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Ahmed Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad

Bei allen Unwägbarkeiten, die die Zukunft Afghanistans betreffen, bei aller Genugtuung über die Vertreibung der Taliban aus Kabul - in jedem Fall wäre es naiv zu glauben, die selbsternannten islamistischen Gotteskrieger würden ebenso unvermittelt von der politischen Bildfläche verschwinden, wie sie 1994 - jedenfalls für die westliche Welt - quasi aus dem Nichts auftauchten. Die Taliban haben es seitdem nie für nötig gehalten, z.B. in Form eines Manifestes die Grundzüge, Wurzeln oder Motivationen ihrer Politik zu definieren. Vielleicht auch deshalb ist erst jetzt auf dem deutschen Buchmarkt der erste Versuch publiziert worden, die Geschichte der Taliban zu rekonstruieren. Entstanden ist - besonders wohltuend bei der Fülle der oft unseriös recherchierten Neuerscheinungen im Kontext des 11. September - ein Buch, das nicht nur tiefe Einblicke in die Weltsicht und organisatorischen Strukturen der Fanatiker vom Hindukusch vermittelt, sondern zugleich auch die tiefe Zerrissenheit unter den in Afghanistan relevanten islamischen Strömungen und Volksstämmen veranschaulicht und erklärt.

Hans Leyendecker | 19.11.2001
    Als die Welt noch einigermaßen heil war, schafften Bücher zum Themenkomplex Osama bin Laden, Terror und Taliban gerade mal eine Startauflage von wenigen tausend Exemplaren. Auch das hat sich nach den Terroranschlägen auf New York und Washington gründlich geändert. Bereits achtzehn Tage danach brachte der Rowohlt-Verlag ein schmales Bändchen mit dem Titel "Dienstag, 11. September 2001" auf den Markt. Der in aller Eile gefertigte Sammelband verkauft sich prächtig.

    Vieles wird in diesen Tagen zusammengeschustert oder umgeschrieben - wer jedoch eher die Analyse schätzt und informiert werden möchte, sollte zu einem Buch greifen, das die Hintergründe des Konflikts seriös beleuchtet. Titel: "Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad". Der Autor, Ahmed Rashid, ist pakistanischer Journalist und hat als Korrespondent der britischen Tageszeitung "Daily Telegraph" und der "Far Eastern Economic Review" über zwanzig Jahre hinweg aus Afghanistan und den angrenzenden zentralasiatischen Staaten berichtet. Den langen Krieg am Hindukusch hat Rashid kontinuierlich beobachtet und auch den sowjetischen Einmarsch erlebt.

    "Zufällig war ich im Dezember 1979 in Kandahar und sah mit an, wie die ersten sowjetischen Panzer einrollten... Viele Rotarmisten stammten aus Zentralasien. Sie stiegen aus ihren Panzern, klopften sich den Staub von der Uniform und eilten gleich zum nächsten Stand, um eine Tasse ungezuckerten grünen Tee zu trinken. Die Afghanen im Basar standen einfach da und starrten sie an."

    Es begann ein langer Krieg gegen die Invasoren - und die Supermacht verlor. Rashid erlebte den Bruderkampf zwischen den ewig zerstrittenen Mudschaheddin-Gruppen und den Aufstieg der Taliban in dem von Machtkämpfen zersplitterten Land. Er schildert, warum die Gotteskrieger vor allem in den ländlichen Gebieten zunächst auf große Sympathie stießen.

    "Afghanistan befand sich Ende 1994, kurz bevor die Taliban auftauchten, in einem Zustand des Zerfalls. Das Land war in Lehnsgüter für die Kriegsherren aufgeteilt, die verwirrende Bündnisse schlossen, wieder lösten, Blut vergossen, die Seiten wechselten und kämpften."

    Bewaffnete Banden der früheren Mudschaheddin-Truppen zogen plündernd durch die Ortschaften und verbreiteten Terror. Die Taliban, die immer mehr Zulauf erhielten, sorgten für Ruhe und Ordnung. Plünderer wurden öffentlich gehenkt, und die Wegelagerer, die überall im Lande Straßenzölle erhoben hatten, wurden entwaffnet.

    Die Taliban-Führer stammten aus den besonders rückständigen Gebieten Südafghanistans. Ihre Kämpfer -die meisten von ihnen waren erst zwischen 14 und 24 Jahren alt - sind ohne Eltern in pakistanischen Flüchtlingslagern aufgewachsen und hatten fundamentalistische Koranschulen besucht. Selbst ihre Lehrer konnten kaum lesen und schreiben. Rashid betont, dass die Taliban kaum Ahnung vom Koran, der Scharia oder gar der islamischen Geschichte haben.

