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20 Jahre Deutscher Zukunftspreis
Im Dickicht der Visionen

"Durch Deutschland muss ein Ruck gehen!" forderte 1997 der damalige Bundespräsident Roman Herzog und vergab erstmals den Deutschen Zukunftspreis. Seitdem wurde ein Laserbildschirm bejubelt, der leider floppte. Das ausgezeichnete mp3-Komprimierungsverfahren konnte sich zwar durchsetzen, aber das war auch schon vorher klar. Ein Rückblick auf die Geschichte des Deutschen Zukunftspreises.

Von Frank Grotelüschen | 27.11.2016
    Joachim Gauck übergibt 2012 das Objekt der Begierde an den Physiker Birger Kollmeier
    Joachim Gauck übergibt 2012 das Objekt der Begierde an den Physiker Birger Kollmeier (dpa)
    "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen!"
    "Es fing an mit dieser berühmten Ruckrede des damaligen Bundespräsidenten Herzog."
    "Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten!"
    "Dieser Aufforderung sollten in irgendeiner Form auch Taten folgen."
    "Glauben wir doch endlich wieder an uns selbst!"
    "Es war ein kluger Beraterkreis, der die Idee hatte, so etwas in eine Art Wissenschaftspreis umzusetzen und einen Preis des Bundespräsidenten daraus zu machen."
    Die Wände: schwarz. Das Licht: gedimmt. Die Exponate: im Raum verstreut. Ein Ausstellungsraum im Deutschen Museum, als Ehrenmal für die Träger des Deutschen Zukunftspreises.
    "Man wollte zeigen, dass Deutschland innovatives Potenzial hat, dass es aber nicht nur so ist, dass das Wissenschaft im Elfenbeinturm ist," Christiane Pudenz, Büro Deutscher Zukunftspreis, München, "sondern dass aus vielen Projekten tolle Innovationen geworden sind, die im Alltag brauchbar sind."
    19 Forscherteams haben den Zukunftspreis bisher gewonnen. Am 30. November kommt das 20. dazu.
    "Was dieser Preis bewirkt ist, dass eine breite Öffentlichkeit davon erfährt."
    Die Revolution des mp3-Formats
    Ein Touchscreen an einer Wand. Felder mit Jahreszahlen. Der größte Triumph zuerst:
    "Wir haben das Jahr 2000. Da geht es um mp3."
    Kennt jeder.
    "Der iPod, der in der Ausstellung lag, war in kürzester Zeit verschwunden."
    Kein Wunder.
    "mp3 war wirklich eine Revolution."
    "In den Jahren haben wir nie einen technischen Wettbewerb verloren."
    In Erlangen, am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, sitzt einer der Initiatoren dieser Revolution.
    "Wann immer unsere Technik mit einer anderen verglichen wurde: Wir waren immer ganz vorne!"
    Bernhard Grill hat mp3 erfunden, gemeinsam mit Kollegen wie Karlheinz Brandenburg und Harald Popp. mp3 kann Audiodateien auf einen Bruchteil ihrer Größe komprimieren, ohne dass es zu deutlichen Qualitätsverlusten kommt. Die Geschichte beginnt in den 80er-Jahren. ISDN ist gerade eingeführt, das digitale Telefon. In Erlangen sucht man ein Verfahren, mit dem sich Musik in passabler Qualität übers Telefon schicken lässt.
    Zwei Hände bedienen einen MP3-Player.
    Der Geburtsort des mp3-Formats liegt in Erlangen und ist auf Bernhard Grill zurückzuführen. (picture alliance / dpa / Romain Fellens)
    "Ist damals als lächerlich bezeichnet worden, weil wir von der Technik her einen Faktor 20 von dem weg waren, was man gebraucht hätte."
    Die Forscher bleiben am Ball, tüfteln jahrelang an einer Lösung. Auch die Konkurrenz versucht sich an der Technik, darunter der Philips-Konzern. Doch Grill und seine Leute haben die Nase vorn.
