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2000 Jahre Varusschlacht

Sie rechneten nicht mit dem Unheil, das mit brutaler Gewalt auf sie einstürzte, plötzlich im Herbst des Jahres 9 nach Christus. Sie müssen sich in Germanien bereits zuhause gefühlt haben, auch wenn es dort windig und regnerisch war - so ganz anders als in ihrer Heimat.

Von Matthias Hennies |
    "Wir haben neben einigen Speichern und Schuppen Wohnhäuser, die vom Grundriss italienischen Atriumhäusern entsprechen. Der einzige Unterschied ist, dass das Atrium sehr wahrscheinlich überdacht war, wenn wir hier das Wetter sehen - vielleicht hört man sogar den Wind pfeifen - dann wird man sehr gut verstehen können, dass man das Wohnzimmer hier nicht zum Himmel offen ließ."

    Römische Siedler erbauten eine kleine Stadt tief in Germanien.
    Die Reste liegen nicht weit vom Ufer der Lahn im fruchtbaren hessischen Hügelland. Armin Becker, der hier im Örtchen Waldgirmes die Ausgrabung leitet, ist überzeugt: Die Kolonisten fühlten sich nicht im Feindesland, sondern errichteten eine zivile Siedlung wie daheim in Italien.

    "Die weitere Art von Bauten, das sind Bauten, die einen Laubengang entlang der Straße haben und hinter diesem Laubengang lagen zum Teil offene Geschäftsräume. Das ist ganz ähnlich wie wenn man schon mal in Pompeji war, die steinernen Portiken, wir hatten das hier in Holz mit 'ner ähnlichen Funktion."

    Als in Waldgirmes vor ein paar Jahren die ersten römischen Grundrisse ans Licht kamen, war die Fachwelt verblüfft. Kein Altertumskundler hatte erwartet, dass römische Siedler friedlich neben germanischen Gehöften gelebt haben - nur wenige Jahre bevor die Germanen drei römische Legionen unter Führung des Quinctilius Varus vernichteten. Doch seitdem kommt immer wieder Neues über den legendären Kampf zwischen Varus und Arminius im Jahr 9 nach Christus zutage.

    Die Debatte über den Ort der "Schlacht am Teutoburger Wald", wie der antike Autor Tacitus sie nannte, hat neue Nahrung erhalten. Und was folgte nach Roms katastrophaler Niederlage? Germanien sei dann rein germanisch geblieben, heißt es traditionell in den Geschichtsbüchern. Abgesehen von einem halbherzigen Rachefeldzug hätten sich dort nie wieder Römer blicken lassen. Das sei der "Urknall" der deutschen Geschichte gewesen, meinen manche sogar. Die überraschenden Erkenntnisse von Archäologen und Historikern stellen dieses althergebrachte Bild jedoch infrage. Zum Beispiel in Waldgirmes.

    Die umgebenden Hügel, mit kahlem Buschwerk bewachsen, liegen friedlich im hellen Licht der Frühlingssonne, aber über das offene Land fegt ein heftiger Wind. Mitten in den Wiesen leuchtet ein weiter, mit strahlend weißem Kies bestreuter Platz. Vor rund 2000 Jahren standen drei offene Hallen darum herum, erklärt Dr. Becker, die größte ragte etwa 11 Meter in den Himmel. Sie hatte vermutlich Räume für Gerichtsverhandlungen, Ratssitzungen und die Verehrung des Kaisers.

    "Das ist sicher das wichtigste Gebäude in der gesamten Anlage, auf dem beruht auch die Interpretation der Anlage als zivile Stadtgründung, denn es ist ein Bau, der vom Grundriss her anderen Fora in Italien und Gallien und auch in Spanien entspricht."

    Gerade am Forum, dem Verwaltungszentrum und traditionellen römischen Ortsmittelpunkt, wird deutlich, wie weit die Erschließung Germaniens bereits fortgeschritten war. Die offizielle Grenze zum Imperium Romanum folgte noch den Flüssen Rhein und Donau, doch Kaiser Augustus hatte sich zum Ziel gesetzt, die germanischen Gebiete bis zur Elbe als neue Provinz ins Reich einzugliedern. Die Ausgrabung in Waldgirmes zeigt, dass Rom dort bereits eine zivile Infrastruktur aufbaute. Armin Becker hat noch einen eindrucksvollen Beleg dafür.

