Karl-Heinz Hemeyer: "Lauterberg ist industriemäßig als Standort mehr als negativ anzusehen. Deshalb verlagere ich die Produktion nach Bitterfeld. Außerdem: Es ist der politische Wille, dass im Osten die Industrie aufgebaut wird. Früher haben die Lauterberger immer gewollt, dass wir hier rausgehen, weil sie Kurstadt sein wollten. Heute ist es umgekehrt, dass sie mich hier halten wollen."
Dietmar Henschel: "Zumal man ja nicht vergessen darf, dass ungefähr 30-40 km von hier der geographische Mittelpunkt liegt von Deutschland, muss man sagen, haben wir gedacht: jetzt liegen wir richtig im Zentrum! Aber früher waren wir wirklich am Arsch der Welt – und heute springen sie über uns weg, ne! Heute sind wir noch weiter weg als vorher!"
Zwei Stimmen aus Bad Lauterberg am Harz, im ehemaligen Zonenrandgebiet an der innerdeutschen Grenze. Karl-Heinz Hemeyer und Dietmar Henschel – der Firmenchef und der Betriebsratsvorsitzende. Der eine wird einen Teil seiner Firma, die Bad Lauterberger Blechwarenfabrik, 200 km nach Osten verlegen, nach Bitterfeld. Der andere wird dabei - gemeinsam mit 50 Kollegen - seinen Job verlieren. Die Arbeiter, die Hemeyer in Bitterfeld einstellen wird, werden nicht einmal die Hälfte dessen bekommen, was Henschel heute in Bad Lauterberg verdient. Kein Tarifvertrag, kein Weihnachtsgeld, kein Urlaubsgeld, niedrigere Stundenlöhne, nur 20 Tage Urlaub. Der Betriebsrat kämpft noch gegen den Umzug, der Bad Lauterberger Stadtdirektor Otto Matzenauer hat schon resigniert.
Otto Matzenauer: "Wir haben 10 Jahre mit der Firma Gespräche geführt, nicht nur die Stadt Bad Lauterberg, sondern auch der Landkreis Osterode, hier ist also landkreisweit versucht worden, der Firma zu helfen, auch in Nachbarorten, Nachbarstädten für ein entsprechendes Betriebsgelände zu sorgen. Aber letztendlich hat die Firma Lauterberger Blechwarenfabrik mit dem Eigentümer Hemeyer sich für Bitterfeld wegen der bekannten Fördermöglichkeiten und wegen des doch erheblich niedrigeren Lohnniveaus für diesen neuen Standort Bitterfeld entschieden und gegen Bad Lauterberg. Man muß nur fairerweise feststellen, dass sich das alles im legalen Bereich abgespielt hat, so dass Vorwürfe im rechtlichen Bereich nicht zum Tragen kommen können, soweit das jedenfalls bekannt ist."
Bittere Töne, die man heute allenthalben im ehemaligen Zonenrandgebiet hört. Dabei hatte doch alles so hoffnungsvoll angefangen, damals vor elf Jahren: Als die Grenze offen war, strömten die Ostdeutschen ins Grenzgebiet, kauften Bananen, Autos, Waschmittel, Kleidung, Bohrmaschinen. Das Geld fiel fast vom Himmel, man musste nur den Löffel aus dem Fenster halten. Die Kom munen, jahrzehntelang durch die Randlage in der Bundesrepublik benachteiligt, verdoppelten oft ihre Gewerbesteuereinnahmen innerhalb von ein oder zwei Jahren. Eigentlich die Chance des Lebens für Kommunen und Unternehmer im ehemaligen Zonenrandgebiet – möchte man meinen. Aber allenthalben erhebt sich heute Katzenjammer. So zum Beispiel in Duderstadt im Eichsfeld in Südniedersachsen .
Lothar Koch, Bürgermeister von Eichsfeld: "Den Gemeinden an der innerdeutschen Grenze in Niedersachsen geht es hundserbärmlich; in 30 Jahren Kommunalpolitik habe ich so etwas noch nicht erlebt, ich kann behaupten: Kommunalpolitik, kommunales Handeln, das Gestalten eines ganz persönlichen Antlitzes einer Stadt ist nicht mehr möglich! Jetzt hoffen wir natürlich auf die neuen Möglichkeiten der EU-Förderung, aber das enthebt noch lange nicht die Bundesregierung, das Notstandsgebiet innerdeutsche Grenze diesseits der früheren Grenze aus den Augen zu verlieren."
Woran liegt es, dass nun wieder die Kommunen im ehemaligen Zonenrandgebiet jammern, die doch jetzt mitten in Deutschland liegen? Woran liegt es, dass sie die große Chance nicht ergriffen haben oder nicht ergreifen konnten? Ist es so, wie viele Kommunalpolitiker behaupten? Dass die Unternehmen massenhaft in den Osten umziehen, um dort hohe Förderungen zu kassieren, so dass das ehemalige Zonenrandgebiet 10 Jahre nach der Wiedervereinigung wieder Sonderförderung bräuchte? Der Landrat von Osterode, Bernhard Reuter, sieht es nüchterner.
Bernhard Reuter: "Ja, die Industrie hat über Jahrzehnte hier im Zonenrandgebiet unter besonderen Bedingungen gearbeitet, besonders günstigen Bedingungen! Im Wesentlichen durch die Sonderabschreibungen bedingt. Es haben sich dadurch Strukturen erhalten, die sich unter dem Druck eines globalisierten Wettbewerbs als nicht wettbewerbsfähig erwiesen haben. Und die wirkte sich im Landkreis Osterode so aus, dass jeder dritte industrielle Arbeitsplatz weggefallen ist."