    "Wir hatten eine gute Technik – wie sich herausgestellt hat, die beste Technik weltweit. Allerdings hat man uns vorgeworfen, ein viel zu kompliziertes Verfahren gebaut zu haben. Es gab große Firmen der Unterhaltungselektronik, die noch 1995 gesagt haben: mp3 ist so kompliziert, dass es nie in irgendwelche Anwendungen für die breite Masse gehen wird. Das wäre eine Kopfgeburt von irgendwelchen Leuten von Forschungsinstituten, aber nichts, was die Industrie brauchen könnte!"
    Doch dann profitieren die Forscher von einer Entwicklung, die Mitte der 90er-Jahre noch in den Kinderschuhen steckt – dem Internet.
    "Amerikanische Studenten hatten versucht, Rockkonzerte über die Anfänge des Internets zu übertragen, und hatten geschrieben, dass die Datenrate ein Problem ist. Da haben wir gedacht: Hey, dafür haben wir die Lösung! Diese Anpassung haben wir in den Jahren 94, 95 gemacht. Der große Erfolg hat dann zwischen 96 und 98 eingesetzt. Innerhalb von Monaten ging die Nutzerzahl von einigen Dutzend auf Millionen hoch. Und heute ist es so, dass wohl kaum jemand auf der Welt das nicht verwendet."
    Musik als mp3 aus dem Netz herunterzuladen, um sie auf dem Computer zu hören – der erste Erfolg des neuen Verfahrens. Im Jahr 2000 werden Grill und seine Kollegen für den Zukunftspreis nominiert.
    "Wir waren noch nicht etabliert. Es war noch die wilde Anfangszeit, sag ich mal. Das war noch die Zeit vor dem mp3-Player."
    "Den Deutschen Zukunftspreis 2000 erhalten Prof. Karlheinz Brandenburg, Bernhard Grill und Harald Popp für das Projekt mp3."
    "Es war ein bisschen das Gefühl, in Deutschland anzukommen. Sie kennen ja den Spruch: Der Prophet im eigenen Lande gilt erst einmal nichts. Das war die erste große Anerkennung in Deutschland, dass mp3 von hier kommt."
    Das Urgerät aller mp3-Player
    Wenig später erlebt die Technik ihren zweiten Triumph: 2001 stellt Apple den iPod vor, den ersten erfolgreichen mp3-Player. Der allererste Prototyp jedoch stammt aus Erlangen – und existiert noch heute. Bernhard Grill stellt ein Plexiglaskästchen auf den Tisch, groß wie eine Zigarettenschachtel, darin eine Platine mit Mikrochips.
    Der Urvater des mp3-Players aus Erlangen
    Der Urvater des mp3-Players aus Erlangen (Frank Grotelüschen)
    "Das ist der Urvater aller mp3-Spieler. War genau eine Minute Musik drauf, aber es hat das Konzept demonstrieren können, wie klein man Musikabspieler bauen kann. 95 in Paris haben wir das auf einer Messe zum ersten Mal gezeigt."
    Funktioniert das Gerät noch? Einen Einschalter gibt es nicht, Bernard Grill schließt das Stromkabel an. Und tatsächlich. Und was hat das Verfahren seinen Erfindern gebracht? Eine Reihe von Preisen und Ehrungen, sagt Grill – und jede Menge Lizenzgebühren. Mittlerweile dürfte es eine Milliarde sein.
    "So in der Gegend." Gelder, von denen das Institut ganz konkret profitiert. "Wir haben etwa 250 Leute, die an den Audio-Multimedia-Themen forschen. Das ist praktisch das, was hier am Institut aus den Anfängen von mp3 geworden ist."
    Pudenz: "Wir haben keine 'Niete' dazwischen, wenn sich manchmal auch ein Projekt in eine andere Richtung entwickelt hat."
    Ein Klick auf den Touchscreen. "Wir sind im Jahr 1997. Das war die Geburtsstunde des Deutschen Zukunftspreises."
    Fernsehen der Zukunft
    "Den Deutschen Zukunftspreis 1997 erhält Diplomingenieur Christhard Deter." Deters Traum: Das Fernsehen der Zukunft.
