Der Historiker Götz Aly hat in seinem jüngsten Buch "Hitlers Volksstaat" gezeigt, wie die Nazis die Ausplünderung und Liquidation der europäischen Juden nutzten, um ihre Kriegskasse zu füllen. Zu diesem Zwecke etablierten sie in den besetzten Ländern unterschiedliche Formen der Kollaboration. In den Niederlanden gehörte dazu die Kolonne Henneicke. 54 holländische Männer, die nach Art der Kopfgeldjäger Jagd auf Juden machten. Als Angehörige der Hausraterfassungsstelle durchkämmten sie Amsterdam und die niederländische Provinz, um versteckte Juden aufzuspüren. 7 Gulden 50 zahlten die Nazis für jede ergriffene Person. Die Kolonne Henneicke arbeitete so effektiv und "erfolgreich", dass sie nach sechs Monaten aufgelöst werden konnte. Alle Opfer waren gefunden, ausgeliefert und deportiert worden. Wer waren diese Kopfgeldjäger? Wie gingen sie vor. Wie reagierten ihre Landsleute auf diese schäbige Form der Kollaboration? Solchen Fragen ist der holländische Journalist Ad van Liempt nachgegangen. Das Ergebnis seiner Recherchen kann man jetzt in deutscher Übersetzung nachlesen in dem Buch "Kopfgeld – Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden.
Die Geschichte der Niederlande im Zweiten Weltkrieg ist in einem monumentalen Werk dokumentiert. Ein Vierteljahrhundert schrieb Professor Loe de Jong an den 14 umfangreichen Bänden. Ihm stand das beste Quellenmaterial zur Verfügung, denn seit 1945 leitete er das von ihm gegründete Staatliche Institut zur Kriegsdokumentation RIOD. Im Mittelpunkt von De Jongs Werk standen der deutsche Überfall, die Schreckensherrschaft der Besatzer, das Leiden der Bevölkerung, der Widerstand. Sein Bild war stark moralisch geprägt und dadurch zwangsläufig schwarz-weiß: Hier die Guten, dort die Bösen. Die Guten, das waren die Niederländer, die Bösen die Deutschen. Böse Niederländer wie die Angehörigen der Nationalsozialistischen Bewegung NSB, der Germanischen SS oder des Landstorm, einer Einheit der Waffen-SS, verurteilt der "Nationale Historiker" in Bausch und Bogen. Auf diese Weise tabuisierte er auch die weitere historisch-kritische Auseinandersetzung mit der Kollaboration. Wird das Tabu durchbrochen und damit das Klischee zerstört, dann reagiert die öffentliche Meinung schockiert. Das tat sie, als der Journalist Ad van Liempt 2002 sein Buch "Kopfgeld. Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden" veröffentlichte. Im Vorwort heißt es:
"Ein großer Teil der über 100.000 in den Niederlanden lebenden Juden, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden, wurde aufgrund eines Prämiensystems verhaftet. Für den Erhalt der Prämie von 7,50 Gulden (das entspricht heute ungefähr 37,50 Euro) je abgelieferten Juden kamen zwei Gruppen von Männern in Betracht: Polizisten der Amsterdamer Polizei und Angestellte der Zentralstelle für jüdische Auswanderung. … Außerdem wurde ein beträchtliches Budget für Informanten eingerichtet. Und so bekam die Judenverfolgung in den Niederlanden in ihrer Schlussphase eine neue Dimension: Man konnte daran verdienen."
Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung regelte nichts anderes als die Deportation der Juden in die Vernichtungslager. Eine Unterabteilung war die Hausraterfassungsstelle, die das Hab und Gut der abtransportierten Juden registrierte und dann über das, was Van Liempt als "Plünderbank" umschreibt, verwaltete und veräußerte. Bald bekam die Haushalterfassungsstelle auch den Auftrag, jüdischen Besitz aufzuspüren, der bei Niederländern in Sicherheit gebracht worden war. Als die großen Razzien abgeschlossen waren, musste die nach ihrem Leiter benannte Kolonne Henneicke auch untergetauchte Juden ausfindig machen. 54 Niederländer gehörten zur Kolonne Henneicke. Hinzu kam je nach Bedarf abgestellte Verstärkung:
"Männer, die gesellschaftlich versagten und im Leben immer Pech hatten – das ist der vorherrschende Eindruck, den die zivilen 'Judenfänger’ hinterlassen haben. Das ist kein Zufall. Aus den Akten wird deutlich, dass diejenigen, die ohne Arbeit waren, vom Arbeitsamt an die Hausraterfassungsstelle verwiesen wurden, die von Arbeitnehmern profitierte, die bereit waren, sich an Judendeportationen zu beteiligen. Auf diese Weise konnte das Arbeitsamt eine gute Vermittlungsstatistik vorlegen."
