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Adolf von Harnack und die Kritik der kirchlichen Dogmen

Adolf von Harnack (1851 – 1930) war international der bedeutendste Vertreter des liberalen Protestantismus. Sein Hauptwerk "Das Wesen des Christentums" gilt bis heute als Grundschrift liberaler kulturprotestantischer Theologie.

Theologieprofessor Matthias Kroeger im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 23.01.2013
    Rüdiger Achenbach: Schleiermacher hat mit seiner Theologie einen enormen Einfluss auf den Protestantismus gehabt, auf alles das, was wir im Protestantismus liberalen Protestantismus nennen oder Kulturprotestantismus. Eine der herausragenden Figuren in dieser Reihe der liberalen Theologen ist dann sicherlich – international anerkannt – Adolf von Harnack.

    Matthias Kroeger: Harnack ist ganz gewiss der Zentralname der liberalen Theologie um 1900. Schon 150 Jahre länger hat die kritische Bibelforschung begonnen, nämlich zu erfragen, was ist denn, wenn man nicht mehr an die Gottunmittelbarkeit der biblischen Texte glaubt. Ihre Herkunft, wer hat sie denn geschrieben, wo stammen sie denn her? Stammen sie wirklich vom Evangelisten Markus und vom Evangelisten Matthäus und von einem Mann namens Lukas? Dies alles hat angefangen, erforscht zu werden. Und da kam man zu ganz anderen Ergebnissen, als man sich das zunächst vorgestellt hatte. Dass die Evangelien nämlich gar nicht von einer Person zum Teil sind, sondern zusammengesetzt sind von verschiedenen Autoren. Das hat eine ganz neue Situation in der Einschätzung der Bibel gebracht und eine Historisierung und Vergeschichtlichung der Bibel. Das, was mit Adolf von Harnack verbunden ist, ist etwas ganz Paralleles, nämlich: es hat sich inzwischen eine 50, 60, 70 Jahre alte intensive Erforschung der kirchlichen Dogmatik ergeben. Und Harnack ist die Autorität in der Erforschung des kirchlichen Dogmas. Nämlich auch zu wissen, das, was da in der kirchlichen Dogmatik gelehrt wird und was im 4. und 5. Jahrhundert in den großen Konzilen verabschiedet worden ist als Dogma des christlichen Glaubens, das alles hat sehr seine ungeheuer menschliche Geschichte. Das ist nicht vom Himmel eingegeben, sondern in höchst menschlichen Machtkonstellationen, zum Teil gewaltsamen Prügelsituationen auf Synoden, wo Mönchshorden eingefallen sind und die Konzilsväter verprügelt haben, wenn sie sich nicht richtig entschieden haben und nicht richtig votiert haben.

    Achenbach: Das heißt, hier wird auch deutlich bei Harnack, dass es für ihn im Grunde genommen, wenn er sich mit der Geschichte der Dogmen beschäftigt, mit der Dogmatik, dann auch Dogmenkritik ist - gleichzeitig.

    Kroeger: Absolut. Er analysiert, wie ist diese Dogmatik, die die großen kirchlichen christlichen Konfessionen prägen, zustande gekommen. Er konstruiert, immer mehr rückwärtsgehend, warum und wie ist aus der ganz einfachen und schlichten Verkündigung des Jesus von Nazareth , der kein Gott sondern ein Mensch war und der selbst auch nicht gewollt hat , dass man ihn als Gott ansieht – und seine ersten Anhänger haben das auch nicht getan. Wie ist es dazu gekommen zum Beispiel, dass man ihn wahren Gott und wahrer Mensch nennt. Er erklärt diesen Prozess sehr plausibel. Und es ist ein Rekonstruktion sozusagen Rückwärtsaufrollung der christlichen Dogmen und wieder anzukommen bei der schlichten Botschaft Jesu und dann bei dem damals die kirchliche christliche Öffentlichkeit erschütternden Satz: In die Botschaft des Evangeliums gehört der liebende Vater-Gott aber nicht Jesus. Jesus ist nur der Bote. Das ist die große These oder die aufregende These in seiner Vorlesungsreihe "Das Wesen des Christentums". Dort hat er diese Rekonstruktion einer ganz einfachen Jesus-Frömmigkeit geleistet und gezeigt, wie sie durch die Kirchengeschichte immer komplizierter und immer neuen Dogmen ausgesetzt wurden. Er sagt, wir müssen lernen, wer Jesus ist. Und sein ganzes Buch ist ein eindeutiges Votum: Wir glauben den historischen Jesus – den Jesus, den wir aus den Evangelien erlesen können. Wir brauchen uns nicht an das Konstrukt eines Christus zu halten, der eine Himmelsperson ist.

    Achenbach: Das heißt, da sind wir wieder auch entscheidend bei der Person, was in dieser Entwicklungsgeschichte des liberalen Protestantismus' ja eine ganz besondere Rolle spielt, das Subjekt, das persönliche autonome Subjekt.

    Kroeger: Richtig. Und vor allen Dingen ist es interessant eben, dass diese Forschungsgeschichte oder Entdeckungsgeschichte der Aufklärungs- und liberalen Theologie lauter neue Gedankenräume und Freiheiten für Menschen zur Verfügung stellt. Harnack ist ja nicht derjenige, der sagt, ihr müsst jetzt alle glauben wie ich. Aber er bringt eine ganz neue Möglichkeit, die Gestalt Jesu – zusammen natürlich mit den Bibelforschern – und ein besseres und genaueres Verständnis der Evangelien. Das zu kapieren und nicht mehr Untertan zu sein in einem christlichen, kirchlichen Dogma. Das ist die neue Freiheit, die er bringt, an dieser Stelle.

