Ost ist gescheitert, 1250 Milliarden in der ehemaligen DDR versenkt, ohne dass es wirtschaftlich erkennbar vorangeht. Schuld sind die unflexiblen, nicht kreativen, wehleidigen Bürger, der Osten ist ein Fass ohne Boden, das Westdeutschland endlich loswerden möchte – so ist die Diskussion über die Zukunft des Ostens nach Ansicht Platzecks bei den Menschen angekommen. Dabei wird der Realismus, den viele Ostdeutsche gerade in wirtschaftlicher Hinsicht an den Tag legen, häufig verkannt. Nichts hat das so deutlich gemacht wie der gescheiterte Kampf um die 35 Stunden Woche in der ostdeutschen Metallindustrie. Thomas Kalkbrenner, IG Metall Vorstandsmitglied, muss heute einräumen, dass damals die Stimmung unter den ostdeutschen Arbeitnehmern falsch eingeschätzt wurde, auch wenn er generell vehement für ein Gleichziehen des Ostens eintritt.
Wir haben die Aufgabe nach wie vor, uns für gleiche Arbeits- und Lebensbedingungen einzusetzen, wenn man sagt Sonderwirtschaftszone Ost oder über viele Jahre die Ungleichheit zu akzeptieren, dann ist das auch aus unserer Sicht ein Anschlag auf die Würde der arbeitenden Menschen, und wir müssen die Frage stellen, ob wir alles nur der Wirtschaft opfern, der Allmacht der Wirtschaft, oder ob es auch legitim ist, Menschen, die für diese ganzen Umbrüche nichts dafür können, ordentlich am Wohlstand, ordentlich an der Wirtschaft teilhaben lassen.
Klar ist: Schlechtere Bezahlung, hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und die Sorge vor einer Kürzung von Sozialleistungen haben das Gefühl der Zweitklassigkeit im Osten verstärkt - davon jedenfalls ist auch der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer überzeugt:
Es gibt seit Beginn der 90er Jahre eine Diskussion um die Frage: Sind die ehemaligen DDR-Bürger Bürger zweiter Klasse, weil sie in einem Gebiet leben, das wirtschaftlich und sozial nicht entwickelt wird. Die Hartz IV-Diskussion hat das auf einer anderen Ebene wieder belebt. Grundsätzlich gilt: Alle Deutschen, ob in Ost oder in West, haben ein starkes Bedürfnis nach einer Politik, die es ihnen ermöglicht, gesichert sozial leben zu können – im Westen wie im Osten sind diese Bedürfnisse stärker als es über die Diskussion in der Politik erscheint. Im Osten ist es allerdings noch stärker als im Westen, und das hat was zu tun mit der politischen und individuellen Sozialisation durch die ehemalige DDR mit dem hohen Angebot an sozialen Leistungen, über deren Qualität man sich nicht auseinandersetzen muss, aber immerhin, das Gefühl ist stärker!
Fallen die Ostdeutschen also zurück in altes Obrigkeitsdenken? Sind die Erwartungen an den Staat, der sich um seine Bürger zu kümmern hat, wieder größer geworden? Christdemokrat Rainer Eppelmann wirbt für Verständnis, erinnert an die Veränderungen, die seine Mitbürger seit dem Mauerfall verkraften mussten:
Mehr als Dreiviertel der 16,5 Millionen DDR-Bürger leben heute beruflich völlig anders als sie das vor 15 Jahren getan hat, und wenn sie dann ernst nehmen, dass auch der normale Alltag, abgesehen von der Arbeit, für uns alle völlig anders geworden ist, was das Steuerrecht angeht, was die Versicherung angeht, was die bürgerlichen Ehrenrechte angeht, die Möglichkeiten des Einkaufens und so weiter und so weiter…
Auch der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse hat im Zuge der ostdeutschen Hartz IV- Proteste viel Verständnis für seine Landsleute aufgebracht. Während sich in der Parteispitze weitgehend Ratlosigkeit darüber breit machte, wie mit den ostdeutschen Befindlichkeiten umzugehen sei, verteidigte der Bundestagspräsident zum Entsetzen vieler Parteifreunde sogar die Wiederbelebung der Montagsdemonstrationen als legitimes Mittel:
Weil sie ja doch immerhin noch ein Ausdruck von Inanspruchnahme von Demokratie sind. Das kann ich doch nicht denunzieren, schließlich habe ich im Herbst 89 wie viele andere dafür gekämpft, dass wir diese Grundrechte bekommen!