    "Fünf vergoldete Reiterstatuen - unter denen sicherlich eine Augustus-Statue gewesen sein muss - dass man die so früh schon aufgebaut hätte, auch dafür gibt es keine Vergleiche."

    Jedenfalls nirgendwo im Barbarenland. Becker zeigt auf die fünf Sockel für die Statuen, die seine Kollegen mitten auf dem Forum gefunden haben: Die Standbilder demonstrierten den Germanen den überlegenen Reichtum der römischen Zivilisation.

    Im Städtchen von Waldgirmes siedelte Rom offensichtlich Kolonisten aus dem Imperium an. Sie brachten nicht nur ihren Baustil, sondern beispielsweise auch ihre Gewürze und Pflanzen mit. Auf dem feuchten Grund eines Brunnens fanden Becker und seine Kollegen Pollen von Anis und Kerne von Oliven, die aus Italien importiert worden waren.

    Das Holz, mit dem der Brunnen verschalt war, lieferte ihnen ein Baudatum: Mithilfe der Baumring-Methode ermittelten sie, dass der Brunnen im Winter des Jahres 4 auf 3 vor Christus angelegt worden ist.

    Schon vor Christi Geburt fühlten sich die Römer zumindest in Teilen Germaniens so sicher, dass sie begannen, neben den Germanen ein friedliches, ziviles Leben zu führen. Der antike Geschichtsschreiber Cassius Dio hat es treffend dargestellt:

    Ihre Soldaten bezogen hier ihre Winterquartiere, Städte wurden gegründet und die Barbaren passten sich ihrer Lebensweise an, besuchten die Märkte und hielten friedlich Zusammenkünfte ab.

    Im Jahr 6 nach Christus kam Publius Quinctilius Varus als neuer Statthalter nach Germanien. Römische Autoren brandmarkten ihn als Versager, weil sie einen Sündenbock für die außergewöhnlich schwere Niederlage gegen die Germanen suchten. Doch Varus, aus einem alten Aristokraten-Geschlecht, hatte in Rom eine Bilderbuch-Karriere hingelegt. Er zählte zu den erfahrensten und fähigsten Männern des Kaisers.

    In Germanien kümmerte er sich um die Entwicklung der künftigen Provinz: Sprach vermutlich Recht, führte Bündnis-Verhandlungen und trieb vielleicht schon Tribute ein. Warum die Germanen sich plötzlich gegen ihn und seine Besatzungstruppen empörten, ist nicht mehr zu klären. 9 nach Christus war die Lage ziemlich unübersichtlich geworden, denn manche Stammesführer standen weiter zu Rom, andere aber hatten sich gegen das Imperium gewandt. Ihnen war wohl nach jahrelanger Besatzung allmählich klar geworden, dass die römische Herrschaft ihr Leben grundlegend verändern würde. Varus' fataler Fehler war, dass er die Unruhe nicht bemerkte. Den Ausschlag gab jedoch, dass ein begabter germanischer Anführer genau zur rechten Zeit am rechten Ort erschien.

    Es gab damals einen jungen Mann aus vornehmem Geschlecht, der tüchtig im Kampf und rasch in seinem Denken war, ein beweglicherer Geist, als es die Barbaren gewöhnlich sind. Er hieß Arminius.

    Besonders zuverlässig sind die Informationen des antiken Schriftstellers Velleius Paterculus nicht. Doch in diesem Fall trifft seine Charakterisierung einmal zu.

    Dem Cherusker Arminius gelang es, mehrere germanische Stämme zum gemeinsamen Kampf zu bewegen - das hätte wohl kein Römer für möglich gehalten. Die Stämme im Land zwischen Rhein und Elbe lagen meist im Streit miteinander. Sie fühlten sich nicht als zusammengehöriges Volk der "Germanen". Diesen Namen hatten ihnen die Römer gegeben, um die Gruppen rechts der Rheingrenze von den "Galliern" auf der anderen Seite des Flusses abzugrenzen.