Die Mitarbeiter, fast ausnahmslos Mitglieder der Nationalsozialistischen Bewegung, verdienten glänzend. Zu 200 bis 270 Gulden Monatsgehalt – damals ein stattlicher Betrag – kam das Kopfgeld von 7,50 Gulden pro verhaftetem Juden sowie rund 200 Gulden für Überstunden - denn die Einsätze fanden außerhalb der Bürozeit statt. Viele Mitarbeiter zogen in die Wohnungen abtransportierter Juden ein. Alle führten ein schönes Leben. Manche bereicherten sich ganz beträchtlich, indem sie beschlagnahmten Besitz unterschlugen oder Leute erpressten. Ihre Opfer dagegen misshandelten sie.
Im Herbst 1943 wurde diese Kolonne Henneicke wieder aufgelöst. Offiziell hieß es, sie hätte ihre Arbeit erledigt. In Wirklichkeit war sogar den deutschen Vorgesetzten die Korruption der Mitarbeiter, von denen eine ganze Reihe vorbestraft waren, ein Dorn im Auge. Die meisten Mitarbeiter brauchten sich einstweilen allerdings keine Sorgen zu machen. Dank ihrer Erfahrung wurden sie von anderen Stellen wie der Abteilung für Jüdische Angelegenheiten bei der Amsterdamer Polizei oder dem Sicherheitsdienst übernommen. Immer häufiger jagten sie nun Widerständler, und auch dabei machten sie sich ihr Netzwerk zunutzen:
"Die Kolonne Henneicke verdankte einen großen Teil ihrer Effektivität anonymen Tipps und Verrat. Amsterdam war 1943 im Griff von Verrätern und Denunzianten, und oft bedurfte es dazu gar keiner Prämien. Eigentlich durfte ein jüdischer Niederländer niemandem vertrauen. Er konnte von jedem verraten werden. Zum Beispiel von der eigenen Schwägerin."
Ad van Liempt aus den Prozessakten der Sondergerichte, vor die die meisten Mitarbeiter der Kolonne Henneicke nach 1945 kamen. Seltsamerweise sind diese Akten erst seit 2000 frei zugänglich – sogar der "Nationale Historiker" Loe de Jong kannte sie nicht. Die Sondergerichte straften die "Judenfänger" hart, oft verhängten sie Todesurteile. Sechs, darunter der ehemalige Leiter der Hausraterfassungsstelle, konnten sich jedoch rechtzeitig absetzen. Auch hier deckt Van Liempt haarsträubende Geschichten auf:
"Als Keulings Fall in Abwesenheit verhandelt wurde, saß er sicher und geborgen in Norddeutschland. In Amsterdam verurteilte ihn das Gericht in Abwesenheit zum Tode. Aber das kümmerte ihn weiter nicht. Die niederländischen Behörden ließen ihn in Frieden. Keuling beauftragte seinen deutschen Verteidiger, sich beim niederländischen Generalkonsulat zu erkundigen, ob ein Verfahren gegen ihn laufe. Die Niederlande nutzten diese Chance nicht, um Kontakt aufzunehmen und herauszubekommen, wo sich der zum Tode Verurteilte aufhielt. Allerdings kam es zu einer Flut von Briefen, die große Verwirrung stifteten: Justiz, Polizei und Generalkonsulat hielten sich gegenseitig auf Trab mit Briefen des Inhalts, ob der vorige Brief angekommen sei oder nicht. Aber an die Bundesrepublik Deutschland erging kein Antrag auf Auslieferung des zur Höchststrafe verurteilten Johan Keuling."