    "Es ging um die Laser-Großbildprojektion. Letztlich sollte das Fernsehbild auf jede Wand in jedem Haushalt projiziert werden können."
    "Mit zwei Mann begonnen, nach einem Vierteljahr die Grundlösung erarbeitet und dann die Spezialisten gesucht, die exakt die speziellen Baugruppen entwickelt haben."
    1993: Erster Prototyp. 1997: Zukunftspreis. 2002: Insolvenz.
    Roman Herzog (r.) zu Besuch beim ersten Zukunftspreisträger Christhard Deter (mitte)
    Roman Herzog (r.) zu Besuch beim ersten Zukunftspreisträger Christhard Deter (mitte) (Jan-Peter Kasper)
    "Er hat nicht die damals gewünschte Umsetzung gefunden. Aber er hat eine sehr schöne gefunden, dass diese Laserprojektion heute wichtig ist für Flugsimulatoren."
    Nische statt Massenmarkt.
    "2004 – das Labor auf dem Chip." Ein Klick auf den Touchscreen. "Das war eine sehr, sehr lustige Truppe. Ganz, ganz lieb und sehr, sehr niedlich."
    "Ein Chip ist eigentlich eine Kartoffelscheibe. So haben wir angefangen: mit kleinsten Kohletabletten groß wie ein Stecknadelkopf. In Scheibenform war das dann der erste Chip."
    Französisch Buchholz, ein Stadtteil im Norden von Berlin. Im Garten seines Hauses hat sich Rainer Hintsche ein kleines japanisches Teehaus eingerichtet – sein Refugium, wie er sagt. Jetzt erinnert sich der 75-Jährige bei Kaffee und einem Stück Kuchen an seine Laufbahn, die in der DDR begann, nur ein paar Kilometer entfernt an der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch.
    "Das war 1983. Und man hat mich gefragt, ob ich damit beginnen wollte, eine Gruppe aufzubauen." Die Mission: die Entwicklung eines Biochips.
    "Dieser Begriff war weltweit noch nicht besetzt mit irgendwelchen konkreten Dingen. Die Grundlage dieses Biochips basiert darauf, dass man auf eine feste Unterlage Biomoleküle – Antikörper, Enzyme und auch DNA – fixiert. Der Trick war, dass diese Moleküle leben bleiben. Das so zu stabilisieren, dass das wie im Organismus arbeitet, aber technisch längere Zeit funktioniert."
    Doch wozu sollte so ein Biochip gut sein? "Wir haben das nicht gewusst." Dennoch tüfteln Hintsche und seine Leute weiter – und machen Fortschritte. "Das hat schon funktioniert, das ging schon. Wir haben prächtige Signale gesehen."
    Vision: Labor auf dem Chip
    Nach der Wiedervereinigung wird die Fraunhofer-Gesellschaft auf Hintsche aufmerksam, holt ihn zunächst nach Berlin-Wilmersdorf, dann ans Fraunhofer-Institut für Siliziumforschung nach Itzehoe, in die schleswig-holsteinische Provinz.
    "Ja, sicherlich nicht ganz so kulturell zufriedenstellend. Deshalb bin ich jedes Wochenende nach Berlin zurück, bis zum Ende."
    Für die Arbeit aber findet Hintsche hier beste Bedingungen.
    "Wir haben genutzt, dass Gold mit Schwefel eine starke Bindung verursacht. Und wir haben in Moleküle Schwefelgruppen eingeführt, die ganz spontan ans Gold gebunden haben. Und so konnten wir rasenartig die Biomoleküle fixieren."
    Hintsche hat ein "Labor auf dem Chip" entwickelt. Kaum größer als ein Fingernagel beherbergt es 128 winzige Reagenzgläser, kann Proteine und DNA-Schnipsel zielsicher aufspüren und die Signale direkt verarbeiten. Die Vision: Schnelle, billige Blut- und Urintests in der Arztpraxis, ohne die Proben ins Labor schicken zu müssen. Um das Patent zu vermarkten, gründet Hintsche ein Start-up-Unternehmen. Bald wittern Siemens und Infineon einen Massenmarkt, gehen mit Hintsche eine Kooperation ein. 2004 wird das Trio für den Deutschen Zukunftspreis nominiert. Am 11. November fällt die Entscheidung.