    Arminius' eigene Familie war in der Haltung zur Rom gespalten. Sein Vater stand gegen das Imperium, sein Bruder tat irgendwo Dienst in den römischen Legionen, sein Schwiegervater warnte den Statthalter Varus sogar vor dem Aufstand. Doch der junge Mann nutzte die Gelegenheit. Er besaß Überzeugungskraft - und Ehrgeiz. Der Archäologe Michael Zelle:

    "Nichts deutet daraufhin, dass es um einen germanischen Befreiungskampf gegangen ist, sondern es ging um auch persönliche Ziele von Arminius. Er hatte ja die Wahl, sich auf die Römer einzulassen oder eher dagegen zu steuern, er hat sich entschieden, eher dagegen zu steuern und hatte in diesem Sinn nicht die große germanische Sache vor Augen, sondern seine eigene Positionierung und das hing mit dem Gesellschaftssystem zusammen."

    Zelle, beschäftigt beim Landesmuseum Detmold, erforscht das Heimatland des Arminius: die Siedlungsspuren der Cherusker zwischen Lippe und Weser.

    Wer bei den Germanen etwas bedeuten wollte, erklärt er, musste ein großes Gefolge hinter sich versammeln. Germanische Krieger waren es gewohnt, einem Herrn so lange zu folgen, wie er ihnen genug Ruhm und Beute verschaffte. Reichte ihnen nicht mehr, was der Gefolgsherr bieten konnte, schlossen sie sich einem anderen an.

    Arminius besaß das Zeug zu einem großen Gefolgsherrn, denn er war auch auf dem Schlachtfeld ein überragender Anführer.

    "Wir wissen ja auch, dass er in römischen Militärdiensten gestanden hat, dort eben auch römische Taktik erlernen konnte und insofern hatte er da natürlich Vorteile."

    Der junge Cherusker wusste aus eigener Anschauung, wie gut die Legionen gerüstet waren. Jeder Soldat trug Panzerhemd und Helm, war mit Lanze und Schild, Schwert und Dolch bewaffnet. Wenn die Legionäre auf freiem Feld in der gefürchteten Schlachtreihe antraten - Mann neben Mann, Schild neben Schild, die schweren Lanzen vorgestreckt - bildeten sie eine beinahe unbesiegbare eiserne Walze.

    Was konnten germanische Krieger dagegen setzen? Der römische Autor Tacitus hat sie seinen Lesern vorgestellt:

    Nur wenige haben ein Schwert oder eine größere Lanze. Sie tragen Speere mit schmaler und kurzer Eisenspitze. Selbst der Reiter begnügt sich mit Schild und Speer. Sie sind halbnackt und tragen nur einen leichten Umhang. Wenige haben einen Panzer, kaum der eine oder andere einen Helm oder eine Lederkappe.

    Doch Arminius nahm gegen die weit überlegene Besatzungsarmee die Taktik des modernen Guerillakriegs vorweg. Er nutzte die Geografie seiner Heimat und lockte die drei Legionen in unbekanntes, unwegsames Gebiet. Mal gerieten sie in dichte Wälder, wo die Wege holprig und schmal waren, mal fanden sie sich vor kahlen grauen Mooren, in denen versinken musste, wer sie durchqueren wollte.

    Der meilenlange Heereszug kam immer wieder ins Stocken, die Verbindung zwischen den Abteilungen riss ab. Und dann stürzten halbnackte germanische Krieger aus dem dunklen Unterholz, dem dichten Schilfgürtel der Moore, den Taleinschnitten des bergigen Landes. Sie machten nieder, wen sie zu fassen bekamen und verschwanden blitzartig, wenn Verstärkung eintraf. Mit diesen unaufhörlichen, blutigen Nadelstichen brachten sie der Armee über mehrere Tage hinweg schwere Verluste bei. Und die Römer fanden kein offenes Land, wo sie den Gegner in den bewährten Schlachtreihen angreifen konnten.

    Am Teutoburger Wald, berichtet Tacitus, seien die ungleichen Armeen aufeinander getroffen. Welchen Landstrich er meinte, darüber wird seit rund 500 Jahren gestritten - aus einem einfachen Grund:

    ""Das, was heute Teutoburger Wald heißt, hieß bis in die frühe Neuzeit hinein "Osning”."

    Der Fürstbischof von Münster und Paderborn hat den Osning 1672 in "Teutoburger Wald" umgetauft. Welche Bergkette diesen Namen in der Antike trug, weiß niemand. Vielleicht war es eine kleine Erhebung am Rand des Großen Moors, nördlich von Osnabrück.

