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Absurde Brutalität

2004 tauchten die ersten Fotos auf, auf denen zu sehen war, wie US-amerikanische Soldaten irakische Gefangene folterten und Spaß dabei hatten. Monatelang haben die beiden Autoren Philip Gourevitch und Erol Morris mit dem Wachpersonal von Abu Ghraib gesprochen. Und ihre Aussagen kontrastiert mit dem Untersuchungsbericht der US-Regierung.

Von Kersten Knipp |
    Vielleicht hätte alles auch anders laufen können. Als sie den Gurt in die Hand nahm, dachte sie sich nichts Böses. Eine kleine Handreichung für den Kollegen, der die Szene fotografierte, um sich abzusichern. So jedenfalls schildert Specialist Lynndie England die Entstehungsgeschichte jenes Fotos, das sie weltweit zu trauriger Berühmtheit werden ließ, zu einem Symbol für Amerikas Verrat an den eigenen Idealen im Irakkrieg. Schauplatz: das Gefängnis von Abu Ghraib, wo Gefangene von amerikanischen Soldaten und Geheimdienstlern gefoltert und gedemütigt wurden. Abu Ghraib gilt damit auch als Sinnbild für die Banalität des Bösen. In diese Banalität glitten zumindest manche der Beteiligten, ohne dass sie es eigentlich beabsichtigt hätten.

    Zu diesem Urteil kommen die beiden amerikanischen Journalisten Philip Gurevitch und Errol Morris in ihrem Buch "Die Geschichte von Abu Ghraib". Nach der Lektüre wird man die Soldatin Lynndie England mit etwas anderen Augen sehen. Dabei geht es den Autoren nicht darum, Schuld klein zu reden - wohl aber darum, zu klären, wie es zu diesen Entgleisungen überhaupt kommen konnte. In ihrem auf gründlicher Recherche und zahlreichen Interviews mit damals beteiligten Soldaten basierendem Buch erscheint Lynndie England vor allem als tragische Figur: als eine Täterin, die gleichzeitig auch Opfer ist - Opfer einer chaotischen Situation, in die ihre Vorgesetzten keine Ordnung zu bringen vermochten, daran ganz offensichtlich auch kein Interesse hatten.

    Im Gegenteil: Lynndie England, damals gerade Anfang 20, geriet in eine Welt, die systematisch auf Gewalt hin angelegt war, in der die Gefangenen, aber auch die Soldaten Situationen absurder Brutalität durchlebten. Eine durchaus gewollte Brutalität, wie die Anweisungen eines Kommandanten an seine Soldaten erkennen lässt.

    Wenn sie einschlafen, kippt kaltes Wasser darüber, um sie zu wecken, knallt die Türen zu, schleift Mülltonnen den Gang entlang und trommelt darauf herum. Sorgt dafür, dass sie stehen, wenn ihr vorbeikommt, und sich nicht hinsetzen. Nehmt das Megafon und stellt es direkt vor die Tür des Betreffenden für die individuelle Behandlung, spielt laute Musik, macht das Licht aus und so fort, damit sie nicht mehr wissen, wo oben und unten ist: einfach für totale Verwirrung sorgen.
    Fast unvermeidbar, dass es in solcher Atmosphäre zu Überraschungen kommen kann: Gefangene rasten aus und greifen die Wärter an, reagieren unberechenbar, wenn man sie anspricht. So auch der Gefangene Gus, der bei seiner Einlieferung mit Steinen auf die Wärter warf. Als Charles Graner, die andere große Skandalfigur im Skandal um Abu Ghraib, Gus eines Nachts aus einer Isolierzelle in eine normale Zelle verlegt, dieser aber seine Kammer nicht verlassen will, legt er ihm einen Gurt um den Hals. So, hofft er, werde der Gefangene ihm folgen. Zugleich hat er einen Fotoapparat dabei. Denn Graner dokumentiert seine Taten - einmal, um seine Erzählungen und Prahlereien mit Bildern zu belegen. Denn manches klingt so unglaublich, dass man ihm daheim nicht glauben will. Dann aber auch, um sich zu schützen. Denn bisweilen erheben die Gefangenen schwere Anschuldigungen gegen die Wärter. Die versuchen sich darum mit Hilfe von Fotos zu entlasten. In jenem Moment ist auch Lynndie England dabei, die sich in Abu Ghraib in Graner verliebt hat und später ein Kind von ihm bekommt.