    "Das ist so spannend wie im Lotto. Man weiß nicht, was der Bundespräsident in seiner Westentasche für einen Namen mitgebracht hat."
    "Den Deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten 2004 erhalten Dr. Rainer Hintsche, Dr. Walter Gumbrecht, Dr. Roland Thewes."
    "Als wir auf die Bühne gebeten wurden, bin ich so schnell los, dass meine beiden Co-Preisträger von Siemens und Infineon nicht hinterherkamen. Ich musste abstoppen auf der Treppe."
    Dann die Dankesrede. Hintsche wagt sich weit vor.
    "Wir bedanken uns sehr bei Ihnen, Herr Bundespräsident, für den Preis. Und ich glaube, wir versprechen Ihnen, dass wir alles tun werden, damit die Produktion dessen, was wir uns ausgedacht haben, auch in Deutschland läuft."
    "Natürlich haben wir gedacht, wir können die Welt erobern damit." Heute, zwölf Jahre später bei Kaffee und Kuchen im Gartenhäuschen, ist die Euphorie verflogen. Oder wie es Hintsche formuliert: "Ernüchtert bin ich überhaupt nicht. Ich bin bloß vielleicht etwas realistischer geworden."
    Für die Masse, für den schnellen Test beim Arzt, konnte sich der Biochip nicht durchsetzen. Teststreifen, etwa für Diabetes oder Schwangerschaft, sind schlicht billiger. Und Blutanalysen werden heute von hocheffizienten Automaten erledigt, im Akkord und zu Spottpreisen.
    "Ich bestücke den Automaten mit Blutproben, und er macht aus der Blutprobe zehn bis 20 Parameter, ohne dass da jemand sich dran vergreift. Das ist ökonomisch eine Dimension, wo man mit Vor-Ort-Geräten und alles mit Handarbeit überhaupt nicht hinterherkommt."
    Was übrig blieb, sind Nischenmärkte. Etwa beim Militär, beim Aufspüren biologischer Kampfstoffe.
    Bundespräsident Horst Köhler überreicht den Deutschen Zukunftspreis an Rainer Hintsche (Mitte) und Walter Gumprecht (links)
    Bundespräsident Horst Köhler überreicht den Deutschen Zukunftspreis an Rainer Hintsche (Mitte) und Walter Gumprecht (links) (AP)
    "Dort gibt es wohl noch Anwendungen, die im kommerziellen Bereich betrieben werden. Soweit ich das sehe an der Nutzung der Patente, ist das zurzeit noch aktiv."
    Bald nach dem Zukunftspreis verabschiedet sich Infineon von der Sache. Siemens macht weiter, aber:
    "Soweit ich gehört habe, ist die ganze Entwicklung an eine größere Industriefirma überführt worden. Ich weiß es nicht. Ich muss ehrlich gestehen: Mit meiner kleinen Firma hatte ich dann möglicherweise nicht mehr den richtigen ökonomischen Überblick. Wir werden das weltweit finden, dass ab einer gewissen Größe die Leute ihr Baby in geschäftliche Hände geben müssen."
    "Es ist ja nicht so, dass das ein klassischer Bewerbungspreis ist. Man muss ausgesucht werden. Man muss vorgeschlagen werden."
    Zum Zukunftspreis wird man vorgeschlagen
    Vorschlagsberechtigt: 18 Institutionen. Die Großen, die Etablierten.
    "Das sind die großen Wissenschaft- und Wirtschaftsorganisationen dieses Landes. Das geht von Max Planck bis hin zum BDI."
    Zwei Dutzend Vorschläge, jedes Jahr. "Dann gibt’s ein mehrstufiges Verfahren bei der Jury." Die Jury: Zehn Fachleute aus Wirtschaft und Wissenschaft. Renommiert und etabliert.