Oder anders gesagt: Wenn Deutschland sich nicht vereinigt hätte, wären die Arbeitsplätze auch abgebaut worden, da sie dem globalen Wettbewerb nicht mehr gewachsen waren. Der Strukturwandel kam nur vielleicht etwas verzögert, weil die jahrzehntelang gewährte Zonenrandgebiet-Förderung den Anpassungsdruck verringert hatte.
Hinzu kommt aber auch das Abwandern von Betrieben. Dies wird allgemein besonders schmerzlich empfunden, wenn die betreffende Firma gen Osten wandert und sich vielleicht nur wenige Kilometer hinter der ehemaligen Zonengrenze in Thüringen oder Sachsen-Anhalt wieder niederlässt. Denn dort warten neben den niedrigeren Löhnen hohe Investitionszulagen vom Staat – bis zu 50%! Darum geht es auch bei der Lauterberger Blechwarenfabrik, die einen Betriebsteil nach Bitterfeld verlagert. Karl-Heinz Hemeyer kann in modernste Technik investieren – und das Finanzministerium zahlt die Hälfte der Rechnung. Damit kann er den Sozialplan für die 50 Entlassenen in Bad Lauterberg locker bezahlen. In Niedersachsen hätte er statt der 50 maximal 18% Zuschuss bekommen können. Aber der Lohndrücker West ist zugleich der langersehnte Investor Ost.
Karl-Heinz Hemeyer: "Dort bin ich mit vollen Händen, mit offenen Armen aufgenommen worden und hier schmeißt mir die PDS vor, dass ich nur die Vergünstigungen mitnehme und hier die Kameraden im Stich lasse, das ist nicht so! Wir bekommen die normale Förderung, die jedes Unternehmen im Osten auch bekommt. Und die Region freut sich, bei 25% Arbeitslosigkeit, dass dort ein produzierendes Unternehmen hinkommt."
Das hohe Fördergefälle an der innerdeutschen Grenze hat in den letzten zehn Jahren einige kleine Firmen im Westen, meist Handwerksbetriebe, veranlasst, ganz in den Osten umzuziehen. Oft nahmen sie ihr Personal sogar mit. Zu größeren Firmenumzügen kam es kaum, meist wurden Betriebsteile im Osten neu geschaffen oder dorthin verlagert. Und das ist schließlich auch Sinn der höheren Förderung im Osten: Den Verfassungsauftrag der gleichen Lebensverhältnisse zu erfüllen. Zudem gilt es zu bedenken: Nirgends gibt es einen Anspruch auf Förderung, jeder Antrag wird durch die Wirtschaftsministerien individuell geprüft und beschieden. Auch die jeweiligen Förder-Höchstsätze, 28% im Westen und 50% im Osten, gelten nur für kleine und mittlere Betriebe und auch nur in besonders strukturschwachen Gegenden. Im Westen wird dies als normales regionales Gefälle gesehen, wird aber die ehemalige innerdeutsche Grenze überschritten, wird daraus ein Ost-West-Problem. Außerdem gilt seit 1999: Investiert ein Betrieb aus einem Grenzkreis im Westen in einem Grenzkreis im Osten, dann wird er nur im Einvernehmen der betroffenen Bundesländer gefördert – und das maximal mit dem im Westen gültigen, niedrigeren Fördersatz.
Außerdem hätten die Bürgermeister und Stadtdirektoren, die jetzt jammern, jahrzehntelang die Zonenrandförderung genossen, meint Bernd Beck, der Bürgermeister von Heiligenstadt in Nord-Thüringen.
Bernd Beck: "Aber diese 50% hat es ja vor 30-40 Jahren in der alten Bundesrepublik auch gegeben! Man darf ja nicht verkennen: Die neuen Bundesländer sind ja zum strukturschwachen Gebiet von Europa erklärt worden. Deshalb sind ja diese Förderungen auch in dieser Höhe! In vier oder fünf Jahren haben wir das nicht mehr, dann werden wahrscheinlich diese hohen Fördersätze nach Polen, Ungarn oder die Tschechei verlagert! Und dann werden wir wieder lamentieren und sagen: Jetzt zieht man von Deutschland dahin! Man muß auch anders sehen: Wenn die Förderung hier nicht wäre, dann würden eben nicht 3.000 von unserem Bereich nach Niedersachsen-Hessen auspendeln, dann wären es eben 6.000!"
Stichwort Pendler: Auf den Straßen über die ehemalige Zonengrenze vollzieht sich jeden Morgen eine kleine Völkerwanderung: Tages- und Wochenpendler aus dem Osten auf dem Weg zur Arbeit im Westen. Natürlich arbeiten auch zunehmend Westdeutsche im Osten, aber in weit geringerem Umfang.
Bernhard Reuter: "Der Einpendlerüberschuss ist sehr groß, der Druck auf dem Arbeitsmarkt ist auch sehr groß, und dies wirkt sich v.a. für die wenig Qualifizierten im Landkreis verheerend aus. 4.668 Tausend Arbeitslose, das entspricht einer Quote von 13,2%."