Während Thierse den Ostdeutschen empfiehlt, auch nach Osteuropa zu schauen, wo die wirtschaftliche Entwicklung noch schwerer vorankommt, fachen andere Politiker im Westen Deutschlands – ob gewollt oder unbewusst – eine Neiddiskussion an. Sie verweisen auf die "kleinen Ostdeutschländer" im Ruhrgebiet, wo die Arbeitslosigkeit ähnlich hoch ist wie etwa in der Uckermark, und sie lenken den Blick auf den vermeintlich goldenen Osten, die sanierten Markplätze, die neuen Straßen und die modernen Glasfaserkabelnetze, die sie auch gern hätten. "Viele Städte im Westen haben heute enorme Schulden, die sie ohne die Transferleistungen in die neuen Länder nicht hätten", gibt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Peer Steinbrück zu bedenken. Äußerungen, die im Osten für Unverständnis sorgen. Rainer Eppelmann:
Wenn er ne Neiddiskussion schürt, um damit Punkte zu sammeln, in der Hoffnung, da kann ich oder meine Partei deswegen Stimmen sammeln, dann ist es meiner Meinung nach natürlich ein richtig schwerer politischer Fehler, weil der natürlich den inneren Frieden und die Solidarität in unserem Land in Gefahr bringt. Für mich das ungeheuerlich Überzeugende ist ja, dass auch 15 Jahre später noch unbestritten ist, dass Aufbau Ost vor Ausbau West geht.
Auch Maria Nooke vom Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Straße sorgt sich darum, dass durch ein gegenseitiges Ausspielen der Interessen in Ost und West neue Ressentiments entstehen könnten:
Politik hat natürlich immer auch was mit Interessenvertretung zu tun, und wenn Herr Steinbrück im Wahlkampf das sagt, dann ist es im Interesse seines Bundeslandes natürlich richtig. Wenn man dann die Gesamtinteressen des Landes, der deutschen Nation, sich anguckt, dann ist es natürlich fragwürdig. Ich wünschte mir, dass da wirklich ein größeres Bewusstsein ist, was das für das gesamte Land bedeutet, wenn diese Konflikte gegeneinander ausgespielt werden.
Bundesbauminister Manfred Stolpe warnt als Ostdeutscher am Kabinettstisch davor, Leistungen gegeneinander aufzurechnen. Er weiß um das Denken in Teilen der westdeutschen Bevölkerung:
Dass man 15 Jahre jetzt gezahlt hat, dass einem Zahlen vorgerechnet werden: Eine Billion 250 Milliarden, eine Summe, die man natürlich zusammenrechnen kann, wenn man brutto alle Finanzbewegungen in Richtung Osten ausrechnet und dabei vergisst, was auch in umgekehrter Richtung geflossen ist, einschließlich Steuern, wenn die Zahlen gehandelt werden, wenn dann natürlich auch Menschen aus schwierigen Gebieten Westdeutschlands, denken Sie nur an das nördliche Ruhrgebiet, unterwegs sind im Osten und sehen, was hier schon geleistet wurde, an Infrastruktur, dann kommt das Gefühl schon auf: Wie lange noch? – Trotzdem tröstet mich, dass das keine Massenmeinung ist!
Taxifahrer: Wir biegen jetzt ein, Sie sehen im Hintergrund die großen Flutlichtmasten, da war der Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Im Augenblick fahren wir übrigens hier auf der Doppelsteinreihe, die überall im Innenstadtbereich als Erinnerung an die Mauer angelegt wurde. Also wir fahren jetzt gerade haarscharf an der Wand lang , sozusagen…
Thomas Dietrich Lehmann auf Spurensuche - unterwegs im Taxi. Eigentlich ist er Pfarrer, folglich nennt er sein Angebot anderthalb Stunden lang mit seinen Fahrgästen die ehemaligen Mauer in Berlin abzufahren auch Taxi-Wallfahrt oder besser "Wall"-Fahrt. Lehmann weiß viel von deutsch-deutschen Befindlichkeiten zu berichten. Regelmäßig predigt er in der Versöhnungsgemeinde an der Bernauer Straße, viel häufiger aber sitzt er im Taxi und lernt Menschen kennen:
In 90 Prozent der Fälle weiß ich vom ersten Satz an, sitzt Ost-Berliner Bevölkerung hinten oder West-Berliner. Die Anfangseuphorie war ja: Wir wachsen zusammen und wir kommen zusammen und alles ist gut – so geht det nich, det is en Prozess von Generationen. Die Stadt ist geteilt und die wird noch ne Weile geteilt bleiben!