    Unter hohen Eichen stehen Bauerngehöfte mit moosbedeckten Ziegeldächern, daneben weiden kurzbeinige Kaltblutpferde. Aus dem bleigrauen Himmel fällt ein feiner, nicht enden wollender Regen. Der Wiesenstreifen, der sich zum Kalkrieser Berg hinüberzieht, ist klatschnass und rutschig. Hier soll sich vor genau 2000 Jahren das Schicksal Germaniens entschieden haben.

    "Wir haben hier unsere ersten Grabungen angefangen, haben sehr schnell interessante Funde entdeckt, das waren römische Münzen und vor allem Militaria, sehr früh ist die Gesichtsmaske eines römischen Helms aus dem Boden gekommen und wir konnten feststellen, dass hier eine künstliche Anschüttung, ein Wall, errichtet worden war."

    Am Fuß des kleinen Berges, zeigt Susanne Wilbers-Rost, hielten germanische Krieger den Wall besetzt und attackierten die letzten, erschöpften Legionäre des Quinctilius Varus. Dr. Wilbers-Rost leitet seit vielen Jahren die Ausgrabungen in Kalkriese. Sie ist überzeugt: Hier endete im Jahr 9 nach Christus die Varusschlacht. Seit Jahren kommen hier unzählige Bruchstücke römischer Waffen und Ausrüstung zutage:

    "Es waren Waffenteile dabei, keine ganzen Waffen, aber Lanzenspitzen, Geschützbolzen, Fibeln, die man eindeutig den römischen Soldaten zuweisen konnte, auch viele weitere Bruchstücke römischer Soldatenausrüstungen, auch Teile von Pferdegeschirr, von Wagenteilen vereinzelt, und die Datierung ergab dann ganz allmählich eine Verbindung mit dem Jahr 9, dem Jahr der Varusschlacht."

    Doch die Einwände gegen diese Datierung werden lauter. Die Kritiker bringen den unmittelbar folgenden römischen Feldzug ins Spiel: Kaiser Augustus hatte so lange von einer germanischen Provinz geträumt, dass er den Plan trotz der furchtbaren Niederlage der Varus-Armee nicht aufgab. Sechs Jahre später marschierten erneut Legionen durch Germanien. Und das war kein halbherziger Versuch, die Ehre der sieggewohnten Legionen wiederherzustellen. Der neue Feldherr Germanicus sollte das bereits sicher geglaubte Gebiet ins Imperium zurückholen. Professor Reinhard Wolters, Historiker an der Universität Tübingen:

    "Der hat dann über drei Jahre mit sehr, sehr großer Entschiedenheit, sehr, sehr großem Militärpotenzial zielstrebig versucht, das Gebiet bis zur Elbe wiederzuerobern."

    Lässt sich tatsächlich nachweisen, fragt Wolters, dass Varus im Jahr 9 am Kalkrieser Berg kämpfte? Könnten es nicht Truppen des Germanicus gewesen sein, in den Jahren 15 und 16?

    Susanne Wilbers-Rost stützt ihre Datierung vor allem auf die Münzfunde: Archäologen können viele Ausgrabungen anhand der Münzen datieren, weil sie wissen, wann die Geldstücke geprägt wurden.

    "Die Münzen geben zumindest an, dass es irgendwann zwischen 7 und 10 passiert sein muss, mit großer Wahrscheinlichkeit. Wir haben keine jüngeren Münzen, die nach meiner Einschätzung eigentlich zu erwarten wären, wenn es sich um ein jüngeres Schlachtfeld handelte."

    Doch Wolters, Experte für Münzkunde, wendet ein: In dem schmalen Zeitfenster von sechs oder sieben Jahren ermöglichten Münzen keine genaue Datierung.

    "In den Jahren zwischen 9 und 16 nach Christus ist so wenig und so unregelmäßig geprägt worden, dass man davon ausgehen muss, dass die im Jahre 9 umlaufenden Münzen zu 99 Prozent identisch mit den Münzen sind, die im Jahre 16 nach Christus umgelaufen sind."

    Demnach hätte man in Kalkriese keine jüngeren Münzen gefunden, weil es so gut wie keine gab. Man könnte grundsätzlich nicht unterscheiden, was im Jahr 9 und was 15 oder 16 nach Christus geschah.

    Über diese These wird im Fach noch gestritten. Aber die Ausgräber haben ein anderes gutes Argument dafür, dass am Kalkrieser Berg die Varusschlacht zu Ende ging: Im Boden vor dem Wall haben sie mehrere Gruben gefunden, in denen Knochen von Gefallenen lagen. Zur ihrer Verwunderung stellten die Wissenschaftler fest, dass die meisten Skelettreste von Tieren angenagt und von Wind und Wetter gezeichnet waren.