Bernhard Reuter ist Landrat im Westkreis Osterode und weit davon entfernt, die Pendler zurückweisen zu wollen. Sie brächten Qualifikationen und Leistungsbereitschaft mit, die sie offenbar eventuellen westdeutschen Konkurrenten um den Arbeitsplatz voraus hätten. Tendenziell lässt sich sagen, liegt die Arbeitslosigkeit in Grenzkreisen im Westen etwa zwei Prozentpunkte höher als im westlichen Durchschnitt, im Osten liegt sie ein Prozentpunkt unter dem dortigen Durchschnitt. Außerdem drücken die Einpendler aus dem Osten das Einkommensniveau im Westen, was die Grenzregion zu einer Art Übergangsregion bezüglich Einkommen und Arbeitslosigkeit zwischen Ost und West macht, allerdings immer noch mit einem deutlichen Sprung an den Landesgrenzen!
Bernhard Reuter: "Interessant ist auch, dass trotz der hohen Arbeitslosigkeit im Landkreis es nicht immer gelingt, den jeweils passenden Arbeitnehmer/ Arbeitnehmerin zu finden. Das deutet auf ein Qualifikationsproblem hin. Das ist auch der politische Ansatz, den der Kreistag und ich konzipiert haben: Die einzige relevante Stellschraube, an der wir arbeiten können, ist die Qualifikation! Wir haben in den letzten zwei Jahren fast unsere gesamte Investitionskraft konzentriert, da sind jetzt erste Erfolge auch sichtbar im Ausbau der berufsbildenden Schulen, aber auch in der Fähigkeit dieser Berufsschulen, z.B. Weiterbildungslehrgänge, Lehrgänge für Arbeitslose anzubieten.
Ich rechne damit, dass wir eine längere Zeit mit dem Strukturwandel zu leben haben. Langfristig werden die Vorteile der Lage mitten in Deutschland, mitten in Europa durchschlagen, deshalb ist mir um die langfristige Zukunft des Landkreises Osterode nicht bange, mir ist aber deutlich, dass wir mindestens die nächsten 10, vielleicht auch 20 Jahre durch eine schwierige Phase hindurchgehen. Aber gerade die Ergebnisse der letzten Monate zeigen auch, vorsichtig interpretiert, ist schon Licht am Ende des Tunnels zu erkennen!"
Gerade hier im südlichen Niedersachsen wird besonders deutlich, dass die Regionen abseits der bestehenden Ost-West-Autobahn-Verbindungen oftmals in hinterwäldlerischer Abgeschiedenheit existieren, trotz der Lage mitten in Deutschland. Ein Problem, dass angesichts des Widerstands gegen Straßen-Neu- oder Ausbauten schwierig zu lösen sein wird. Aber ohne moderne Infrastruktur bleiben Teile des ehemaligen Zonenrandgebiets vergessene Inseln mitten in Deutschland.
Schichtwechsel bei Amazon
Glück gehabt mit der Infrastruktur hat das hessische Bad Hersfeld, am Schnittpunkt der A 4 aus Dresden, A 5 aus Basel und der Nord-Süd-Achse A 7. Von hier aus lässt sich jeder Ort in Deutschland über Nacht erreichen. Dies hat viele Logistikunternehmen hierher gelockt, angeführt von German Parcel. Der Paketdienst hatte sich mit Glück und dem richtigen Riecher schon 1988 hier angesiedelt. Die wohl bekannteste neue Firma in Bad Hersfeld ist Amazon.de, der Internet-Buchversand. Zum Schichtwechsel strömen Hunderte junger Leute zum Parkplatz, geschafft von der harten Woche. Im vergangenen Herbst feierte Amazon.de seinen zweiten Geburtstag, die Amazon Logistik GmbH, die für die Auslieferung der Internet-Einkäufe zuständige Tochter, ist auch erst 1½ Jahre in Bad Hersfeld. Geschäftsführer Paul Niewerth:
Paul Niewerth, Geschäftsführer von Amazon Logistik, GmbH: "Also im Januar ´99, am 16.1., war der Erstkontakt mit den Behörden, der Bürgermeister hat gesagt, dass sehr schnell die Baugenehmigung erteilt wird, dann war im Mai ´99 die Grundsteinlegung, am 6. August wurde der erste Bauabschnitt übergeben mit 24.000 m2, und dann wurde am 6. September das erste Paket ab Bad Hersfeld verschickt, und Ende November der dritte Bauabschnitt, das heißt, da war die komplette Übergabe des Gebäudes vollzogen. Innerhalb von 100 Tagen wurde praktisch das Gebäude errichtet!"
Normalerweise dauern Firmenansiedlungen Monate oder gar Jahre. Man fragt sich, warum Amazon nicht ein paar Kilometer weiter gegangen ist, nach Gerstungen oder Eisenach – Orte, die fast genauso zentral wie Bad Hersfeld liegen, in denen Amazon aber vielleicht einige Millionen Fördergelder erhalten hätte.
Paul Niewerth: "Ja Eisenach hätte genauso gut ein Standort sein können für Amazon wie Bad Hersfeld, aber die entscheidenden Kriterien habe ich schon gesagt: Die Stadtverwaltung und der Bürgermeister Boehmer hier in Bad Hersfeld haben mit ihrer Art, dieses Projekt anzugehen und durch Zusagen für Amazon die Amazon-Vertreter derart überzeugt, dass Amazon sich für Bad Hersfeld entschieden hat. Und wenn man sieht, in welcher Kürze hier das Unternehmen gewachsen ist und in welcher Geschwindigkeit die Ansiedlung erfolgt ist, mit welcher Geschwindigkeit die Genehmigungen erteilt worden sind, dann kann man heute zu Recht sagen, dass die Entscheidung damals richtig war, sich für Bad Hersfeld zu entscheiden und den Standort zu wählen und dass diese Entscheidung immer wieder so getroffen würde."