Düstere Aussichten 15 Jahre nach dem so euphorisch gefeierten Fall der Mauer? Vor Monaten sorgte eine Umfrage für Schlagzeilen: Jeder fünfte Deutsche wünscht sich die Mauer zurück, wollten die Meinungsforscher von Forsa herausgefunden haben. Wie schnell die Erinnerung an das DDR-Unrechtsregime verblasst, hätte auch Maria Nooke von der Gedenkstätte Bernauer Straße nicht für möglich gehalten, trotzdem warnt sie vor einer Dramatisierung:
Wenn Sie dann mit den Menschen reden, dann will niemand die Mauer wiederhaben. Ich habe noch niemand erlebt, der das will, ich habe gerade ein Interview gemacht mit einem hohen Grenzoffizier, der auch heute noch zu seiner Arbeit steht und zur Geschichte der DDR und trotzdem sagt, natürlich wollen wir die Mauer nicht wiederhaben. Es ist doch auch bezeichnend, dass auch die, die das System mitgestützt haben, wissen, dass diese Veränderung nicht mehr rückgängig zu machen ist, und dass sie das auch gar nicht wollen.
Allerdings hat die Auseinandersetzung um Hartz IV den Frust vieler Ostdeutscher verschärft, die Ernüchterung über die einst von DDR-Bürgern so verklärte Bundesrepublik ist groß, meint Professor Peter Grottian vom Berliner Otto-Suhr-Institut:
1989 wurden ihnen Bananen versprochen, und Hartz IV wurde ihnen gebracht, sie sind diskriminiert worden mit Arbeitslosigkeit und nicht mit neuen Arbeitsplätzen, und jetzt wird den Ostdeutschen die Vorstellung genommen, dass sie – auch wenn sie keine Arbeit haben – einigermaßen vernünftig leben können!
Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck sorgt sich schon um Politik- und Demokratieverdrossenheit seiner Landsleute. Tatsache ist, dass die Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen auf ein Rekordtief fiel, und die Wahlerfolge von DVU und NPD haben gezeigt, dass die Wähler offenbar noch anfälliger geworden sind für rechte Rattenfänger. Wolfgang Thierse warnt allerdings davor, die Ursachen allein bei Hartz IV zu suchen:
Ich erinnere mich daran, dass es bereits 1991 Anschläge auf Ausländer gegeben hat. Die brennenden Ausländerheime in Rostock werde ich nie vergessen, da war von Hartz IV noch nicht die Rede. Indem ich das sage, sage ich etwas sehr Beunruhigendes: Dass es in Ostdeutschland, aber nicht nur da, es ist kein ostdeutsches Problem, offensichtlich eine nicht geringe Anzahl von Menschen gibt, die verführbar sind.
Gewinnerin der neuen Ost-West-Diskussion ist auch die PDS. Sie wird weiterhin als einzige Ostpartei wahrgenommen. Ihr früherer Chef Gregor Gysi beklagte auf dem Parteitag in Potsdam vor zehn Tagen erneut, dass es 1990 statt einer Vereinigung einen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik gegeben habe – mit negativen Folgen auch für die Westdeutschen, denen bis heute eine positive Erfahrung der Einheit fehle:
Wenn man zum Beispiel gesagt hätte, wir übernehmen aus der DDR schon mal die Nachmittagsbetreuung an Schulen, die es dort schon gab, oder wir übernehmen mal, dass man Abfälle anders aufnimmt und wieder verwendet, also Sekundärrohstofferfassung, dann hätten die Westdeutschen heute in der Erinnerung an den 3. Oktober 1990 immer das Gefühl, dass sich auch durch die Übernahme von Ost-Erfahrungen ihre Lebensqualität erhöht hat, und dieses Erlebnis ist den Westdeutschen nicht gegönnt worden, und damit haben wir es mental mit heute zu tun!
Manfred Stolpe stimmt ihm in der Sache zu, doch nach seiner Überzeugung gab es nie eine echte Chance, in der Euphorie des Jahreswechsels 89/90 eine andere Politik zu betreiben:
Das war nicht machbar. Ich war ja in der politischen Verantwortung im Land Brandenburg von Anfang an, und wir haben schon gesehen, dass es im Gesundheitswesen Strukturen gab, denken Sie an das, was heute Gesundheitshäuser heißt und damals Polikliniken hieß, dass das sinnvoll wäre, wir haben auch schon gesehen, dass im Bereich Kinderbetreuung der Osten eine Nase vorn hatte, fast schon zwei Nasen vorn hatte, aber die Stimmung sprach dagegen, die Bereitschaft des Ostens, sich voll anzupassen, auf der einen Seite, und die Überzeugung des Westens, dass man sowieso in jeder Beziehung das bessere System hat, war eine Atmosphäre, wo man damals nichts machen konnte!