Ad van Liempt kommt nicht nur das Verdienst zu, ein übles Kapitel der niederländischen Kollaboration detailliert zu beschreiben. Sein Buch fordert zur Erforschung weiterer Details heraus, die bisher noch weitgehend im Dunkeln liegen. So hat das Einwohnermeldeamt von Amsterdam besonders eifrig an der Judenverfolgung mitgearbeitet. Bei der Polizei der Hauptstadt gab es eine Abteilung für Jüdische Angelegenheiten und ein Bataillon, die übrigens der Kolonne Henneicke Konkurrenz machten. Auch in Provinzstädten halfen Gemeindeverwaltungen und Polizei perfekt mit. Dadurch verlief die Judenverfolgung in den Niederlanden – so hält Van Liempt fest – "einfacher als in Belgien und Frankreich". Viel einfacher, denn in Belgien und Frankreich überlebten zwei Drittel der Juden das Inferno. In den Niederlanden weniger als zehn Prozent.
Sven Claude Bettinger über Ad van Liempt, "Kopfgeld – Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden. Der Band ist im Berliner Siedler Verlag erschienen. 336 Seiten, 24,00 Euro.
Die Geschichte der Niederlande im Zweiten Weltkrieg ist in einem monumentalen Werk dokumentiert. Ein Vierteljahrhundert schrieb Professor Loe de Jong an den 14 umfangreichen Bänden. Ihm stand das beste Quellenmaterial zur Verfügung, denn seit 1945 leitete er das von ihm gegründete Staatliche Institut zur Kriegsdokumentation RIOD. Im Mittelpunkt von De Jongs Werk standen der deutsche Überfall, die Schreckensherrschaft der Besatzer, das Leiden der Bevölkerung, der Widerstand. Sein Bild war stark moralisch geprägt und dadurch zwangsläufig schwarz-weiß: Hier die Guten, dort die Bösen. Die Guten, das waren die Niederländer, die Bösen die Deutschen. Böse Niederländer wie die Angehörigen der Nationalsozialistischen Bewegung NSB, der Germanischen SS oder des Landstorm, einer Einheit der Waffen-SS, verurteilt der "Nationale Historiker" in Bausch und Bogen. Auf diese Weise tabuisierte er auch die weitere historisch-kritische Auseinandersetzung mit der Kollaboration. Wird das Tabu durchbrochen und damit das Klischee zerstört, dann reagiert die öffentliche Meinung schockiert. Das tat sie, als der Journalist Ad van Liempt 2002 sein Buch "Kopfgeld. Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden" veröffentlichte. Im Vorwort heißt es:
"Ein großer Teil der über 100.000 in den Niederlanden lebenden Juden, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden, wurde aufgrund eines Prämiensystems verhaftet. Für den Erhalt der Prämie von 7,50 Gulden (das entspricht heute ungefähr 37,50 Euro) je abgelieferten Juden kamen zwei Gruppen von Männern in Betracht: Polizisten der Amsterdamer Polizei und Angestellte der Zentralstelle für jüdische Auswanderung. … Außerdem wurde ein beträchtliches Budget für Informanten eingerichtet. Und so bekam die Judenverfolgung in den Niederlanden in ihrer Schlussphase eine neue Dimension: Man konnte daran verdienen."
Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung regelte nichts anderes als die Deportation der Juden in die Vernichtungslager. Eine Unterabteilung war die Hausraterfassungsstelle, die das Hab und Gut der abtransportierten Juden registrierte und dann über das, was Van Liempt als "Plünderbank" umschreibt, verwaltete und veräußerte. Bald bekam die Haushalterfassungsstelle auch den Auftrag, jüdischen Besitz aufzuspüren, der bei Niederländern in Sicherheit gebracht worden war. Als die großen Razzien abgeschlossen waren, musste die nach ihrem Leiter benannte Kolonne Henneicke auch untergetauchte Juden ausfindig machen. 54 Niederländer gehörten zur Kolonne Henneicke. Hinzu kam je nach Bedarf abgestellte Verstärkung:
"Männer, die gesellschaftlich versagten und im Leben immer Pech hatten – das ist der vorherrschende Eindruck, den die zivilen 'Judenfänger’ hinterlassen haben. Das ist kein Zufall. Aus den Akten wird deutlich, dass diejenigen, die ohne Arbeit waren, vom Arbeitsamt an die Hausraterfassungsstelle verwiesen wurden, die von Arbeitnehmern profitierte, die bereit waren, sich an Judendeportationen zu beteiligen. Auf diese Weise konnte das Arbeitsamt eine gute Vermittlungsstatistik vorlegen."