    "Das wird in einer ersten Jurysitzung heruntergebrochen auf ca. zehn oder acht. In einer zweiten auf die drei oder vier Teams, die dann in die Endrunde kommen – der Kreis der Besten."
    Nominiert für den Deutschen Zukunftspreis. Bereits eine große Ehre. Wenn man nicht wieder von der Liste fliegt.
    "Wir sind eine große Klinik, operieren jedes Jahr 3.500 Patienten. Ich bin dafür zuständig."
    Prof. Axel Haverich, Medizinische Hochschule Hannover, Leiter der Klinik für Herz-, Thorax-, Transplantations- und Gefäßchirurgie. Ein Chirurg für heikle Fälle.
    "Das ist jetzt genau 20 Jahre her, ich kann mich gut entsinnen."
    1996 heißt der russische Präsident Boris Jelzin, und es geht ihm schlecht. Er muss am Herzen operiert werden, braucht Bypässe. Der Westen will helfen.
    "Damals hatte mich Bundeskanzler Kohl sehr animiert, dort hinzufahren. Ich hatte erst gesagt: Das ist keine gute Idee, der Patient möge doch nach Hannover kommen. Dann habe ich in den 14 Tagen vor dem Eingriff jeden Abend mit dem Bundeskanzler telefoniert, der mich dann davon überzeugt hat, dass das nicht möglich sei, dass der Patient sein Land verlässt in der Situation."
    Haverich fliegt nach Moskau und assistiert beim Eingriff. Sieben Stunden dauert die OP, 68 Minuten steht Jelzins Herz still. Dann ist es geschafft.
    "Wir hatten nachher eine große Pressekonferenz. Ich habe dann gesagt, zehn Jahre halten diese Bypässe. Und sie haben meine ich elf oder zwölf gehalten."
    Nominierung für Ersatzherzklappen für Kinder
    Zwölf Jahre später, 2008, wird Haverich gemeinsam mit zwei Kollegen für den Deutschen Zukunftspreis nominiert. Das Team hat ein spektakuläres Verfahren entwickelt: Ersatzklappen für herzkranke Kinder, die mitwachsen und deshalb nicht mehr ausgetauscht werden müssen. Den Kindern bleiben weitere Eingriffe erspart. Ausgangspunkt des Verfahrens sind die Herzklappen von Organspendern.
    "Diese Klappen werden kühl gelagert und in einem etwa 14-tägigen Prozess einer Dezellularisierung unterzogen: Wir nehmen mit einem chemischen Verfahren sämtliche Zellen aus dieser Matrix, sodass nur noch das Gerüst übrig bleibt. Ich erkläre das manchmal mit einer Wachstuch-Tischdecke, die meist so ein Leinengerüst darunter hat. Und dass man das Wachs rausnimmt, sodass nur noch das Gerüst übrig bleibt."
    Dieses Herzklappen-Gerüst pflanzen die Ärzte dann ein.
    "Und der Körper selbst besiedelt das dann mit den eigenen Zellen."
    1999 beginnen die Mediziner mit Versuchen an Schafen. Das Resultat überrascht: Das Gerüst wird nicht nur von körpereigenen Zellen besiedelt, sondern sogar komplett durch sie ersetzt.
    "Sodass wir nach etwa einem halben Jahr nach der Implantation praktisch eine Klappe vorliegen haben, die ausschließlich aus patienteneigenem Gewebe besteht."
    Dann wollen die Forscher das Verfahren am Menschen testen, und zwar möglichst rasch. "Das war eine absolut verrückte Geschichte, wie das zustande kam." Sie hat zu tun mit Haverichs Assistent Serghei Cebotari. Er stammt aus Moldawien.
    "Der hat die Experimente durchgeführt und sagte 2001, dass man jetzt so weit sei, dass man klinisch implantieren könnte – die Klappen in den Schafen sehen fantastisch aus. Dann habe ich gesagt: Das geht auf gar keinen Fall. Nein, nein, sagte er – nicht hier, aber in Moldawien. Da habe ich gesagt: Das geht schon gar nicht."