    "Das heißt, die römischen Toten sind nicht nach der Schlacht sofort bestattet worden, sondern erst mal einige Jahre den Wildtieren, der Witterung ausgesetzt gewesen, erst dann sind die Knochen in den Boden gekommen. Die Fachleute haben uns gesagt, zwischen zwei und zehn Jahren müssen vergangen gewesen sein."

    Diese Diagnose deckt sich weitgehend mit der Schilderung des antiken Historikers Tacitus: Die gefallenen Legionäre des Varus wurden erst bestattet, als die Truppen des Germanicus am Ort der verlorenen Schlacht eintrafen.

    "So bestattete das römische Heer, das jetzt hier war, sechs Jahre nach der Niederlage die Gebeine der drei Legionen. Da niemand wusste, ob er die Reste Fremder oder die seiner Angehörigen mit Erde bedeckte, begruben sie sie alle als Freunde und Blutsverwandte, trauernd und zugleich in wachsendem Zorn auf den Feind. "

    Nach der Katastrophe der Varus-Armee räumte Rom alle Stützpunkte zwischen Rhein und Elbe - auch das Städtchen in Waldgirmes. Die leeren Gebäude steckte man in Brand, die goldenen Statuen wurden zerschlagen. Die Ausgräber haben an verschiedenen Stellen des Ortes Bruchstücke gefunden.

    Doch die Varusschlacht führte nicht zu einer radikalen politischen Wende, wie man lange glaubte. Die Römer gaben ihre Ansiedlungen danach nicht endgültig auf. Bei den Ausgrabungen in Waldgirmes kam eine Straße ans Licht, die später noch einmal ausgebaut und neu befestigt wurde. Auch das Militärlager Haltern in Nordrhein-Westfalen ist nach einer ersten Räumung wohl noch einmal benutzt worden. Die Archäologen vermuten, dass Truppen des Germanicus die alten Anlagen wieder als Stützpunkte verwendeten.

    Das Ende der Expansionspläne kam erst, als Germanicus keinen entscheidenden Sieg erringen konnte, weil Arminius und seine Krieger erneut zähen Widerstand leisteten. Daraufhin verzichtete Kaiser Tiberius, der Nachfolger des Augustus, auf eine Provinz Germanien. Der Historiker Wolters fasst zusammen:

    "Die Wende war im Jahr 16 nach Christus, die Truppen wurden auf die Rheinlinie zurückbefohlen und die rechtsrheinischen Plätze - abgesehen von manchen Anlagen im Nordseeküstenbereich - wurden auch aufgegeben."

    Wie folgenreich war diese Entscheidung für die Geschichte Germaniens? Die Stämme zwischen Rhein und Elbe blieben unabhängig, doch der römische Einfluss nahm nach einigen Jahrzehnten Pause wieder deutlich zu. Das zeigen die ersten Ergebnisse in dem großen Forschungsprojekt "Corpus römischer Funde im europäischen Barbaricum".

    Die mitarbeitenden Archäologen werten systematisch alle römischen Funde aus "Barbaren"-Ländern aus, bis weit über die deutschen Grenzen hinweg. Gegen Ende des 1.Jahrhunderts nach Christus, haben sie ermittelt, gelangten wieder mehr römische Güter nach Germanien - und erstaunlicherweise vor allem in weit entfernte Landesteile.

    Klar ist, dass germanische Häuptlinge Luxusgüter aus dem Imperium zu schätzen wussten - manchmal sorgten sie sogar dafür, dass die römischen Waren direkt in ihrem Stammesgebiet hergestellt wurden. In Thüringen zum Beispiel legten Archäologen eine Töpferei frei, die Keramik nicht nur im römischen Stil, sondern auch mit römischer Technik produzierte. Aus Niedersachsen und Franken sind ähnliche Funde bekannt. Woher kamen die römisch geschulten Handwerker? Professor Siegmar von Schnurbein, die graue Eminenz der Römisch-Germanischen Archäologie:

    "Ob das nun Germanen waren, die lange im römischen Reich gelebt haben und dann heimgegangen sind oder ob das Kriegsgefangene waren oder ob das gar von den germanischen Oberen angeforderte Spezialhandwerker waren, die dort tätig wurden, dass können wir natürlich im Einzelfall nur schwer entscheiden."

