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"…aber ich lebe"

Den Veteranen des Zweiten Weltkriegs wird in Russland kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt – obwohl Patriotismus wieder modern geworden ist. Am 9. Mai aber stehen die ehemaligen Soldaten der Roten Armee im Mittelpunkt: Es wird an den Sieg über Deutschland gedacht. Doch die alten Männer in Staraja Russa lächeln kaum an diesem Tag.

Von Gesine Dornblüth und Thomas Franke |
    Ein Restaurant in Staraja Russa. Auf den Tischen liegen weiße und grüne Tischdecken, dünne Kreppservietten stecken, schlank zusammengerollt, in Gläsern. Vor den Fenstern gelbliche Stores, gerahmt von schweren grün glänzenden und silberfarbenen Vorhängen. Die Bühne ist leer, über der Tanzfläche hängt eine Discokugel bewegungslos von der Decke.

    Niemand tanzt. Passanten kommen herein, um am Tresen in der Ecke Salzgebäck oder Bier zu kaufen. Das geräumige Lokal ist beinahe leer. Draußen auf dem Rasen spielen Kinder mit einer weißen Ratte. Staraja Russa ist eine Kleinstadt in der Nähe des Ilmensees, auf halber Strecke zwischen Moskau und St. Petersburg.

    Es ist der Vorabend des 9. Mai, des "Tags des Sieges", der auch Jahre nach dem Ende der UdSSR ganz in sowjetischer Tradition gefeiert wird. Die Russen feiern den "Den' Pobedy" - so heißt der Tag des Sieges auf Russisch - am 9. Mai. Denn das ist der Tag, an dem die Kapitulation in Kraft trat.

    Die Westeuropäer und die Amerikaner begehen das Kriegsende einen Tag früher. An einem Tisch am Fenster sitzen drei alte Männer. Sie sind Veteranen der Roten Armee. Die Bedienung bringt Wodka und Bier. Alle drei haben in der Umgebung von Staraja Russa im "Großen Vaterländischen Krieg" gekämpft. So hieß der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion, und so wird er in Russland immer noch genannt.

    Patriotische Bekenntnisse sind in Russland modern. Die pathetische Überhöhung der Vergangenheit hilft, wie der russische Philosoph Michail Ryklin schreibt, über das Trauma der Gegenwart hinweg. Pavel Gorochov blickt still auf den Tisch. Der kräftige Mann trägt einen abgewetzten blauen Anzug, seine Mundwinkel hängen weit herunter. Als die Wehrmacht im Juni 1941 die Grenzen zur Sowjetunion überschritt, war Gorochov 21 Jahre alt.

    "Von Krasnojarsk wurden wir mit einem Militärzug nach Moskau gebracht. Dort wurden wir ausgerüstet und dann direkt an die Front geschickt, bei Lytschkóvo, im Bezirk Valdaj. Ich war Maschinengewehrschütze. Die Kämpfe waren nicht sehr heftig, dafür aber wurde täglich gekämpft."

    Gorochov schiebt den Unterkiefer nach vorn. Er lächelt den ganzen Abend kein einziges mal.

    "Wir haben in den Feldern geschlafen, in den Schützengräben, direkt an den Waffen, vielleicht 150 Meter von den Deutschen entfernt. Sie haben auf uns geschossen, wir auf sie. So war das."

    Gorochov zählt einzelne Dörfer auf, um die er damals gekämpft hat: Kirillovschina, Suchaja Niva, Polzo. Er erzählt von unwegsamem Gelände, tiefen Schluchten und Gräben. Gorochov kramt in seinem Gedächtnis, zögert erst, hört dann aber gar nicht auf zu erzählen. In der Sowjetunion wurde zwar ununterbrochen Heldenkult betrieben, die Veteranen hatten aber keine Gelegenheit, die Grausamkeiten des Krieges wirklich zu schildern. Das hätte das Bild vom tapferen Rotarmisten gestört.

    Konstantin Simonovs Gedicht "Wart auf mich" von 1941 zählt in Russland auch heute noch zu den beliebtesten Gedichten:

    Sprecher auf Musik:
    Wart auf mich, ich komm zurück,
    aber warte sehr.
    Warte, wenn der Regen fällt,
    grau und trüb und schwer.
    Warte, wenn der Schneesturm tobt,
    wenn der Sommer glüht.
    Warte, wenn die andern längst,
    längst des Wartens müd.
    Warte, wenn vom fernen Ort
    dich kein Brief erreicht.
    Warte - bis auf Erden nichts
    deinem Warten gleicht.


    In der Gegend südlich von Staraja Russa gelang es der Roten Armee zum ersten Mal, Truppen der Wehrmacht einzukreisen: Im so genannten Kessel von Demjansk. Die deutschen Truppen leisteten erbitterten Widerstand. Manchmal habe es Monate gedauert, ein Dorf zu befreien, erinnert sich Gorochov. Der entscheidende Durchbruch gelang der Roten Armee im Februar 1943. Gorochov war dabei, als die erste Verteidigungslinie der Deutschen fiel und vollständig zerstört wurde.