Hartmut Boehmer: "Ich habe damals dem Logistik-Chef gesagt: Sie können davon ausgehen, sie bekommen die Baugenehmigung von uns innerhalb von einem Monat! Und es gibt für sie nur einen Ansprechpartner – und das ist der Bürgermeister! Sie brauchen sich also selbst nicht in den Behörden-Dschungel zu begeben, das überlassen sie alles mir."
Hartmut Boehmer ist Bürgermeister von Bad Hersfeld; ein freundlicher, bedächtiger Mann, dem es gemeinsam mit der Wirtschaft und dem Arbeitsamt gelungen ist, die Arbeitslosigkeit in der Stadt in den letzten Jahren stark zu senken.
Hartmut Boehmer: "Und das waren die Aspekte, die eben für Bad Hersfeld und nicht für Gerstungen und nicht für Kassel gesprochen haben. Es kommt ja etwas anderes hinzu: Im ehemaligen Grenzbereich in Thüringen hatten die ja schon Schwierigkeiten einen Ansprechpartner zu bekommen, nicht!
Wissen sie, ich sag ihnen mal eins, und das ist auch meine Erfahrung von früher her: Wenn ein Unternehmen nur kommt und sagt: "Ich will die staatlich zugesicherte Förderung haben, auf Teufel komm raus, dann bin ich nicht sicher, ob das das richtige Unternehmen ist! Die Zuschüsse sind schnell aufgebraucht. Die Unternehmen müssen sagen: Wir wollen hier hin, weil wir wissen, dort haben wir einen guten Standort – und das war eben dann Bad Hersfeld und eben nicht Gerstungen oder Gotha oder andere Städte."
Hartmut Boehmer: " Wirtschaftsförderung heute ist eigentlich reduziert auf die Frage: Verfügbarkeit des Grundstücks, kein Behörden-Dschungel, Schnelligkeit im Genehmigungsverfahren. Das garantieren wir hier, wir gehen das sehr offensiv an, das hat sich inzwischen rumgesprochen – und wir sind sehr froh darüber! "
Bad Hersfelds Wirtschaft hatte nach der Sonderkonjunktur durch die Vereinigung ab 1992 herbe Rückschläge erlebt: Hoechst, Siemens, Krone, Babcock – all die großen Namen der deutschen Industrie schlossen oder verkleinerten ihre Werke, so dass letztlich von 1992 bis 1997 genau so viele Arbeitsplätze verschwanden, wie in den Jahren zuvor neu entstanden waren: 8.000.
Bad Hersfeld ist heute eine florierende Stadt: Die Wirtschaft expandiert, vor allem dank der Logistik und Versandunternehmen Amazon, Libri, Deutsche Post, German Parcel und noch zehn weiteren. Amazon z.B. hat vor 1½ Jahren mit 30 Mann angefangen, heute sind es 420, in der letzten Ausbaustufe sollen 600 Menschen ihren Lohn mit dem Versand von Büchern, CDs und Software verdienen. Aber die Logistik war erst der Anfang im Strukturwandel: Viele Unternehmen siedeln sich jetzt an, weil die Logistik praktisch vor der Haustür steht. Aktiv begleitet hat den Wandel das Arbeitsamt: Gegen Widerstände aus der Bundesanstalt für Arbeit wurden Fachleute weiter qualifiziert, deren Firmen von Schließung bedroht waren. Gemeinsam mit Amazon.de wurden die ersten Mitarbeiter für das neue Unternehmen ausgesucht. Arbeitsamt-Chef Karl-Heinz Renner:
Karl-Heinz Renner, Arbeitsamt- Chef von Bad Hersfeld: "Die Gefahr ist natürlich immer da, wenn sie Subventionen über Jahrzehnte aufrecht erhalten, dass man sich da dran gewöhnt und einrichtet und wenn es wegfällt, lamentiert! Natürlich führt das erst mal zu Schmerzen, wenn Förderungen wegfallen und damit auch die Infrastruktur sich bewegen muss, sich verändert, aber wir sind halt durch die Globalisierung auch gefordert, uns bewegen zu müssen! Und wer sich nicht bewegt, wird bewegt! Und es ist immer besser zu agieren als zu reagieren!
Aber letzten Endes ist es besser, wenn wir aus eigener Kraft Beschäftigung stabilisieren können, Unternehmen hier her bekommen und halten können und die ihre Geschäftsgrundlage ausdehnen und Arbeitsplätze ansiedeln ist allemal besser, als das immer über Subventionen zu machen."
Wie geht es also der Wirtschaft im ehemaligen Zonenrandgebiet West? Durchwachsen – meist schlechter als den Nachbarn im Westen und besser als denen im Osten, aber die Grenzen zerfließen langsam. In Zukunft, so ist immer wieder zu hören, sollte sich der Vorteil der Lage – mitten in Deutschland, mitten in Europa – noch besser auszahlen, mit Kommunalpolitikern und Unternehmern, die den Strukturwandel miterleben und mitgestalten – in Ost und, mehr als im Rest der alten Bundesrepublik, auch in West. Vielleicht werden dann die Menschen im ehemaligen Zonenrandgebiet dafür belohnt, dass sie einen etwas höheren Preis für die Einheit zahlen mussten als die in Nordrhein-Westfalen oder im Saarland.