    Achenbach: Aber diese Autonomie, das bedeutet ja gleichzeitig doch auch, dass er dann ähnlich wie Schleiermacher auch eine religiöse Anlage im Menschen voraussetzten muss.

    Kroeger: An dieser Stelle äußert sich Harnack persönlich nicht so sehr. Das hat sein Freund und Kollege Troeltsch getan, der hat dieser religiösen Anlage einen ganz eigenen neuen Namen gegeben: das religiöse Apriori. Darüber hat Harnack nicht so nachgedacht, sondern er hat einfach auf die ungemeine Zugänglichkeit und werbende Kraft der schlicht geschilderten Jesus-Figur gesetzt. Er war zum Beispiel der Meinung, dass die Botschaft Jesu von einer solche religiösen Bedeutung, Wichtigkeit und Gewicht ist, dass sie den Begriff der Religion an sich schlechthin ausmacht. Es gibt jenseits noch viele religiöse Gestalten, aber das Christentum ist die religiöse Gestalt schlechthin, ist der Inbegriff von Religion.

    Achenbach: Also, wenn Harnack sich nun vorstellt, dass Jesus eigentlich mit seiner Botschaft diese historische Figur, die wir noch einigermaßen aus den Quellen erkennen können, für uns das Entscheidende ist, was würde das bedeuten für den historischen Jesus, wenn der vom Reich Gottes redet? Wie setzt Harnack das um? Was bedeutet für Harnack die Predigt vom Reich Gottes bei Jesus'?

    Kroeger: Überall da, wo Menschen diese Botschaft Jesu, dass Gott der liebende Vater ist, begreifen und dem Folge geben, dort beginnt das Reich Gottes zu wachsen. Das ist erstens und zentral in der großen Vorlesung über das Wesen des Christentums, dass die Seele des Menschen, die der einzige Gesprächspartner Gottes ist, begreift, wer sie ist, indem sie von Gott geliebt wird.

    Achenbach: Als reine Innerlichkeit.

    Kroeger: Die reine Innerlichkeit. Das ist die eine Seite. Gleichzeitig aber hat Harnack – das ist mit seinen Freunden zusammen geschehen – den evangelisch-sozialen Kongress gegründet. Das heißt, eine explizit politische und sozial-politische Bewegung in Gang gesetzt, die für ihn die Folge des Reich-Gottes-Begriffes und der Botschaft Jesu war. Wer sich der Botschaft Jesu aussetzt, kann nicht so tun, als wenn er in einer Welt lebt, in der das nichts zu sagen hat. Wir müssen ein soziales Werk in Gang setzen und darauf achten, dass unser Staat und unsere Kirche für die sozialen Aufgaben der entstehenden Arbeiterschaft – das ist gerade die Entstehung der Frühindustrialisierung.

    Achenbach: Soziale Frage dieser Zeit.

    Kroeger: Ja, dass da eine Folge entsteht. Und das ist auch eine Form von Reich-Gottes-Botschaft, die die Kirche und die Christen in Gang setzen müssen. Das ist die zweite Seite. Aber in der religiösen Komponente ist es Seele begreife, dass Gott der liebende Vater ist. Und wo du versagt hast, ist der verlorene Sohn ihm lieber als der moralisch und gut gebliebene Sohn.

    Achenbach: Von Harnack stammt ja auch die Formulierung, dass die Reformation weiter gehen müsse. Das heißt also, er erkennt bei Luther, dass es einen entscheidenden Einschnitt gibt – mit der Reformation Luthers – aber wirft gleichzeitig Luther und vor allem der Orthodoxie vor, dass sie wieder hinter Luther zurückgefallen ist und dass Luther selbst noch an den Dogmen festgehalten habe – als Heilsnotwendigkeit.

    Kroeger: Also, das ist etwas, woran man sehr zeigen könnte, mit wie viel seelischen und persönlichen Schmerzen diese ganzen Prozesse durchgefochten worden sind. Denn Harnacks Vater war einer der Leitfiguren dieser konfessionellen Welt, eine ganz eindrucksvolle Gestalt mit einem bis heute wichtigen Grundbuch, das er geschrieben hat. Harnack hat diesen Konflikt im Elternhause dem Vater gegenüber durchgefochten und in der Tat gesagt: Dies ist eine Verengung aufgrund dieser Dogmen-Bildung, die die alte Kirche, das alte Christentum erlitten hat. Sie ist auf das Gebiet des Hellenismus, also der hellenistischen Kultur und Philosophie übergegangen und musste sich damals so philosophisch-antik formulieren. Da haben alle die alten Dogmen ihr Recht und ihren Sinn und dort haben sie ihre Heimat. Sobald man die antike Welt verlässt, muss man anders denken. Und dasselbe gilt von der reformatorischen Welt. Sie haben alle berechtigte historischen Komponenten, aber wir müssen heute als moderne Menschen anders denken. Und hier bezieht er sich dann ganz – merkwürdigerweise – auf Augustinus und dessen "Gott und die Seele – nichts sonst".

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.