Donnerstag, 28. März 2024

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30 Jahre Mauerfall
Familiäre Einheitsfeier auf dem Darß

Landeskorrespondent Johannes Kulms lernte als Kind kurz nach dem Mauerfall eine Ostberliner Familie kennen. Die Freundschaft hält bis heute an - ebenso wie der Austausch. Während die Ostberliner Eltern mit dem Untergang der DDR haderten, profitierten ihre Kinder von der neuen Freiheit.

Von Johannes Kulms | 24.10.2019
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Landeskorrespondent Johannes Kulms (rechts) mit der befreundeten Familie aus Ostberlin (Deutschlandradio (Johannes Kulms))
Ich kam 1986 auf die Welt. Direkte Erinnerungen an den Mauerfall habe ich nicht. Und trotzdem tauchen vor meinem inneren Auge bei dem Thema schnell Bilder auf: dunkle Straßen. Kopfsteinpflaster. Die riesigen Dinosaurier im Naturkundemuseum, die Fahrten mit der Straßenbahn. Es sind die Erinnerungen an unsere Besuche in Berlin kurz nach der Wende bei den Freunden meiner Eltern, Conny und Lothar, mit ihren Kindern Marie und Jacob.
Frühe Kindheitserinnerungen an Ostberlin
Erst viele Jahre später habe ich verstanden, die Familie lebte in der Bornholmer Straße, im letzten Haus vor dem Todesstreifen. Genau dort, wo am 9. November 1989 der erste Grenzübergang geöffnet wurde. Jacob war damals sieben Jahre alt.
30 Jahre Mauerfall / Meine ganz persönliche Wende
Am Abend des 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Unsere 16 Landeskorrespondenten berichten, wie sie den Mauerfall und die Zeit davor und danach erlebt haben – ob als Demonstrant der DDR-Opposition, im tiefen Westen vor dem Fernseher, als Korrespondentin in Brüssel oder noch als Kind.
"Ich weiß noch, dass ich damals aufgewacht bin in der Nacht, weil so viel Lärm war. Und ich bin ins Wohnzimmer gegangen und da standen Marie, Mutti und Papi am Fenster. Und sie haben gesagt, die Mauer ist auf und ich habe gesagt, okay und bin wieder ins Bett gegangen."
Glückliche Kindheit hinter der Mauer
Ganz anders für seine Schwester Marie. Die war an dem Abend fast elf Jahre alt und der Mauerfall sollte ihr Leben prägen. Ihre Kindheit im Schatten der Mauer hat sie als bunt in Erinnerung. Natürlich habe es viel Überwachung gegeben. Aber gleichzeitig fehlte der Verkehr, es gab viel Bewegungsfreiraum für Kinder.
"Wir sind Schlüsselkinder gewesen. Und diese Art von Freiheit und Eigenverantwortung, die wir da sehr früh gelernt haben, die war letztlich – und das ist eigentlich ein absolutes Kuriosum – möglich vielleicht, weil die Mauer da war. Also, die Mauer war für uns als Kinder ein Garant von Freiheit."
An diesem 4. Oktober 2019 sehe ich Marie, Jacob, Conny und Lothar wieder. Unsere Familien treffen sich auf dem Darß in Mecklenburg. Zu einer ganz persönlichen Einheitsfeier.
Als Erwachsene ins Ausland
Jacob ist inzwischen 37 Jahre alt. Mit seiner katalanischen Frau Mireia und den zwei Kindern wohnt er in der Nähe von Barcelona. Und Marie? Die ist 40, lebt mit ihrem Partner Indridi in dessen isländischer Heimat. Und freut sich, dass die gemeinsame Tochter Saga hier am Ostseestrand buddeln kann:
"In Island ist doch Sand immer schwarz. Selbst unser Sandkasten ist mit schwarzem Sand gefüllt!"
Die Mutter von Marie und meine Mutter haben sich vor fast 50 Jahren auf einer Silvesterfeier in Budapest kennengelernt. Häufig besuchte meine Mutter danach ihre Conny in Ostberlin und schmuggelte heimlich Bücher und taz-Ausgaben über die Grenze.
An diesem Abend auf dem Darß sitzen wir alle um einen großen Tisch. Conny liest einen Brief vor, den sie meiner Mutter am 6. Oktober 1990 geschrieben hat, kurz nach der Feier zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober.
Enttäuschung über die Wiedervereinigung