    Doch Haverich lässt sich umstimmen. Zum einen scheint es in Deutschland schwierig, die Innovation zu testen – die EU-Richtlinie für derartige Versuche ist noch nicht umgesetzt. Zum anderen wird in Moldawien längst nicht jedes herzkranke Kind operiert, künstliche Herzklappen sind für viele Familien schlicht zu teuer. Die neue Methode aus Deutschland – so hofft die Uniklinik im Moldawien – verspricht Abhilfe.
    "Dann haben wir noch über Verträge zwischen den Universitäten das soweit abgesichert, dass wir zwar mit Schweiß auf der Stirn dann diese Operation dort gemacht haben. Und das ging gut."
    2002 wird das erste Kind in Moldawien operiert, 2005 folgt das erste in Deutschland. Als Haverich und sein Team im Oktober 2008 für den Zukunftspreis nominiert werden, haben sie rund 30 Kinder behandelt. Doch zwei Wochen später kommt ein Anruf – die DFG, die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Sie zieht die Nominierung zurück.
    "Ich weiß noch, dass ich mehrfach mit dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft telefoniert habe. Er befand sich zu dem Zeitpunkt in Indien und hat mich in 48 Stunden sicher drei- bis viermal angerufen und gesagt, dass das die Situation sei, und dass das auch unabänderlich sei."
    Ein Mediziner der Charité in Berlin behauptet, er habe die Methode der Dezellularisierung, des chemischen Wegschwemmens der Herzzellen, bereits früher patentiert.
    "Aber auf der klinischen Seite waren wir zu dem Zeitpunkt schon sehr viel weiter. Und unser Verfahren setzte sich auch ganz klar ab von den patentierten Verfahren."
    Hinzu kommt: Journalisten kritisieren, dass Haverich seine Methode zuerst in Moldawien getestet hat. Dabei habe er zwei Ethikkommissionen ins Leben gerufen und um Rat gefragt. Einwände habe es damals nicht gegeben.
    "Die Art und Weise, wie es medial verarbeitet wurde – das war schon anstrengend für mich und die Familie. Denn von Karnickelversuchen zu reden und von medizinethisch außerordentlich zweifelhaftem Vorgehen – das trifft das Seelenleben eines Chirurgen. Das war hart zu ertragen."
    Haverich will Klarheit und greift zu einem drastischen Schritt: eine Selbstanzeige bei der DFG wegen wissenschaftlichem Betrug.
    "Dann kam das Ergebnis, dass ich natürlich heiß ersehnt habe: Da kam die Aussage der DFG, dass die Kommission eindeutig zum Schluss gekommen war, dass kein wissenschaftliches Fehlverhalten vorgelegen hat. Und das tut dann gut in so einer Situation. Dann war völlig klar, dass unsere Patentsituation klar war."
    Mittlerweile wurden rund 260 Kindern die mitwachsenden Herzklappen eingepflanzt.
    "Die ältesten Klappen sind jetzt 14 Jahre drin. Wir könnten viel mehr von diesen Klappen herstellen und auch sehr viel mehr implantieren. Aber die Gewebespende ist das Nadelöhr für diese Anwendung."
    Vom Zukunftspreis aber will Axel Haverich nichts mehr wissen. Eine zweite Nominierung? Kein Thema für ihn.
    "Es wurde mal die Frage an mich herangetragen. Und das fand ich keine gute Idee. Eine Suppe, die schon mal sauer war, noch mal aufzuwärmen – das ist nicht gut. Ich habe im Sommer dieses Jahres den Queens-Award im Buckingham Palace abgeholt, also den Innovationspreis in Großbritannien. Das fand ich eine schöne Rehabilitation."
    "Wir haben 1998. Da ging es um die Innovation von Prof. Grünberg."
    Das Deutsche Museum, eine Wand voller Namen. Weiß auf schwarz: sämtliche Preisträger, von 1997 bis heute.
