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Abgeschnitten von den Weltmärkten

Lag der Erste Weltkrieg wirklich im Interesse der deutschen Großindustrie? Unter Historikern war diese These lange Zeit dominant, doch nun wächst der Widerspruch. In Mannheim befasste sich eine Konferenz mit der Rolle der deutschen Unternehmen.

Von Kay Müllges | 17.10.2013
    Lange Zeit galt in der historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg als unumstritten, dass vor allem die deutsche Großindustrie ein Interesse am Ausbruch der Feindlichkeiten hatte, um sich neue Absatz- und Rohstoffmärkte zu erobern. Doch ähnlich wie bei der großen Debatte um die primäre Kriegsschuld des Deutschen Reiches beginnt sich auch hier ein Umdenken abzuzeichnen. Die Quellen, so der Frankfurter Historiker Werner Plumpe, sprächen eine andere Sprache.

    "Die deutschen Unternehmen, gemessen an ihren europäischen Konkurrenten, waren sehr erfolgreich. Die Amerikaner waren noch dynamischer, aber die Deutschen waren sehr, sehr erfolgreich. Man beherrschte in vielen Bereichen den Weltmarkt fast nach Belieben. Bei Farben etwa, von Pharmazeutika, aber auch bei feinmechanischen und optischen Produkten. Die AEG und Siemens waren sehr erfolgreich im Export von elektrotechnischen Leistungen, von Kraftwerkbauten und so weiter und so fort. Für die Industrie des Deutschen Reiches war der Ausbruch des Krieges so gesehen eher ein Desaster als eine Chance."

    Exportwirtschaft und Großbanken hart getroffen
    Gerade weil, so Plumpes These, die deutsche Wirtschaft bereits vor dem ersten Weltkrieg überwiegend exportorientiert gewesen sei, habe sie der Kriegsausbruch und der damit verbundene Zusammenbruch des Welthandels extrem hart getroffen. Das gelte auch für die deutschen Großbanken, meint der Leiter des Archivs der Deutschen Bank, Martin Müller. So sei die Filiale der Deutschen Bank in London, die immerhin 10 Prozent des Gesamtgeschäftes der Bank machte, kurz nach Kriegsausbruch geschlossen worden. Mit Folgen weit über den 1. Weltkrieg hinaus:

    "Wenn Sie gewisse Bedingungen des Kapitalmarktes sich ansehen, dass Deutschland als Kapitalexporteur vor dem Ersten Weltkrieg eine ganz wichtige Rolle spielt, einer der großen Anbieter von Kapital ist, dann ist diese Rolle für lange Zeit ausgeschaltet. Nicht nur für die Zeit des ersten Weltkrieges, sondern bis Ende der fünfziger Jahre, dass auf dem deutschen Kapitalmarkt, dem westdeutschen Kapitalmarkt, in D-Mark dann, wieder Anleihen, Aktienemissionen für ausländische Emittenten gemacht werden können. Also wieder ein Kapitalexport aus Deutschland heraus funktioniert. Wenn Sie so wollen eine Unterbrechung von mehr als vier Jahrzehnten."

    Eine Filiale eröffnete die Deutsche Bank in London sogar erst wieder 1976. Wenn aber die deutschen Unternehmen im Krieg nichts zu gewinnen hatten, warum sind sie dann der politischen Führung nicht in den Arm gefallen? Werner Plumpe erklärt das einerseits mit der normativen Kraft des Faktischen. Der Krieg sei nun einmal ausgebrochen und dann müsse man halt das Beste daraus machen.