    "Wir haben uns dann etwa zwei Kilometer weiter vor bewegt. Dort stießen wir wieder auf Widerstand. Wir griffen an, und dabei wurde ich verletzt, am Kopf und am Bein. Ich war in sehr kritischem Zustand, aber anscheinend waren in unserer Truppe gute Kämpfer, die haben mich raus gezogen und ins Feldlazarett gebracht. Später wurde ich in Jaroslavl im Hospital operiert. Da haben sie mir die Kugeln aus dem Bein und aus dem Kopf entfernt. Ich habe immer noch ein Loch im Kopf. Die Kopfverletzung schmerzt immer noch. Ich verstehe selbst nicht, wie ich am Leben bleiben konnte. Aber ich lebe."

    Sprecher auf Musik:
    Wart auf mich, ich komm zurück.
    Stolz und kalt hör zu,
    wenn der Besserwisser lehrt:
    "Zwecklos wartest du!"
    Wenn die Freunde, Wartens müd,
    mich betrauern schon,
    trauernd sich ans Fenster setzt
    Mutter, Bruder, Sohn.
    Wenn sie, mein gedenkend, dann
    trinken herben Wein.
    Du nur trink nicht - warte noch
    mutig - stark - allein.


    Die Rote Armee war katastrophal ausgerüstet. Es heißt, 10 Soldaten hätten sich ein Gewehr geteilt. Wenn der Befehl zum Angriff kam, rannte der erste los, wenn er fiel, übernahm der nächste das Gewehr und rannte weiter.

    Neben Pavel Gorochov sitzt der 86jährige Nikonor Dokutschajev, ein kleiner Mann mit rotgeränderten Augen. Obwohl er nicht viel verträgt, trinkt er mehrere Glas Wodka. Seine Brust hängt voller Orden und Medallien. Mit zitternden Händen schraubt er einige Orden ab, um sie besser zeigen zu können, der Anzugstoff ist von den dicken Schrauben der Medaillen durchlöchert.

    "Unsere Sache ist gerecht, wir werden siegen", steht auf einer Medaille, auf einer anderen "Für den Sieg über Deutschland". Stalins Konterfei ist auf der einen Seite abgebildet, mit rauchenden Schornsteinen, auf anderen ein Wasserkraftwerk, General Shukov, Lenin. Es gibt nicht mehr viele Stalinisten in Russland, Kritik an den Stalinschen Säuberungen ist gesellschaftlicher Konsens. Aber auf den Feldherrn Stalin lassen viele nichts kommen.

    "Die zweite Stalinmedaille habe ich erst kürzlich bekommen, zu seinem 120. Geburtstag. Ich war nie in der Partei, aber Josif Visarjonovitsch habe ich immer verehrt, und ich ehre ihn noch heute. Er war ein guter Führer, ein guter Kommandant. Die Leute mögen Stalin heute ja nicht mehr besonders, aber ich betrachte ihn nach wie vor als Führer."

    Wart auf mich, ich komm zurück,
    ja, zum Trotz dem Tod,
    der mich hundert-, tausendfach
    Tag und Nacht bedroht.
    Für die Freiheit meines Lands,
    rings umdröhnt, umblitzt,
    kämpfend, fühl ich, wie im Kampf
    mich dein Warten schützt.
    Was am Leben mich erhält,
    weißt nur du und ich:
    Dass du, so wie niemand sonst,
    warten kannst auf mich.


    Auch Nikonor Dokutschajev wurde diverse Male verletzt, immer wieder zusammengeflickt und erneut an die Front geschickt. Dass er überlebt habe, grenze an ein Wunder, sagt er.

    "Ich erzähle Ihnen, wo ich den Tag des Sieges erlebt habe: In Lettland. Die Kämpfe waren abgeklungen, die Deutschen schossen nicht mehr. Da haben wir auch nicht mehr geschossen. Es verging einige Zeit, dann hieß es, wir sollten das Bataillon antreten lassen. Ich war Bataillonskommandeur. Und auf einmal kam der Regimentskommandeur angelaufen und schrie: Sieg! Der Tag des Sieges! Da haben sich alle umarmt, geweint, sich geküsst: Oh, der Tag des Sieges, der Tag des Sieges!"

    Die Erinnerung verblasst, das Ansehen der Veteranen in der russischen Gesellschaft schwindet. Doch einmal im Jahr stehen die Veteranen im Mittelpunkt, am 9. Mai, dem Den' Pobedy, dem Tag des Sieges. Ein schwacher Trost. Die Rente reicht kaum zum Leben, die wenigen Vergünstigungen für die Veteranen, kostenlose Fahrkarten oder niedrige Mieten, sind für die alten Menschen überlebenswichtig - und der "Den' Pobedy" für das Selbstverständnis. Dokutschajev entschuldigt sich, dass er so viel erzählt hat.