Dietmar Henschel: "Zumal man ja nicht vergessen darf, dass ungefähr 30-40 km von hier der geographische Mittelpunkt liegt von Deutschland, muss man sagen, haben wir gedacht: jetzt liegen wir richtig im Zentrum! Aber früher waren wir wirklich am Arsch der Welt – und heute springen sie über uns weg, ne! Heute sind wir noch weiter weg als vorher!"
Zwei Stimmen aus Bad Lauterberg am Harz, im ehemaligen Zonenrandgebiet an der innerdeutschen Grenze. Karl-Heinz Hemeyer und Dietmar Henschel – der Firmenchef und der Betriebsratsvorsitzende. Der eine wird einen Teil seiner Firma, die Bad Lauterberger Blechwarenfabrik, 200 km nach Osten verlegen, nach Bitterfeld. Der andere wird dabei - gemeinsam mit 50 Kollegen - seinen Job verlieren. Die Arbeiter, die Hemeyer in Bitterfeld einstellen wird, werden nicht einmal die Hälfte dessen bekommen, was Henschel heute in Bad Lauterberg verdient. Kein Tarifvertrag, kein Weihnachtsgeld, kein Urlaubsgeld, niedrigere Stundenlöhne, nur 20 Tage Urlaub. Der Betriebsrat kämpft noch gegen den Umzug, der Bad Lauterberger Stadtdirektor Otto Matzenauer hat schon resigniert.
Otto Matzenauer: "Wir haben 10 Jahre mit der Firma Gespräche geführt, nicht nur die Stadt Bad Lauterberg, sondern auch der Landkreis Osterode, hier ist also landkreisweit versucht worden, der Firma zu helfen, auch in Nachbarorten, Nachbarstädten für ein entsprechendes Betriebsgelände zu sorgen. Aber letztendlich hat die Firma Lauterberger Blechwarenfabrik mit dem Eigentümer Hemeyer sich für Bitterfeld wegen der bekannten Fördermöglichkeiten und wegen des doch erheblich niedrigeren Lohnniveaus für diesen neuen Standort Bitterfeld entschieden und gegen Bad Lauterberg. Man muß nur fairerweise feststellen, dass sich das alles im legalen Bereich abgespielt hat, so dass Vorwürfe im rechtlichen Bereich nicht zum Tragen kommen können, soweit das jedenfalls bekannt ist."
Bittere Töne, die man heute allenthalben im ehemaligen Zonenrandgebiet hört. Dabei hatte doch alles so hoffnungsvoll angefangen, damals vor elf Jahren: Als die Grenze offen war, strömten die Ostdeutschen ins Grenzgebiet, kauften Bananen, Autos, Waschmittel, Kleidung, Bohrmaschinen. Das Geld fiel fast vom Himmel, man musste nur den Löffel aus dem Fenster halten. Die Kom munen, jahrzehntelang durch die Randlage in der Bundesrepublik benachteiligt, verdoppelten oft ihre Gewerbesteuereinnahmen innerhalb von ein oder zwei Jahren. Eigentlich die Chance des Lebens für Kommunen und Unternehmer im ehemaligen Zonenrandgebiet – möchte man meinen. Aber allenthalben erhebt sich heute Katzenjammer. So zum Beispiel in Duderstadt im Eichsfeld in Südniedersachsen .
Lothar Koch, Bürgermeister von Eichsfeld: "Den Gemeinden an der innerdeutschen Grenze in Niedersachsen geht es hundserbärmlich; in 30 Jahren Kommunalpolitik habe ich so etwas noch nicht erlebt, ich kann behaupten: Kommunalpolitik, kommunales Handeln, das Gestalten eines ganz persönlichen Antlitzes einer Stadt ist nicht mehr möglich! Jetzt hoffen wir natürlich auf die neuen Möglichkeiten der EU-Förderung, aber das enthebt noch lange nicht die Bundesregierung, das Notstandsgebiet innerdeutsche Grenze diesseits der früheren Grenze aus den Augen zu verlieren."
Woran liegt es, dass nun wieder die Kommunen im ehemaligen Zonenrandgebiet jammern, die doch jetzt mitten in Deutschland liegen? Woran liegt es, dass sie die große Chance nicht ergriffen haben oder nicht ergreifen konnten? Ist es so, wie viele Kommunalpolitiker behaupten? Dass die Unternehmen massenhaft in den Osten umziehen, um dort hohe Förderungen zu kassieren, so dass das ehemalige Zonenrandgebiet 10 Jahre nach der Wiedervereinigung wieder Sonderförderung bräuchte? Der Landrat von Osterode, Bernhard Reuter, sieht es nüchterner.
Bernhard Reuter: "Ja, die Industrie hat über Jahrzehnte hier im Zonenrandgebiet unter besonderen Bedingungen gearbeitet, besonders günstigen Bedingungen! Im Wesentlichen durch die Sonderabschreibungen bedingt. Es haben sich dadurch Strukturen erhalten, die sich unter dem Druck eines globalisierten Wettbewerbs als nicht wettbewerbsfähig erwiesen haben. Und die wirkte sich im Landkreis Osterode so aus, dass jeder dritte industrielle Arbeitsplatz weggefallen ist."