    "Das ist es, das ist unser Effekt, den wir gesucht haben!"
    Peter Grünberg, Physiker, Forschungszentrum Jülich. Ein Effekt, der bessere Leseköpfe für Festplatten möglich macht. Resultat: mehr Speichervermögen. "Das ist natürlich ein Effekt, der riecht nach Anwendungen."
    "Er hat später dann den Nobelpreis bekommen." Den Nobelpreis für Physik. Richtiger Riecher.
    "Jetzt schreiben wir das Jahr 2001." Nominiert: Theodor Hänsch, Laserphysiker. "Das ist wie ein Lineal, mit dem man Abstände in Spektren ausmessen kann."
    Ein anderer gewinnt, Hänsch geht leer aus. Doch 2005: "Man hat scharfe Spektrallinien" - erhält er den Physiknobelpreis. Kein richtiger Riecher.
    "Daran sieht man sehr schön, wie wichtig die wirtschaftliche Umsetzung ist. Bei dem Projekt von Professor Hänsch war die wirtschaftliche Umsetzung nicht sichtbar. Und so unterlag der spätere Nobelpreisträger einem anderen."
    Nobelpreisträger, Industriekonzerne, Etablierte. Wo bleiben die Jungen, die Namenlosen, die mit den zündenden Ideen aus dem Hinterhof? Ist für sie kein Platz in der Hochglanzwelt des Zukunftspreises?
    "Das glaube ich nicht. Es sind gar nicht so wenige kleine Unternehmen. Wir haben zum Beispiel ein Start-up gehabt, die sind sogar ein zweites Mal reingegangen." Auf Nachfrage kommt: Sennheiser. Nicht gerade eine Garagen-Firma.
    Ein letztes Mal: ein Klick auf den Touchscreen. "Das ist das Projekt aus 2014. Da ging es darum, dass ein Team des Fraunhofer-Instituts den Lupinensamen als Grundstoff für Lebensmittel entwickelt hat."
    Anzahl der Preisträger bisher: 47. 40 Männer, sieben Frauen. "Ja, der Frauenanteil lässt immer noch leider zu wünschen übrig."
    Stephanie Mittermaier ist umgeben von Gerätschaften
    Stephanie Mittermaier arbeitet am Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (Frank Grotelüschen)
    "Hier riecht es ein bisschen. Sollte eigentlich nicht sein." Freising, das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung. Stephanie Mittermaier läuft durch das Technikum – eine Halle voll mit Bottichen, Mühlen, Sortierern und wuchtigen Tonnen. Mittermaier greift in einen Schrank und holt ein kleines Fläschchen hervor.
    "Unser Rohstoff ist die Lupinensaat, so wie sie getrocknet vom Feld kommt. Ähnlich wie eine Sojabohne oder eine Erbse. Hat eine hellbeige Schalenfarbe, ist leicht nierenförmig, sonst ziemlich rund."
    Lebensmittel aus der Lupine
    Die Lupine. Eine Hülsenfrucht, an sich kennt man sie nur als Viehfutter oder Gründünger. Zu Unrecht, meint Mittermaier.
    "Sie ist einheimisch, hat kurze Transportwege, sehr gute Proteineigenschaften und könnte damit eine Alternative zu Soja darstellen."
    Wäre da nur nicht der Geschmack.
    "Lupinenmehle haben eine grüngrasige, bohnige Note. Und wir wollten wissen: Was ist da dahinter, welche Substanzen schmecken und riechen nach grüngrasig-bohnig in der Lupine? Es waren bis zu 50 verschiedene Aromastoffe, wovon ungefähr 25 einen starken Einfluss auf das Aroma der Lupine haben. Das ganze Zusammenspiel macht aus, dass die Lupine grüngrasig-bohnig riecht und schmeckt."
    Im Technikum zeigt Stephanie Mittermaier auf ein massives Metallgestell mit Rohrleitungen und Druckmessern. Hier werden die Lupinensamen mit einer speziellen Variante von CO2 malträtiert – und verlieren den Großteil der übelschmeckenden Aromaöle.
