Mittwoch, 08. Mai 2024

Archiv


4.5.2004 - Vor 100 Jahren

Die Schalker Verteidigung weit aufgerückt. Der Rechte Verteidiger Bornemann stürmt nach vorn, gibt zu Szepan, Szepan zu Kuzorra, Kuzorra zu Kalwitzki, Kalwitzki Schuss...

Von Helmut Böttiger | 04.05.2004
    Das war die mythische Zeit von Schalke 04. Es sind, das merkt man der schnarrend erregten Stimme des Reporters an, die dreißiger Jahre. Hier handelt es sich um das Endspiel zur Deutschen Meisterschaft im Jahre 1939, wir befinden uns kurz vor dem 7:0 für die Schalker – 9:0 wird dieses Spiel ausgehen, und der Reporter ist darüber auf merkwürdige Weise verzweifelt.

    Es ist ein Pech für die Mannschaft von Admira Wien, für den Meister der Ostmark, dass er den Gegner heute in einer Form antrifft, die nicht mehr zu überbieten ist. Die Schalker sind heute die beste Mannschaft, und keine andere Mannschaft hätte ihr heute im Olympischen Stadion widerstehen können.

    Dabei war ein Verein wie Schalke 04 eigentlich gar nicht vorgesehen. Dass er im Jahre 1904 gegründet wurde, ist nur durch mündliche Überlieferung bekannt, es existiert keine Gründungsurkunde und kein Protokoll. Schalke war eine von vielen Straßenmannschaften aus den Zechenkolonien des Ruhrpotts, die Jungs traten wild gegen den Ball, ohne Einbindung in die bürgerliche Vereinsordnung. Die Bewohner der Kohle- und Stahlreviere Westdeutschlands waren fast nur Einwanderer, aus Polen und den damaligen deutschen Ostgebieten. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das unbedeutende Dorf Schalke in rasender Geschwindigkeit zum industriellen Zentrum Gelsenkirchens, und der furiose Aufstieg von Schalke 04 begann 1920, von der vierten Spielklasse bis in die höchste. Doch immer noch wurde der Verein im Deutschen Fußball-Bund totgeschwiegen – in der veröffentlichten Geschichte gab es bloß den Verein "Spiel und Sport Schalke 1896", den bürgerlichen Part.

    Langsam erkannten die Werksführungen der Zechen, welche Funktion Fußball für die Integration der Arbeiterschaft in das bestehende System haben konnte: Die Spieler Schalkes mussten nicht mehr unter Tage fahren, erhielten leichtere Arbeiten und gewisse Vergünstigungen. Fußball diente dem sozialen Aufstieg. Das widersprach allerdings der Ideologie des Deutschen Fußball-Bunds, der auf einen rigiden Amateurstatus beharrte. Im November 1929 wurde die Leiche von Wilhelm Nier, des Kassierers von Schalke, aus dem Rhein-Herne-Kanal gefischt: er hatte sich umgebracht, weil kurz zuvor die Mannschaft wegen Verstoßes gegen den Amateurparagraphen für den Spielbetrieb gesperrt wurde.

    Doch die Realität war nicht mehr zu umgehen. Fußball bot für das Proletariat ein ungeheures Identifikationsmuster, er war identisch mit dem Leben. Ernst Kuzorra, der Schalker Heros, blickte als Fünfzigjähriger zurück:

    Da war ich kaum 6 Jahre, da war ich schon ein guter Fußballer!

    Und auch die unsichere Frage des Interviewers wird souverän gekontert:

    Sie sind auch in Schalke hier geboren? – Ohne weiteres, ja.

    Dass die größte Zeit Schalkes ausgerechnet die unter den Nazis war, ist eine teuflische Ironie der deutschen Geschichte. Die Rettung ins Unpolitische, die Integration der Arbeiterschaft in bürgerliche Strukturen bereitete den Aufstieg Schalkes im Hitlerreich vor; die Nazis bedienten sich effektvoll des proletarisches Charakters dieses Vereins. Sechs der sieben Deutschen Meisterschaften Schalkes wurden zwischen 1935 und 1944 errungen. Ernst Kuzorra:

    Unser größtes Spiel, das wir je in der Vereinsmannschaft hatten, das haben wir 1937 gegen die Engländer gemacht. Die haben wir nämlich mit 6:2 verhauen.

    1958 wurde Schalke noch einmal Deutscher Meister. Trotz aller Bemühungen, bürgerliche Strukturen einzuführen, blieb es lange ein proletarischer, anarchischer Verein, der die bunte Vielfalt des Lebens unmittelbar in den Fußball übersetzte – ein Fan, Faktotum und Entscheidungsträger wie der legendäre Charly Neumann kündete davon; zwei Zentner neben dem Trainer auf der Bank. Heute aber versucht Schalke, durch professionelles Management auf der Höhe der Zeit zu sein, und sich im Parkstadion Gelsenkirchen blicken zu lassen bedeutet für die gehobenen Kreise dasselbe wie früher der Besuch der Oper. Die einzigartige Geschichte von Schalke ist für das Marketing dabei ein wichtiges Faustpfand – und das wird bestimmt noch eine ganze Weile so gehen.