"'Geliebte Landsleute! Wie unsagbar schade für euch, daß' (mit ß!) 'ihr die hehren Feiern nicht hier in Berlin erleben durftet. Die großen Worte, die großen Gesten. Den großen Gestank von Bratwurst vor allem und Bierdunst und all das Fahnengeschwenke und die fußballerhafte Seelenhaftigkeit. Die Stadt glich einem Panoptikum. Und wenn wir dies als Zeichen nehmen für all das, was da noch kommt – besser nicht!'"
Conny, so erzählt sie, war enttäuscht, dass die DDR nur elf Monate nach dem Mauerfall so sang- und klanglos in ein westlich dominiertes Gesamtdeutschland integriert wurde. Und liest weiter:
"'Alles hat was von Abschied. Wir wünschen nichts von den alten Zeiten zurück. Aber das alles so gänzlich zerstampft und weggefegt, schließlich nur noch belächelt wird, ist kein guter Beginn für ein Land mit diesem Anspruch!'"
Ein langes und spannendes Gespräch entwickelt sich an diesem Abend – 29 Jahre nach diesem Brief. Warum nicht das Gute aus der DDR übernehmen und daraus etwas Neues machen? Das hätten sich damals auch viele andere Freunde gefragt, sagt Conny. Ihr Mann Lothar verlor kurz vor der Wiedervereinigung seinen Job als Grafiker. Bewerbungstrainings kannte er nicht. Und so klopfte Lothar bei einer kleinen Werbefirma um die Ecke an, wo gerade ein Schriftenmaler gesucht wurde.
"Weil ohne Arbeit, konnte ich mir nicht vorstellen und kein Geld zu haben und dann die Kinder. Und das war so eine Selbstüberwindung und ich habe so was noch nie gemacht."
Während die Eltern mit dem Untergang der DDR gehadert haben, haben ihre Kinder Marie und Jakob von der neuen Freiheit profitiert. Später sind sie hinausgegangen in die Welt, haben Wurzeln geschlagen im Ausland.
Glücklich über die Freiheit
Für Jakob hat sich die Frage nach Ossi oder Wessi eigentlich nie gestellt, erzählt er. Erst mit dem Studium in England änderte sich das.
"Da habe ich viel gedacht, das hätten meine Eltern nie machen können! Und ich lebe jetzt hier, das ist doch schon irgendwie verrückt! Das ist ja noch nicht so lange her, was da alles passiert ist. Und da habe ich dann so ein bisschen angefangen zu reflektieren."
Für seine ältere Schwester Marie war es anders, sie begann schon früh ihre Identität zu hinterfragen. Spätestens 1996, als sie für ein Jahr als Austauschschülerin nach Stockholm ging. Im Sommer davor hatte die Familie in Schweden Urlaub gemacht. Im Rückblick sagt sie heute, dass sie bei diesem Schwedenurlaub das Gefühl hatte …
"… in ein Land zu kommen, das war wie die DDR in gut."
Schweden – die bessere Ausgabe des Sozialismus? Die Landschaft sei ähnlich, der Staat sorge für einen meint Marie.
Heute arbeitet sie im Tourismus-Bereich. Häufig führt sie deutsche Besuchergruppen durch Island. Und jedes Jahr lebt sie einige Monate in Berlin, bietet dort Führungen an und erzählt von ihrer Kindheit am früheren Mauerstreifen. Für sie ist der 9. November 1989 ein Glücksfall gewesen. Und sie versucht diesen Tag stets in Berlin zu verbringen. Zusammen mit ihrer Familie und ihren Freunden.
Ein sentimentales Datum
"Also, es ist schon so, dass ist für mich ein Tag, der für mich eine sentimentale Bedeutung hat und der eine Rolle für mich spielt. Einfach weil ich weiß, da bin ich mir mittlerweile sehr sicher, dass ich als der Typ, der ich bin, in der DDR auf lange Sicht nicht glücklich geworden wäre."
Und Jacob? Seit einiger Zeit erlebt er in seiner Wahlheimat Katalonien ein wachsendes Interesse an der DDR. Immer wieder kämen Leute auf ihn zu, die meinten, die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen müsse er doch als früherer DDR-Bürger verstehen können. Kurios, beinahe ironisch sei das.
"Weil da wurde ein Land vereint. Und das, was die hier wollen ist ja, eine identitäre Mauer zu ziehen. Und nicht eine einzureißen."
Der Fall der Mauer hat unser Leben bereichert, darin sind wir alle – Jung und Alt - uns an diesem Abend einig. Und wer weiß, ob ich sonst diese tolle Familie kennengelernt hätte.