Was also bleibt 15 Jahre nach dem Mauerfall? Ist es allein die Hoffnung, dass die nachwachsende Generation die Unterschiede zwischen Ost und West verwischen wird? Meinungsforscherin Renate Köcher vom Institut Allensbach warnt auch da vor zu großen Erwartungen: "Junge Ostdeutsche sind auf Grund der Prägung in Ostdeutschland ihren Eltern und Großeltern viel ähnlicher als ihren Altersgenossen im Westen", davon ist sie überzeugt - umgekehrt ist es wohl genauso: Bei den West-Berliner Schülern jedenfalls, die an der Bernauer Straße von der deutschen Teilung erfahren, dürfte ihr Bild über die Ost-Berliner wohl noch lange von dem geprägt sein, was sie schon früh von den Erwachsenen erfuhren:
Was haben Euch denn Eure Eltern über den 9.November erzählt?... Also meine Eltern haben mir erzählt, als die Mauer halt gefallen war, dass die DDR-Bürger Mutter hat mir gesagt, dass die alle rübergelaufen sind und vor den Schaufenstern gestanden haben und geguckt haben und dann haben die ganze viele Bananen gekauft!
Begeistert tollen die Zehn- und Elfjährigen durch das verwilderte Gelände, stolpern über Fundamente der ehemaligen Wohnhäuser, suchen im Gras nach den Spuren deutsch-deutscher Vergangenheit.
Dann stehen sie vor der einstigen Hinterlandmauer, blinzeln durch einen Spalt in den Betonplatten auf die geharkte Fläche vor der eigentlichen Mauer, die hier einst den Bezirk Wedding vom Osten Berlins trennte. Ihre Lehrerin hat ihnen im Unterricht viel davon erzählt, wie es zum Mauerbau kam, Kalter Krieg, 17. Juni, Sektorengrenze - alles keine Fremdworte. Claudia Knappert ist beeindruckt - selbst, dass die Mauer in der DDR nicht einfach Mauer genannt wurde, haben einige von ihnen schon mal aufgeschnappt:
Es hat was mit Anti zu tun … Anti-Berliner Mauer, Anti-Schutzwall… Ja gar nicht so schlecht... , Anti-Nazi-Mauer – ja, fast, ich sage euch mal wie das hieß: antifaschistischer Schutzwall!
Bis zum 9. November 89 sind die Schüler im Unterricht allerdings nicht gekommen, und überrascht muss die Mauerführerin feststellen, dass die Eltern ihnen vom Fall der Mauer gar nicht soviel erzählt haben. Claudia Knappert setzt also wieder an, versucht zu erklären, was sich am Abend des 9. November in Berlin abspielte:
Und dann ist also der Pressesprecherin zur Pressekonferenz gegangen, hat einen Zettel mitbekommen und den sollte er vorlesen…
Also Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt… das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort… unverzüglich!
Jeder, der jenen Tag miterlebte, hat diesen Satz des SED-Parteisekretärs Günther Schabowski wohl Dutzende Mal gehört. Er leitet eine der längsten deutschen Nächte ein, einen nie erlebten Freudentaumel:
Einen Moment lang noch mischt sich Angst in den Jubel, Angst davor, dass die DDR-Staatsgewalt doch noch versuchen könnte, die bedingungslose Öffnung der Grenzen zu verhindern:
Was war mit den Soldaten? Die wussten gar nicht, was sie machen sollten, weil, die hatten gar keine Anweisung, und es wurden immer mehr und immer mehr, und dann gab es nur zwei Möglichkeiten, entweder die hätten die Panzer rufen müssen und die Leute zurückdrängen, oder? – Aufmachen! – Wofür haben sie sich entschieden? – Aufmachen!
Dann dachte ich mir, das kann natürlich jetzt eine gefährliche Situation werden, dass dann irgendwo einer die Nerven verliert und Schusswaffen einsetzt!
Manfred Stolpe befürchtete damals wie viele ein Blutvergießen. "Mir war sofort klar: diese unbeholfene Erklärung Schabowskis war nicht so gemeint, dass jetzt jeder direkt losrennt," erinnert sich der damalige Kirchenfunktionär:
Ganz zuletzt, da war ich dann auch selber mit unterwegs, ganz zuletzt ging es dann am Checkpoint Charlie, die haben nicht geöffnet, die Grenzsoldaten, das waren offenbar Eliteeinheiten, die sagten: Unter gar keinen Umständen. Bis dann von der anderen Seite aus dem Westen schon die ersten Heimkehrer wiederkamen, die hatten ihren West-Berlin-Besuch beendet und wollten wieder rein, und da haben die dann auch die Strecke freigegeben. Das war der letzte kritische Punkt, das muss irgendwann – ich glaub - schon am frühen Morgen des 10. November gewesen sein, da habe ich mich ins Bett gelegt und habe gesagt, jetzt, jetzt ist es anders, jetzt kommt eine neue Zeit, es wird nichts mehr so bleiben wie bisher!