Oder anders gesagt: Wenn Deutschland sich nicht vereinigt hätte, wären die Arbeitsplätze auch abgebaut worden, da sie dem globalen Wettbewerb nicht mehr gewachsen waren. Der Strukturwandel kam nur vielleicht etwas verzögert, weil die jahrzehntelang gewährte Zonenrandgebiet-Förderung den Anpassungsdruck verringert hatte.
Hinzu kommt aber auch das Abwandern von Betrieben. Dies wird allgemein besonders schmerzlich empfunden, wenn die betreffende Firma gen Osten wandert und sich vielleicht nur wenige Kilometer hinter der ehemaligen Zonengrenze in Thüringen oder Sachsen-Anhalt wieder niederlässt. Denn dort warten neben den niedrigeren Löhnen hohe Investitionszulagen vom Staat – bis zu 50%! Darum geht es auch bei der Lauterberger Blechwarenfabrik, die einen Betriebsteil nach Bitterfeld verlagert. Karl-Heinz Hemeyer kann in modernste Technik investieren – und das Finanzministerium zahlt die Hälfte der Rechnung. Damit kann er den Sozialplan für die 50 Entlassenen in Bad Lauterberg locker bezahlen. In Niedersachsen hätte er statt der 50 maximal 18% Zuschuss bekommen können. Aber der Lohndrücker West ist zugleich der langersehnte Investor Ost.
Karl-Heinz Hemeyer: "Dort bin ich mit vollen Händen, mit offenen Armen aufgenommen worden und hier schmeißt mir die PDS vor, dass ich nur die Vergünstigungen mitnehme und hier die Kameraden im Stich lasse, das ist nicht so! Wir bekommen die normale Förderung, die jedes Unternehmen im Osten auch bekommt. Und die Region freut sich, bei 25% Arbeitslosigkeit, dass dort ein produzierendes Unternehmen hinkommt."
Das hohe Fördergefälle an der innerdeutschen Grenze hat in den letzten zehn Jahren einige kleine Firmen im Westen, meist Handwerksbetriebe, veranlasst, ganz in den Osten umzuziehen. Oft nahmen sie ihr Personal sogar mit. Zu größeren Firmenumzügen kam es kaum, meist wurden Betriebsteile im Osten neu geschaffen oder dorthin verlagert. Und das ist schließlich auch Sinn der höheren Förderung im Osten: Den Verfassungsauftrag der gleichen Lebensverhältnisse zu erfüllen. Zudem gilt es zu bedenken: Nirgends gibt es einen Anspruch auf Förderung, jeder Antrag wird durch die Wirtschaftsministerien individuell geprüft und beschieden. Auch die jeweiligen Förder-Höchstsätze, 28% im Westen und 50% im Osten, gelten nur für kleine und mittlere Betriebe und auch nur in besonders strukturschwachen Gegenden. Im Westen wird dies als normales regionales Gefälle gesehen, wird aber die ehemalige innerdeutsche Grenze überschritten, wird daraus ein Ost-West-Problem. Außerdem gilt seit 1999: Investiert ein Betrieb aus einem Grenzkreis im Westen in einem Grenzkreis im Osten, dann wird er nur im Einvernehmen der betroffenen Bundesländer gefördert – und das maximal mit dem im Westen gültigen, niedrigeren Fördersatz.
Außerdem hätten die Bürgermeister und Stadtdirektoren, die jetzt jammern, jahrzehntelang die Zonenrandförderung genossen, meint Bernd Beck, der Bürgermeister von Heiligenstadt in Nord-Thüringen.
Bernd Beck: "Aber diese 50% hat es ja vor 30-40 Jahren in der alten Bundesrepublik auch gegeben! Man darf ja nicht verkennen: Die neuen Bundesländer sind ja zum strukturschwachen Gebiet von Europa erklärt worden. Deshalb sind ja diese Förderungen auch in dieser Höhe! In vier oder fünf Jahren haben wir das nicht mehr, dann werden wahrscheinlich diese hohen Fördersätze nach Polen, Ungarn oder die Tschechei verlagert! Und dann werden wir wieder lamentieren und sagen: Jetzt zieht man von Deutschland dahin! Man muß auch anders sehen: Wenn die Förderung hier nicht wäre, dann würden eben nicht 3.000 von unserem Bereich nach Niedersachsen-Hessen auspendeln, dann wären es eben 6.000!"
Stichwort Pendler: Auf den Straßen über die ehemalige Zonengrenze vollzieht sich jeden Morgen eine kleine Völkerwanderung: Tages- und Wochenpendler aus dem Osten auf dem Weg zur Arbeit im Westen. Natürlich arbeiten auch zunehmend Westdeutsche im Osten, aber in weit geringerem Umfang.
Bernhard Reuter: "Der Einpendlerüberschuss ist sehr groß, der Druck auf dem Arbeitsmarkt ist auch sehr groß, und dies wirkt sich v.a. für die wenig Qualifizierten im Landkreis verheerend aus. 4.668 Tausend Arbeitslose, das entspricht einer Quote von 13,2%."