Die Mitarbeiter, fast ausnahmslos Mitglieder der Nationalsozialistischen Bewegung, verdienten glänzend. Zu 200 bis 270 Gulden Monatsgehalt – damals ein stattlicher Betrag – kam das Kopfgeld von 7,50 Gulden pro verhaftetem Juden sowie rund 200 Gulden für Überstunden - denn die Einsätze fanden außerhalb der Bürozeit statt. Viele Mitarbeiter zogen in die Wohnungen abtransportierter Juden ein. Alle führten ein schönes Leben. Manche bereicherten sich ganz beträchtlich, indem sie beschlagnahmten Besitz unterschlugen oder Leute erpressten. Ihre Opfer dagegen misshandelten sie.
Im Herbst 1943 wurde diese Kolonne Henneicke wieder aufgelöst. Offiziell hieß es, sie hätte ihre Arbeit erledigt. In Wirklichkeit war sogar den deutschen Vorgesetzten die Korruption der Mitarbeiter, von denen eine ganze Reihe vorbestraft waren, ein Dorn im Auge. Die meisten Mitarbeiter brauchten sich einstweilen allerdings keine Sorgen zu machen. Dank ihrer Erfahrung wurden sie von anderen Stellen wie der Abteilung für Jüdische Angelegenheiten bei der Amsterdamer Polizei oder dem Sicherheitsdienst übernommen. Immer häufiger jagten sie nun Widerständler, und auch dabei machten sie sich ihr Netzwerk zunutzen:
"Die Kolonne Henneicke verdankte einen großen Teil ihrer Effektivität anonymen Tipps und Verrat. Amsterdam war 1943 im Griff von Verrätern und Denunzianten, und oft bedurfte es dazu gar keiner Prämien. Eigentlich durfte ein jüdischer Niederländer niemandem vertrauen. Er konnte von jedem verraten werden. Zum Beispiel von der eigenen Schwägerin."
Ad van Liempt aus den Prozessakten der Sondergerichte, vor die die meisten Mitarbeiter der Kolonne Henneicke nach 1945 kamen. Seltsamerweise sind diese Akten erst seit 2000 frei zugänglich – sogar der "Nationale Historiker" Loe de Jong kannte sie nicht. Die Sondergerichte straften die "Judenfänger" hart, oft verhängten sie Todesurteile. Sechs, darunter der ehemalige Leiter der Hausraterfassungsstelle, konnten sich jedoch rechtzeitig absetzen. Auch hier deckt Van Liempt haarsträubende Geschichten auf:
"Als Keulings Fall in Abwesenheit verhandelt wurde, saß er sicher und geborgen in Norddeutschland. In Amsterdam verurteilte ihn das Gericht in Abwesenheit zum Tode. Aber das kümmerte ihn weiter nicht. Die niederländischen Behörden ließen ihn in Frieden. Keuling beauftragte seinen deutschen Verteidiger, sich beim niederländischen Generalkonsulat zu erkundigen, ob ein Verfahren gegen ihn laufe. Die Niederlande nutzten diese Chance nicht, um Kontakt aufzunehmen und herauszubekommen, wo sich der zum Tode Verurteilte aufhielt. Allerdings kam es zu einer Flut von Briefen, die große Verwirrung stifteten: Justiz, Polizei und Generalkonsulat hielten sich gegenseitig auf Trab mit Briefen des Inhalts, ob der vorige Brief angekommen sei oder nicht. Aber an die Bundesrepublik Deutschland erging kein Antrag auf Auslieferung des zur Höchststrafe verurteilten Johan Keuling."
Ad van Liempt kommt nicht nur das Verdienst zu, ein übles Kapitel der niederländischen Kollaboration detailliert zu beschreiben. Sein Buch fordert zur Erforschung weiterer Details heraus, die bisher noch weitgehend im Dunkeln liegen. So hat das Einwohnermeldeamt von Amsterdam besonders eifrig an der Judenverfolgung mitgearbeitet. Bei der Polizei der Hauptstadt gab es eine Abteilung für Jüdische Angelegenheiten und ein Bataillon, die übrigens der Kolonne Henneicke Konkurrenz machten. Auch in Provinzstädten halfen Gemeindeverwaltungen und Polizei perfekt mit. Dadurch verlief die Judenverfolgung in den Niederlanden – so hält Van Liempt fest – "einfacher als in Belgien und Frankreich". Viel einfacher, denn in Belgien und Frankreich überlebten zwei Drittel der Juden das Inferno. In den Niederlanden weniger als zehn Prozent.
Sven Claude Bettinger über Ad van Liempt, "Kopfgeld – Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden. Der Band ist im Berliner Siedler Verlag erschienen. 336 Seiten, 24,00 Euro.