Die großen Erwartungen an die neue Zeit werden damals auch von der Politik geschürt. Schnelle Vereinigung, schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, so lautet die Marschrichtung im Wahlkampf 1990:
Wenn wir gemeinsam zupacken, wenn wir die Ärmel hochkrempeln, wenn die Menschen hier bereit sind, hart zu arbeiten – und das werden sie tun – und wenn wir insgesamt, auch wir, die bisher in der Freiheit der Bundesrepublik leben konnten – unseren Beitrag der Solidarität leisten, dann werden diese Landschaften, dann wird Sachsen und Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg, in drei, vier, fünf Jahren blühende Landschaften in Deutschland sein!
15 Jahre später muss auch Kohls Parteifreund Rainer Eppelmann, Minister für Abrüstung und Verteidigung im letzten Kabinett der DDR, eingestehen: Es ging alles viel zu schnell!
Das ist möglicherweise der Fehler, den wir 1989/90 begangen haben, dass wir der Meinung gewesen sind: das haben wir in vier, fünf Jahren geliefert. Das ist damals die Parole gewesen: In fünf Jahren leben die in Dresden genauso gut wie die in Düsseldorf!
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erinnert zudem an unterschiedliche Erfahrungen, die Deutsche in Ost und West miteinander machten:
Wir im Osten mussten alles neu lernen, die im Westen nichts, die spielten sich als Lehrmeister auf, jeder Ostdeutsche kann eben auch unfreundliche und unangenehme Geschichten von Besserwessis erzählen – soll man sie erzählen – aber man soll nicht vergessen, dass es eben die vielen anderen auch gegeben hat, und dass der ganze Prozess natürlich von innerdeutscher Solidarität auch gelebt hat und dass diese innerdeutsche, auch finanzielle Solidarität auch weiter gebraucht wird!
So deutlich wie nie zuvor tritt das Trennende im Sommer 2004 in den Vordergrund. Die Proteste gegen die Sozialreformen der Bundesregierung mobilisieren vor allem Menschen im Osten Deutschlands, und plötzlich werden die Montagsdemonstrationen wieder belebt: Standen sie ursprünglich für den Drang nach Freiheit und Demokratie, werden sie nun zum Symbol des Protestes gegen einen Staat, den man sich etwas anders vorgestellt hatte.
Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob es da wirklich nur um die Arbeitsmarktreform geht, sie war mit Sicherheit der Anlass, aber mehr mit dem Charakter, der Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen bringt!
Im Interview mit dem Deutschlandfunk ist Brandenburgs Ministerpräsident Mathias Platzeck im August einer der ersten, der etwas Tiefgründigeres hinter den Demonstrationen gegen Hartz IV vermutet. Der Sozialdemokrat muss die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung unterstützen, zugleich aber steht er im Landtagswahlkampf, versucht, die Sorgen seiner ostdeutschen Landsleute zu verstehen:
Das ist so ein Grundgefühl, so ein Grundgefühl der Zweitklassigkeit.
Der Aufbau Ost ist gescheitert, 1250 Milliarden in der ehemaligen DDR versenkt, ohne dass es wirtschaftlich erkennbar vorangeht. Schuld sind die unflexiblen, nicht kreativen, wehleidigen Bürger, der Osten ist ein Fass ohne Boden, das Westdeutschland endlich loswerden möchte – so ist die Diskussion über die Zukunft des Ostens nach Ansicht Platzecks bei den Menschen angekommen. Dabei wird der Realismus, den viele Ostdeutsche gerade in wirtschaftlicher Hinsicht an den Tag legen, häufig verkannt. Nichts hat das so deutlich gemacht wie der gescheiterte Kampf um die 35 Stunden Woche in der ostdeutschen Metallindustrie. Thomas Kalkbrenner, IG Metall Vorstandsmitglied, muss heute einräumen, dass damals die Stimmung unter den ostdeutschen Arbeitnehmern falsch eingeschätzt wurde, auch wenn er generell vehement für ein Gleichziehen des Ostens eintritt.