Bernhard Reuter ist Landrat im Westkreis Osterode und weit davon entfernt, die Pendler zurückweisen zu wollen. Sie brächten Qualifikationen und Leistungsbereitschaft mit, die sie offenbar eventuellen westdeutschen Konkurrenten um den Arbeitsplatz voraus hätten. Tendenziell lässt sich sagen, liegt die Arbeitslosigkeit in Grenzkreisen im Westen etwa zwei Prozentpunkte höher als im westlichen Durchschnitt, im Osten liegt sie ein Prozentpunkt unter dem dortigen Durchschnitt. Außerdem drücken die Einpendler aus dem Osten das Einkommensniveau im Westen, was die Grenzregion zu einer Art Übergangsregion bezüglich Einkommen und Arbeitslosigkeit zwischen Ost und West macht, allerdings immer noch mit einem deutlichen Sprung an den Landesgrenzen!
Bernhard Reuter: "Interessant ist auch, dass trotz der hohen Arbeitslosigkeit im Landkreis es nicht immer gelingt, den jeweils passenden Arbeitnehmer/ Arbeitnehmerin zu finden. Das deutet auf ein Qualifikationsproblem hin. Das ist auch der politische Ansatz, den der Kreistag und ich konzipiert haben: Die einzige relevante Stellschraube, an der wir arbeiten können, ist die Qualifikation! Wir haben in den letzten zwei Jahren fast unsere gesamte Investitionskraft konzentriert, da sind jetzt erste Erfolge auch sichtbar im Ausbau der berufsbildenden Schulen, aber auch in der Fähigkeit dieser Berufsschulen, z.B. Weiterbildungslehrgänge, Lehrgänge für Arbeitslose anzubieten.
Ich rechne damit, dass wir eine längere Zeit mit dem Strukturwandel zu leben haben. Langfristig werden die Vorteile der Lage mitten in Deutschland, mitten in Europa durchschlagen, deshalb ist mir um die langfristige Zukunft des Landkreises Osterode nicht bange, mir ist aber deutlich, dass wir mindestens die nächsten 10, vielleicht auch 20 Jahre durch eine schwierige Phase hindurchgehen. Aber gerade die Ergebnisse der letzten Monate zeigen auch, vorsichtig interpretiert, ist schon Licht am Ende des Tunnels zu erkennen!"
Gerade hier im südlichen Niedersachsen wird besonders deutlich, dass die Regionen abseits der bestehenden Ost-West-Autobahn-Verbindungen oftmals in hinterwäldlerischer Abgeschiedenheit existieren, trotz der Lage mitten in Deutschland. Ein Problem, dass angesichts des Widerstands gegen Straßen-Neu- oder Ausbauten schwierig zu lösen sein wird. Aber ohne moderne Infrastruktur bleiben Teile des ehemaligen Zonenrandgebiets vergessene Inseln mitten in Deutschland.
Schichtwechsel bei Amazon
Glück gehabt mit der Infrastruktur hat das hessische Bad Hersfeld, am Schnittpunkt der A 4 aus Dresden, A 5 aus Basel und der Nord-Süd-Achse A 7. Von hier aus lässt sich jeder Ort in Deutschland über Nacht erreichen. Dies hat viele Logistikunternehmen hierher gelockt, angeführt von German Parcel. Der Paketdienst hatte sich mit Glück und dem richtigen Riecher schon 1988 hier angesiedelt. Die wohl bekannteste neue Firma in Bad Hersfeld ist Amazon.de, der Internet-Buchversand. Zum Schichtwechsel strömen Hunderte junger Leute zum Parkplatz, geschafft von der harten Woche. Im vergangenen Herbst feierte Amazon.de seinen zweiten Geburtstag, die Amazon Logistik GmbH, die für die Auslieferung der Internet-Einkäufe zuständige Tochter, ist auch erst 1½ Jahre in Bad Hersfeld. Geschäftsführer Paul Niewerth:
Paul Niewerth, Geschäftsführer von Amazon Logistik, GmbH: "Also im Januar ´99, am 16.1., war der Erstkontakt mit den Behörden, der Bürgermeister hat gesagt, dass sehr schnell die Baugenehmigung erteilt wird, dann war im Mai ´99 die Grundsteinlegung, am 6. August wurde der erste Bauabschnitt übergeben mit 24.000 m2, und dann wurde am 6. September das erste Paket ab Bad Hersfeld verschickt, und Ende November der dritte Bauabschnitt, das heißt, da war die komplette Übergabe des Gebäudes vollzogen. Innerhalb von 100 Tagen wurde praktisch das Gebäude errichtet!"
Normalerweise dauern Firmenansiedlungen Monate oder gar Jahre. Man fragt sich, warum Amazon nicht ein paar Kilometer weiter gegangen ist, nach Gerstungen oder Eisenach – Orte, die fast genauso zentral wie Bad Hersfeld liegen, in denen Amazon aber vielleicht einige Millionen Fördergelder erhalten hätte.
Paul Niewerth: "Ja Eisenach hätte genauso gut ein Standort sein können für Amazon wie Bad Hersfeld, aber die entscheidenden Kriterien habe ich schon gesagt: Die Stadtverwaltung und der Bürgermeister Boehmer hier in Bad Hersfeld haben mit ihrer Art, dieses Projekt anzugehen und durch Zusagen für Amazon die Amazon-Vertreter derart überzeugt, dass Amazon sich für Bad Hersfeld entschieden hat. Und wenn man sieht, in welcher Kürze hier das Unternehmen gewachsen ist und in welcher Geschwindigkeit die Ansiedlung erfolgt ist, mit welcher Geschwindigkeit die Genehmigungen erteilt worden sind, dann kann man heute zu Recht sagen, dass die Entscheidung damals richtig war, sich für Bad Hersfeld zu entscheiden und den Standort zu wählen und dass diese Entscheidung immer wieder so getroffen würde."