    Viel spannender ist ja auch die Frage, warum die Häuptlinge Waren bestellten, mit denen sie scheinbar gar nichts anfangen konnten: Sie ließen Unmengen der unverwechselbaren Schalen töpfern, in denen römische Köche Koriander rieben - obwohl im kalten Germanien gar kein Koriander wächst! Sie übernahmen Produkte aus Rom, vielleicht weil sie repräsentativ waren, aber nicht den damit verbundenen Lebensstil.

    "Es blieben fremde Gegenstände, die man aber nach eigenem hergebrachten Leben verwendet hat. In den eigenen Haushalt integriert hat, als Prestigeobjekt oder sonst wie, aber die germanische Kultur ist damit nur ganz unwesentlich romanisiert worden. Wir haben zum Beispiel überhaupt keine Hinweise darauf, dass römische Pflanzen, zum Beispiel von Edelobst, adaptiert worden wären. Die Landwirtschaft blieb komplett so wie sie vorher war."

    Der Limes blieb eine Kulturscheide - wenn auch kein eiserner Vorhang, wie lange in den Geschichtsbüchern stand. Waren flossen über die Grenze, Germanen strömten als Arbeitskräfte und Söldner ins Reichsgebiet und die Legionen kehrten nach Germanien zurück. Das hat Ende 2008 eine Ausgrabung bei Northeim gezeigt: In einem Kiefernwald auf den letzten Hügeln des Harzes schlug eine hochgerüstete römische Armee einen germanischen Überraschungsangriff zurück.

    Das Gefecht fand im 3. Jahrhundert nach Christus statt, vielleicht in den Jahren 230 - 235. Diese Entdeckung hat die Experten in Aufruhr versetzt: Bis dahin hatte niemand geglaubt, dass nach dem Jahr 16 noch einmal Legionen durchs Barbarenland gezogen wären, denn die großen römischen Geschichtsschreiber berichten nichts von dramatischen Kämpfen in Germanien. Hätte man die weniger bedeutenden Quellen ernst genommen, hätte man es aber ahnen können. Die "Historia Augusta" etwa notiert große Taten des Kaisers Maximinus Thrax im Jahr 235 nach Christus:

    Er zog also in das rechtsrheinische Germanien hinein und ließ im Barbarenland auf einer Breite von dreißig bis vierzig Meilen die Dörfer niederbrennen, die Herden wegtreiben, Beute machen und viele Barbaren töten.

    Rom musste in jener Zeit aktiv werden, denn seit Beginn des 3.Jahrhunderts attackierten Germanen zunehmend die Grenze an Rhein und Donau. 233 gelang den Alemannen ein großer Plünderungszug jenseits des Limes. Ein Gegenschlag war dringend nötig, um größeres Unheil zu verhindern.

    Inzwischen würde sich wohl kaum noch jemand wundern, wenn weitere Spuren von Gefechten oder Stützpunkten in Germanien ans Licht kämen. Doch romanisiert wurde das Land nie: Der zähe germanische Widerstand in den Jahren 9 - 16 führte tatsächlich zu einem historischen Einschnitt.

    Für Jahrhunderte planten die römischen Kaiser zwar noch eine Rückeroberung, hatten aber immer wichtigere Aufgaben zu lösen. Sonst hätte sich vielerorts die städtische Kultur entwickelt, die sich im Markt- und Verwaltungszentrum Waldgirmes schon abzeichnete. Und Steinbau, Edelobst oder Wasserleitungen, die zahllosen kulturellen Fortschritte aus dem Mittelmeerraum, wären rund tausend Jahre früher nach Germanien gekommen.

    Mit der deutschen Geschichte allerdings haben die Schlachten der Jahre 9 bis 16 nach Christus nichts zu tun. Reinhard Wolters bringt es auf den Punkt.

    "Das sind ganz verschiedene Sachen. Das Deutsche, das beginnt 1000, 1500 Jahre später. Im 15. Jahrhundert, als die Bewohner rechts des Rheins im Grunde genommen ihre Identität suchten, waren die antiken Schriften wiederentdeckt worden. Und aufgrund derselben Region haben die damaligen Deutschen, also die Bewohner rechts des Rheins, sich völlig unhistorisch mit dem Germanen gleichgesetzt und die Geschichte der Germanen als ihre eigene angenommen."