Wir haben die Aufgabe nach wie vor, uns für gleiche Arbeits- und Lebensbedingungen einzusetzen, wenn man sagt Sonderwirtschaftszone Ost oder über viele Jahre die Ungleichheit zu akzeptieren, dann ist das auch aus unserer Sicht ein Anschlag auf die Würde der arbeitenden Menschen, und wir müssen die Frage stellen, ob wir alles nur der Wirtschaft opfern, der Allmacht der Wirtschaft, oder ob es auch legitim ist, Menschen, die für diese ganzen Umbrüche nichts dafür können, ordentlich am Wohlstand, ordentlich an der Wirtschaft teilhaben lassen.
Klar ist: Schlechtere Bezahlung, hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und die Sorge vor einer Kürzung von Sozialleistungen haben das Gefühl der Zweitklassigkeit im Osten verstärkt - davon jedenfalls ist auch der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer überzeugt:
Es gibt seit Beginn der 90er Jahre eine Diskussion um die Frage: Sind die ehemaligen DDR-Bürger Bürger zweiter Klasse, weil sie in einem Gebiet leben, das wirtschaftlich und sozial nicht entwickelt wird. Die Hartz IV-Diskussion hat das auf einer anderen Ebene wieder belebt. Grundsätzlich gilt: Alle Deutschen, ob in Ost oder in West, haben ein starkes Bedürfnis nach einer Politik, die es ihnen ermöglicht, gesichert sozial leben zu können – im Westen wie im Osten sind diese Bedürfnisse stärker als es über die Diskussion in der Politik erscheint. Im Osten ist es allerdings noch stärker als im Westen, und das hat was zu tun mit der politischen und individuellen Sozialisation durch die ehemalige DDR mit dem hohen Angebot an sozialen Leistungen, über deren Qualität man sich nicht auseinandersetzen muss, aber immerhin, das Gefühl ist stärker!
Fallen die Ostdeutschen also zurück in altes Obrigkeitsdenken? Sind die Erwartungen an den Staat, der sich um seine Bürger zu kümmern hat, wieder größer geworden? Christdemokrat Rainer Eppelmann wirbt für Verständnis, erinnert an die Veränderungen, die seine Mitbürger seit dem Mauerfall verkraften mussten:
Mehr als Dreiviertel der 16,5 Millionen DDR-Bürger leben heute beruflich völlig anders als sie das vor 15 Jahren getan hat, und wenn sie dann ernst nehmen, dass auch der normale Alltag, abgesehen von der Arbeit, für uns alle völlig anders geworden ist, was das Steuerrecht angeht, was die Versicherung angeht, was die bürgerlichen Ehrenrechte angeht, die Möglichkeiten des Einkaufens und so weiter und so weiter…
Auch der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse hat im Zuge der ostdeutschen Hartz IV- Proteste viel Verständnis für seine Landsleute aufgebracht. Während sich in der Parteispitze weitgehend Ratlosigkeit darüber breit machte, wie mit den ostdeutschen Befindlichkeiten umzugehen sei, verteidigte der Bundestagspräsident zum Entsetzen vieler Parteifreunde sogar die Wiederbelebung der Montagsdemonstrationen als legitimes Mittel:
Weil sie ja doch immerhin noch ein Ausdruck von Inanspruchnahme von Demokratie sind. Das kann ich doch nicht denunzieren, schließlich habe ich im Herbst 89 wie viele andere dafür gekämpft, dass wir diese Grundrechte bekommen!
Während Thierse den Ostdeutschen empfiehlt, auch nach Osteuropa zu schauen, wo die wirtschaftliche Entwicklung noch schwerer vorankommt, fachen andere Politiker im Westen Deutschlands – ob gewollt oder unbewusst – eine Neiddiskussion an. Sie verweisen auf die "kleinen Ostdeutschländer" im Ruhrgebiet, wo die Arbeitslosigkeit ähnlich hoch ist wie etwa in der Uckermark, und sie lenken den Blick auf den vermeintlich goldenen Osten, die sanierten Markplätze, die neuen Straßen und die modernen Glasfaserkabelnetze, die sie auch gern hätten. "Viele Städte im Westen haben heute enorme Schulden, die sie ohne die Transferleistungen in die neuen Länder nicht hätten", gibt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Peer Steinbrück zu bedenken. Äußerungen, die im Osten für Unverständnis sorgen. Rainer Eppelmann:
Wenn er ne Neiddiskussion schürt, um damit Punkte zu sammeln, in der Hoffnung, da kann ich oder meine Partei deswegen Stimmen sammeln, dann ist es meiner Meinung nach natürlich ein richtig schwerer politischer Fehler, weil der natürlich den inneren Frieden und die Solidarität in unserem Land in Gefahr bringt. Für mich das ungeheuerlich Überzeugende ist ja, dass auch 15 Jahre später noch unbestritten ist, dass Aufbau Ost vor Ausbau West geht.