    "Da ist Hochdruck im Spiel. Mit der Anlage kann man bis auf 900 bar gehen. Das ist schon ein ordentlicher Druck, der hier aufgebaut werden kann."
    Nach weiteren Prozessschritten ist das Endprodukt fertig: ein mehlartiges Pulver, proteinreich, neutral im Geschmack.
    "Im Jahr 2009 wurden viele Gespräche mit großen Partnern geführt, die alle gesagt haben: Lupinentechnologie, das ist uns zu heiß, weil die Lupine kennt ja keiner."
    Also gründeten die Forscher ihre eigene Firma, die Prolupin GmbH. "Dafür wurde ein rein pflanzliches Speiseeis hergestellt und dann auch vermarktet."
    Mittermaier steuert ein weiteres Labor an, das Milchtechnikum: Rührwerke, die vermengen, emulgieren und erhitzen.
    "Hier wurde das Speiseeis entwickelt, hier wurden die verschiedenen Lupinendrinks entwickelt, Joghurt, Frischkäse."
    In einem Reagenzglas ist ein weißer Stoff zu sehen - Lupinenmehl
    Lupinenmehl wird von "Prolupin" hergestellt (Frank Grotelüschen)
    2011 kam das Lupineneis auf den Markt. 2014 wurde Stephanie Mittermaier gemeinsam mit ihrem Kollegen Peter Eisner und der damaligen Prolupin-Geschäftsführerin Katrin Petersen für den Deutschen Zukunftspreis nominiert.
    "Wir haben uns eher als Außenseiter gefühlt. Als der Umschlag aufgemacht worden ist und unsere Namen vorgelesen worden sind, konnte ich’s zunächst gar nicht glauben. Ich habe echt einen Moment gebraucht, denn mir war eigentlich klar, dass das andere Team aufgerufen wird."
    Hat der Preis geholfen, die Lupine bekannter zu machen?
    "Definitiv. Es ist nicht mehr so, dass man überall erklären muss, was Lupinen sind. Viele sagen: Habe ich schon gehört, weiß, was es ist."
    Nach der Auszeichnung aber lief längst nicht alles glatt: Firmen aus der Ökoszene meldeten sich zu Wort und verwiesen darauf, schon seit Langem Lebensmittel aus Lupinen anzubieten, wenn auch auf der Basis von anderen Herstellungsmethoden. Und: Prolupin hatte mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, tauschte die Geschäftsführung aus, änderte den Markennamen – und versucht nun, auf den Vegan-Trend aufzuspringen.
    "Vielleicht gibt’s ja eines Tages auch ein Lupinenschnitzel auf dem Markt." Stefanie Mittermaier arbeitet daran.
    "Wir zeichnen Menschen aus, die großartige Ideen hatten und die das zu Produkten gemacht haben, was sie sich erdacht haben."
    Für 2016 stehen die Nominierten fest:
    "Wir machen laserbasiertes weißes Licht." Sie bauen neuartige Autoscheinwerfer. "Wir machen laserbasiertes weißes Licht und können damit viel effizienter und lichtstärker auf die Straße gehen."
    Und sie erfinden einen Beton, der als Stütze keinen Stahl mehr braucht. "Wir haben eine neue Art zu konstruieren entwickelt, bei der Carbon die Bewehrung im Beton ist."
    Und schließlich: ein reibungsarmer Verbrennungsmotor. "Ein superwirtschaftliches Verfahren, das relativ einfach einen großen Vorteil bringt, was das Thema Kraftstoffverbrauch und Fahrzeug-Emissionen angeht."
    Elektromobilität? Fehlanzeige. Dafür gab es den Deutschen Zukunftspreis noch nie. In 20 Jahren nicht.
    Eine Sendung von Frank Grotelüschen
    Es sprachen: Claudia Mischke und Volker Risch
    Technik: Kiwi Eddy
    Regie: Anna Panknin
    Redaktion: Christiane Knoll
    Produktion: Deutschlandfunk 2016