    "Von daher unterstützt die übergroße Mehrzahl der deutschen Unternehmen dann die deutsche Seite, in der Hoffnung, durch einen Sieg in dieser weltweiten Auseinandersetzung, oder zumindest durch, wie man sagt, einen ehrenhaften Frieden, nach 1918 eine Chance zu haben, auf die Weltmärkte zurückzukehren. Die größte Angst, die existiert, das ist nach Kriegsausbruch in vielen Quellen sehr schön zu zeigen, ist die davor, dass man den Krieg verliert und dass dann das eintritt, was in der Tat ja auch eingetreten ist. Mit Versailles und den Reparationen kommt man in eine wirtschaftlich sehr schwierige Situation."

    Sehr unterschiedliche Unternehmerpersönlichkeiten
    Dabei, so Plumpe, habe es natürlich große Unterschiede zwischen den einzelnen Unternehmerpersönlichkeiten gegeben. Während beispielsweise der deutschnationale Chef der Bayer AG, Carl Duisberg, schon bald sehr weitgehende Kriegsziele und Annexionswünsche entwickelt habe, seien die Chefs der großen Frankfurter Chemieunternehmen sehr viel zurückhaltender gewesen und hätten sich lange für einen Verständigungsfrieden eingesetzt.

    Unabhängig von den politischen Einstellungen einzelner Unternehmer habe aber für die Unternehmen die unabänderliche Notwendigkeit bestanden sich nach Wegfall der Auslandsmärkte eben andere Profitmöglichkeiten zu eröffnen. Und die hätten eben in der schnellen Umstellung auf Rüstungsproduktion bestanden. Deshalb lieferten die Chemieunternehmen schon bald nicht mehr nur Ausgangsprodukte für Sprengstoffe an Waffenfabriken, sondern bauten selbst große Kapazitäten für die Sprengstoff- und später auch für die Giftgasproduktion auf. Werner Plumpe:

    "Und die entdecken dann in gewisser Weise das Militär als Markt. Und auf der anderen Seite braucht das Militär leistungsfähige Unternehmen, weil die sich auf einen Krieg eingelassen haben, der ihnen über den Kopf wächst. Und sie können ihn nur bestehen, oder glauben ihn nur bestehen zu können, je leistungsfähiger die Industrie ist, auf die sie zurückgreifen können. Also da entsteht eine Eigendynamik, die dann sehr viel dazu beiträgt, den Kriegsverlauf zu erklären."

    Als Beispiel nennt er den sogenannten Hindenburgplan von 1916. Darin forderte die neue Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff die umfassende Heranziehung aller wirtschaftlichen Ressourcen für den Krieg und eine weitere starke Ausweitung der Rüstungsproduktion.

    Rüstungsindustrie um jeden Preis
    Hintergrund dieses Plans war die bereits im Sommer 1916 verzweifelte militärische Lage. Vor Verdun war die Lage unwiderruflich festgefahren. Die erfolgreiche englische Offensive an der Somme hatte auf deutscher Seite zu einer schweren Munitionskrise geführt. Und auch im Osten verschlechterte sich die Lage von Tag zu Tag. Ankurbelung der Rüstungsproduktion um jeden Preis – das war die Antwort von militärischer Führung und Industrie auf diese Krise.

    "Das Militär, die politische Führung in Berlin hätte im Grunde aufgeben müssen, wenn man nicht die Chance gehabt hätte, auf die industriellen Kapazitäten zuzugreifen. Und dann ist von der Obersten Heeresleitung gefragt worden: Könnt ihr das machen? Und die haben gesagt, ja wir können das machen. Wir können das tun. Und da ergibt sich dann diese Dynamik ganz erkennbar. Das Militär kann den Krieg nur führen, wenn es zu einer umfänglichen Mobilisierung der Wirtschaft kommt. Die umfängliche Mobilisierung der Wirtschaft hängt aber wiederum davon ab, dass man die Unternehmen dazu bringt, das auch zu tun. Und die machen das, wenn sie mit den Kapazitäten, die aufgebaut worden sind, dann auch Geld verdienen können, um, wie sie selber sagen, Reserven zu bilden, damit man dann einigermaßen gut wieder in die Friedenswirtschaft zurückkehren kann."