Auch Maria Nooke vom Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Straße sorgt sich darum, dass durch ein gegenseitiges Ausspielen der Interessen in Ost und West neue Ressentiments entstehen könnten:
Politik hat natürlich immer auch was mit Interessenvertretung zu tun, und wenn Herr Steinbrück im Wahlkampf das sagt, dann ist es im Interesse seines Bundeslandes natürlich richtig. Wenn man dann die Gesamtinteressen des Landes, der deutschen Nation, sich anguckt, dann ist es natürlich fragwürdig. Ich wünschte mir, dass da wirklich ein größeres Bewusstsein ist, was das für das gesamte Land bedeutet, wenn diese Konflikte gegeneinander ausgespielt werden.
Bundesbauminister Manfred Stolpe warnt als Ostdeutscher am Kabinettstisch davor, Leistungen gegeneinander aufzurechnen. Er weiß um das Denken in Teilen der westdeutschen Bevölkerung:
Dass man 15 Jahre jetzt gezahlt hat, dass einem Zahlen vorgerechnet werden: Eine Billion 250 Milliarden, eine Summe, die man natürlich zusammenrechnen kann, wenn man brutto alle Finanzbewegungen in Richtung Osten ausrechnet und dabei vergisst, was auch in umgekehrter Richtung geflossen ist, einschließlich Steuern, wenn die Zahlen gehandelt werden, wenn dann natürlich auch Menschen aus schwierigen Gebieten Westdeutschlands, denken Sie nur an das nördliche Ruhrgebiet, unterwegs sind im Osten und sehen, was hier schon geleistet wurde, an Infrastruktur, dann kommt das Gefühl schon auf: Wie lange noch? – Trotzdem tröstet mich, dass das keine Massenmeinung ist!
Taxifahrer: Wir biegen jetzt ein, Sie sehen im Hintergrund die großen Flutlichtmasten, da war der Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Im Augenblick fahren wir übrigens hier auf der Doppelsteinreihe, die überall im Innenstadtbereich als Erinnerung an die Mauer angelegt wurde. Also wir fahren jetzt gerade haarscharf an der Wand lang , sozusagen…
Thomas Dietrich Lehmann auf Spurensuche - unterwegs im Taxi. Eigentlich ist er Pfarrer, folglich nennt er sein Angebot anderthalb Stunden lang mit seinen Fahrgästen die ehemaligen Mauer in Berlin abzufahren auch Taxi-Wallfahrt oder besser "Wall"-Fahrt. Lehmann weiß viel von deutsch-deutschen Befindlichkeiten zu berichten. Regelmäßig predigt er in der Versöhnungsgemeinde an der Bernauer Straße, viel häufiger aber sitzt er im Taxi und lernt Menschen kennen:
In 90 Prozent der Fälle weiß ich vom ersten Satz an, sitzt Ost-Berliner Bevölkerung hinten oder West-Berliner. Die Anfangseuphorie war ja: Wir wachsen zusammen und wir kommen zusammen und alles ist gut – so geht det nich, det is en Prozess von Generationen. Die Stadt ist geteilt und die wird noch ne Weile geteilt bleiben!
Düstere Aussichten 15 Jahre nach dem so euphorisch gefeierten Fall der Mauer? Vor Monaten sorgte eine Umfrage für Schlagzeilen: Jeder fünfte Deutsche wünscht sich die Mauer zurück, wollten die Meinungsforscher von Forsa herausgefunden haben. Wie schnell die Erinnerung an das DDR-Unrechtsregime verblasst, hätte auch Maria Nooke von der Gedenkstätte Bernauer Straße nicht für möglich gehalten, trotzdem warnt sie vor einer Dramatisierung:
Wenn Sie dann mit den Menschen reden, dann will niemand die Mauer wiederhaben. Ich habe noch niemand erlebt, der das will, ich habe gerade ein Interview gemacht mit einem hohen Grenzoffizier, der auch heute noch zu seiner Arbeit steht und zur Geschichte der DDR und trotzdem sagt, natürlich wollen wir die Mauer nicht wiederhaben. Es ist doch auch bezeichnend, dass auch die, die das System mitgestützt haben, wissen, dass diese Veränderung nicht mehr rückgängig zu machen ist, und dass sie das auch gar nicht wollen.