    "Ich war direkt hinter ihm ... ", erzählte England. "Wir gingen nach unten. Als er die Tür öffnete, war Gus da drinnen. Er war nackt. Er wollte nicht rauskommen. Er lag am Boden. Er wollte nicht aufstehen. Deshalb hatte Graner den Gurt mitgebracht. Graner ging rein und legte ihm das Teil um den Hals. ... Dann kroch Gus aus der Zelle. Als er fast halb draußen war, drehte Graner sich um, drückte mir den Gurt in die Hand und sagte, ´halt´mal fest`. Also tat ich das. Ich nahm einfach den Gurt, und er ging rüber und fotografierte.
    Gus am Halsband, gehalten von England. Das ist die Urszene jener Demütigungen, die - womöglich - eher zufällig entstanden, um dann Schritt für Schritt systematischen Charakter anzunehmen. Nachdem der Krieg und dessen propagandistische Vorbereitung die moralische Integrität Amerikas, zumindest aber der Regierung Bush, auf das Schwerste beschädigt hat, kann man nun lernen, dass auch ein anderes Bild erheblicher Korrekturen bedarf: das von der perfekten Organisation des amerikanischen Heeres. Zumindest in Abu Ghraib war dies aus Sicht von Philip Gurevitch und Errol Morris nicht der Fall. Statt klar abgegrenzter Kompetenzen gab es ein Durcheinander von Befehlsgewalten und Zuständigkeiten, statt einer lückenlosen Informationskette eine ungesunde Konkurrenz verschiedener Aufklärungs- und Nachrichtendienste mit jeweils eigenen Verhörspezialisten - und mit unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie Verdächtige am effektivsten zu befragen seien. Das Durcheinander, folgern die Autoren, bot alle Voraussetzungen, für die menschlichen und moralischen Verwerfungen in dem Gefängnis.

    Selbstverständlich wäre es empörend, wenn die Aufseher der größten militärischen Aufklärungs-Operation Amerikas im Irak nichts davon gewusst hätten, was mit ihren wertvollsten Häftlingen geschah. Doch die Komplizenschaft, das Wegsehen und Verschleiern, das Zuschieben des Schwarzen Peters und das Vertuschen, der Selbstbetrug und die Feigheit, die Disziplinlosigkeit und die Inkompetenz durchdrangen alle Glieder der Befehlskette, vom militärischen Aufklärungs-Block bis hinauf zum Pentagon und Weißen Haus - so dass Zivilisten ohne jede Kampferfahrung eine ganze Militärbürokratie von oben bis unten politisch einschüchtern und korrumpieren konnten.
    Eindrucksvoll zeigen Gourevitch und Morris, wie in diesem Durcheinander einige Verhörspezialisten und Wärter zivilisierte Verhaltensweisen unmerklich aufgeben. Ihre Reaktionen sind zum Teil nachvollziehbar: Gelegentlich griffen einzelne Gefangene die Aufseher an, zu Provokationen kam es beinahe täglich, und niemals wussten die Wärter, wie die Gefangenen reagieren werden. In diesem Klima werden auch die Umgangsformen der Soldaten immer rauer, bis sie schließlich sadistische oder dumpf-brutale Verhaltensweisen entwickeln, die ihnen anderswo niemals in den Sinn gekommen wären. Wiederholt versichern die damals Beteiligten den Autoren, in Abu Ghraib selbst wäre ihnen die Abnormität ihres Verhaltens gar nicht oder nur gelegentlich aufgefallen - sie hätten alles, einschließlich der Demütigung der Gefangenen, als völlig normal empfunden. Das können nachträgliche Rechtfertigungen sein - doch die Schilderungen der chaotischen Zustände in dem Gefängnis lassen die Ausführungen als durchaus glaubhaft erscheinen. Ohnehin wollen Gourevitch und Morris nichts entschuldigen. Wohl geht es ihnen darum, die Ursachen des Skandals zu verstehen. Bei diesem Versuch sind sie auf ein kaum vorstellbares Chaos gestoßen, das seine Wurzeln in den obersten Rängen der Militärführung, also auch im Pentagon, hat. Dort, vermuten die beiden Autoren, wusste man durchaus, was in Abu Ghraib vor sich ging. Dafür gebe es keine Beweise, wurde ihnen vorgehalten. Der beste Beweis, konterten sie, sei Abu Ghraib selbst.

    Kersten Knipp war das über: Die Geschichte von Abu Ghraib. Das Buch ist im Carl Hanser Verlag erschienen, 300 Seiten kosten 19 Euro 90. Die Autoren sind Philip Gourevitch und Erol Morris.