Hartmut Boehmer: "Ich habe damals dem Logistik-Chef gesagt: Sie können davon ausgehen, sie bekommen die Baugenehmigung von uns innerhalb von einem Monat! Und es gibt für sie nur einen Ansprechpartner – und das ist der Bürgermeister! Sie brauchen sich also selbst nicht in den Behörden-Dschungel zu begeben, das überlassen sie alles mir."
Hartmut Boehmer ist Bürgermeister von Bad Hersfeld; ein freundlicher, bedächtiger Mann, dem es gemeinsam mit der Wirtschaft und dem Arbeitsamt gelungen ist, die Arbeitslosigkeit in der Stadt in den letzten Jahren stark zu senken.
Hartmut Boehmer: "Und das waren die Aspekte, die eben für Bad Hersfeld und nicht für Gerstungen und nicht für Kassel gesprochen haben. Es kommt ja etwas anderes hinzu: Im ehemaligen Grenzbereich in Thüringen hatten die ja schon Schwierigkeiten einen Ansprechpartner zu bekommen, nicht!
Wissen sie, ich sag ihnen mal eins, und das ist auch meine Erfahrung von früher her: Wenn ein Unternehmen nur kommt und sagt: "Ich will die staatlich zugesicherte Förderung haben, auf Teufel komm raus, dann bin ich nicht sicher, ob das das richtige Unternehmen ist! Die Zuschüsse sind schnell aufgebraucht. Die Unternehmen müssen sagen: Wir wollen hier hin, weil wir wissen, dort haben wir einen guten Standort – und das war eben dann Bad Hersfeld und eben nicht Gerstungen oder Gotha oder andere Städte."
Hartmut Boehmer: " Wirtschaftsförderung heute ist eigentlich reduziert auf die Frage: Verfügbarkeit des Grundstücks, kein Behörden-Dschungel, Schnelligkeit im Genehmigungsverfahren. Das garantieren wir hier, wir gehen das sehr offensiv an, das hat sich inzwischen rumgesprochen – und wir sind sehr froh darüber! "
Bad Hersfelds Wirtschaft hatte nach der Sonderkonjunktur durch die Vereinigung ab 1992 herbe Rückschläge erlebt: Hoechst, Siemens, Krone, Babcock – all die großen Namen der deutschen Industrie schlossen oder verkleinerten ihre Werke, so dass letztlich von 1992 bis 1997 genau so viele Arbeitsplätze verschwanden, wie in den Jahren zuvor neu entstanden waren: 8.000.
Bad Hersfeld ist heute eine florierende Stadt: Die Wirtschaft expandiert, vor allem dank der Logistik und Versandunternehmen Amazon, Libri, Deutsche Post, German Parcel und noch zehn weiteren. Amazon z.B. hat vor 1½ Jahren mit 30 Mann angefangen, heute sind es 420, in der letzten Ausbaustufe sollen 600 Menschen ihren Lohn mit dem Versand von Büchern, CDs und Software verdienen. Aber die Logistik war erst der Anfang im Strukturwandel: Viele Unternehmen siedeln sich jetzt an, weil die Logistik praktisch vor der Haustür steht. Aktiv begleitet hat den Wandel das Arbeitsamt: Gegen Widerstände aus der Bundesanstalt für Arbeit wurden Fachleute weiter qualifiziert, deren Firmen von Schließung bedroht waren. Gemeinsam mit Amazon.de wurden die ersten Mitarbeiter für das neue Unternehmen ausgesucht. Arbeitsamt-Chef Karl-Heinz Renner:
Karl-Heinz Renner, Arbeitsamt- Chef von Bad Hersfeld: "Die Gefahr ist natürlich immer da, wenn sie Subventionen über Jahrzehnte aufrecht erhalten, dass man sich da dran gewöhnt und einrichtet und wenn es wegfällt, lamentiert! Natürlich führt das erst mal zu Schmerzen, wenn Förderungen wegfallen und damit auch die Infrastruktur sich bewegen muss, sich verändert, aber wir sind halt durch die Globalisierung auch gefordert, uns bewegen zu müssen! Und wer sich nicht bewegt, wird bewegt! Und es ist immer besser zu agieren als zu reagieren!
Aber letzten Endes ist es besser, wenn wir aus eigener Kraft Beschäftigung stabilisieren können, Unternehmen hier her bekommen und halten können und die ihre Geschäftsgrundlage ausdehnen und Arbeitsplätze ansiedeln ist allemal besser, als das immer über Subventionen zu machen."
Wie geht es also der Wirtschaft im ehemaligen Zonenrandgebiet West? Durchwachsen – meist schlechter als den Nachbarn im Westen und besser als denen im Osten, aber die Grenzen zerfließen langsam. In Zukunft, so ist immer wieder zu hören, sollte sich der Vorteil der Lage – mitten in Deutschland, mitten in Europa – noch besser auszahlen, mit Kommunalpolitikern und Unternehmern, die den Strukturwandel miterleben und mitgestalten – in Ost und, mehr als im Rest der alten Bundesrepublik, auch in West. Vielleicht werden dann die Menschen im ehemaligen Zonenrandgebiet dafür belohnt, dass sie einen etwas höheren Preis für die Einheit zahlen mussten als die in Nordrhein-Westfalen oder im Saarland.