Allerdings hat die Auseinandersetzung um Hartz IV den Frust vieler Ostdeutscher verschärft, die Ernüchterung über die einst von DDR-Bürgern so verklärte Bundesrepublik ist groß, meint Professor Peter Grottian vom Berliner Otto-Suhr-Institut:
1989 wurden ihnen Bananen versprochen, und Hartz IV wurde ihnen gebracht, sie sind diskriminiert worden mit Arbeitslosigkeit und nicht mit neuen Arbeitsplätzen, und jetzt wird den Ostdeutschen die Vorstellung genommen, dass sie – auch wenn sie keine Arbeit haben – einigermaßen vernünftig leben können!
Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck sorgt sich schon um Politik- und Demokratieverdrossenheit seiner Landsleute. Tatsache ist, dass die Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen auf ein Rekordtief fiel, und die Wahlerfolge von DVU und NPD haben gezeigt, dass die Wähler offenbar noch anfälliger geworden sind für rechte Rattenfänger. Wolfgang Thierse warnt allerdings davor, die Ursachen allein bei Hartz IV zu suchen:
Ich erinnere mich daran, dass es bereits 1991 Anschläge auf Ausländer gegeben hat. Die brennenden Ausländerheime in Rostock werde ich nie vergessen, da war von Hartz IV noch nicht die Rede. Indem ich das sage, sage ich etwas sehr Beunruhigendes: Dass es in Ostdeutschland, aber nicht nur da, es ist kein ostdeutsches Problem, offensichtlich eine nicht geringe Anzahl von Menschen gibt, die verführbar sind.
Gewinnerin der neuen Ost-West-Diskussion ist auch die PDS. Sie wird weiterhin als einzige Ostpartei wahrgenommen. Ihr früherer Chef Gregor Gysi beklagte auf dem Parteitag in Potsdam vor zehn Tagen erneut, dass es 1990 statt einer Vereinigung einen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik gegeben habe – mit negativen Folgen auch für die Westdeutschen, denen bis heute eine positive Erfahrung der Einheit fehle:
Wenn man zum Beispiel gesagt hätte, wir übernehmen aus der DDR schon mal die Nachmittagsbetreuung an Schulen, die es dort schon gab, oder wir übernehmen mal, dass man Abfälle anders aufnimmt und wieder verwendet, also Sekundärrohstofferfassung, dann hätten die Westdeutschen heute in der Erinnerung an den 3. Oktober 1990 immer das Gefühl, dass sich auch durch die Übernahme von Ost-Erfahrungen ihre Lebensqualität erhöht hat, und dieses Erlebnis ist den Westdeutschen nicht gegönnt worden, und damit haben wir es mental mit heute zu tun!
Manfred Stolpe stimmt ihm in der Sache zu, doch nach seiner Überzeugung gab es nie eine echte Chance, in der Euphorie des Jahreswechsels 89/90 eine andere Politik zu betreiben:
Das war nicht machbar. Ich war ja in der politischen Verantwortung im Land Brandenburg von Anfang an, und wir haben schon gesehen, dass es im Gesundheitswesen Strukturen gab, denken Sie an das, was heute Gesundheitshäuser heißt und damals Polikliniken hieß, dass das sinnvoll wäre, wir haben auch schon gesehen, dass im Bereich Kinderbetreuung der Osten eine Nase vorn hatte, fast schon zwei Nasen vorn hatte, aber die Stimmung sprach dagegen, die Bereitschaft des Ostens, sich voll anzupassen, auf der einen Seite, und die Überzeugung des Westens, dass man sowieso in jeder Beziehung das bessere System hat, war eine Atmosphäre, wo man damals nichts machen konnte!
Was also bleibt 15 Jahre nach dem Mauerfall? Ist es allein die Hoffnung, dass die nachwachsende Generation die Unterschiede zwischen Ost und West verwischen wird? Meinungsforscherin Renate Köcher vom Institut Allensbach warnt auch da vor zu großen Erwartungen: "Junge Ostdeutsche sind auf Grund der Prägung in Ostdeutschland ihren Eltern und Großeltern viel ähnlicher als ihren Altersgenossen im Westen", davon ist sie überzeugt - umgekehrt ist es wohl genauso: Bei den West-Berliner Schülern jedenfalls, die an der Bernauer Straße von der deutschen Teilung erfahren, dürfte ihr Bild über die Ost-Berliner wohl noch lange von dem geprägt sein, was sie schon früh von den Erwachsenen erfuhren:
Was haben Euch denn Eure Eltern über den 9.November erzählt?... Also meine Eltern haben mir erzählt, als die Mauer halt gefallen war, dass die DDR-Bürger Mutter hat mir gesagt, dass die alle rübergelaufen sind und vor den Schaufenstern gestanden haben und geguckt haben und dann haben die ganze viele Bananen gekauft!