    "Diese Jungs hier hatten ihr Land nie im Frieden erlebt. Sie hatten keine Erinnerungen an Stammeszugehörigkeit, Stammesälteste, Nachbarn oder das bunte Völkergemisch des Heimatdorfs. Durch den anhaltenden Krieg waren diese Burschen an den Ufern der Geschichte gestrandet. Sie hatten weder eine Vergangenheit noch Pläne für die Zukunft - nur die Gegenwart zählte. Sie waren Kriegswaisen im klassischen Sinne: entwurzelt, rast- und arbeitslos, arm und ohne jede Kenntnisse. Ihnen gefiel der Krieg, der möglicherweise die einzige Beschäftigung war, der sie sich anpassen konnten."

    Die meisten von ihnen waren Vollwaisen und hatten die Gesellschaft von Frauen nie kennengelernt. Diese, so hatten ihnen die einfachen Dorfmullahs beigebracht, stellten eine Versuchung, eine unnötige Ablenkung vom Dienst an Allah dar. Als die Taliban bei ihren Eroberungszügen begannen, die Frauen in ihre Wohnungen zu verbannen, und ihnen jede Arbeit und sogar den Schulbesuch verboten, fand die Mehrheit der Jungen daran nichts Ungewöhnliches. Am einfachsten war es, die Frauen wegzusperren. Die Unterjochung der Frauen wurde nach Rashids Analyse zu einem fundamentalen Wendepunkt, der die Taliban von den Mudschaheddin grundsätzlich unterschied. Vor dem Erscheinen der Taliban war der Islam in Afghanistan alles in allem tolerant. In der Hauptstadt beispielsweise stellten Frauen ein Drittel der Beschäftigten im öffentlichen Dienst.

    Rashid konstatiert, viele Afghanen seien zunächst davon beeindruckt gewesen, dass die Taliban keine Macht für sich beanspruchten, sondern angeblich nur Recht und Ordnung wiederherstellen wollten. Auch der Zeitpunkt der Machtergreifung war für die Taliban günstig: Der Zerfall der kommunistischen Machtstruktur war abgeschlossen, die Mudschaheddin-Führer waren unglaubwürdig und die traditionellen Stammesführer getötet worden. Tatsächlich sorgten die Taliban für Ruhe - für Friedhofsruhe. Die Freudentänze in Kabul und das Gedränge bei den Barbieren in diesen Tagen seit dem Einzug der Nordallianz bezeugen, dass fünf Jahre später viele Afghanen den Abzug der Korankrieger mitsamt ihrer knüppelnden Tugendpolizei als Befreiung empfinden.

    Früher liebten die Afghanen Kino, Filme, Fernsehen, Musik und Tanz - auch das war ihnen verboten worden. Laut Aussage eines talibanischen Erziehungsministers stellten sich seine Leute gegen Musik, weil sie - Zitat - "Kopfschmerzen verursacht und vom Studium des Islam ablenkt". Tanzen und Singen auf Hochzeiten war nicht mehr erlaubt. Gemälde wurden übertüncht. Besonders rigoros gingen die Taliban gegen Homosexuelle vor. Zwei in Kabul im April 1998 in flagranti ertappte Soldaten wurden zunächst verprügelt und dann gefesselt, mit ölgeschwärzten Gesichtern auf der Ladefläche eines Autos durch die Stadt gefahren.

    Unsere religiösen Gelehrten sind sich in der Art der Bestrafung für Homosexualität nicht ganz einig", erklärte Mullah Mohammed Hassan und zeigte damit deutlich, mit welcher Art von Debatten die Taliban beschäftigt waren. "Einige sagen, wir sollen diese Sünder auf ein hohes Dach stellen und hinunterstoßen, während andere meinen, wir sollen ein Loch neben einer Mauer graben, sie hineinstoßen, um sie dann von einer Mauer begraben zu lassen."

    Rashid schildert auch die Rolle Osama bin Ladens, der im Mai 1996 nach Afghanistan gekommen war. Er sei kein Lenin der islamischen Revolution und auch kein Ideologe, wie es etwa Che Guevara für die Revolution in der Dritten Welt war, urteilt Rashid. Es sei "recht unwahrscheinlich", dass bin Laden in alle Terror-Pläne extremistischer islamischer Gruppierungen eingeweiht gewesen sei. Er habe sich von Anfang an unsicher im Gefüge des Islam bewegt. Weder sei er ein islamischer Gelehrter noch sei er befugt, eine Fatwa zu verkünden. Der pakistanische Geheimdienst, der schon zuvor die Taliban unterstützt hatte, stand zeitweise auf Seiten des Oberterroristen. Bin Laden erklärte:

    "Es gibt in Pakistan einige Ressorts, die durch Gottes Gnade auf die islamischen Gefühle des pakistanischen Volkes reagieren. Das spiegelt sich wider in Sympathie und Kooperation. Doch andere Ressorts der Regierung sind in die Falle der Ungläubigen getappt. Wir beten zu Gott, er möge sie wieder auf den rechten Pfad geleiten".

    Der aus Saudi-Arabien stammende Multimillionär habe die Taliban freundlich gestimmt. Laut Rashid hat bin Laden zunächst der Familie des Taliban-Chefs Mullah Osmar ein Haus gebaut und auch andere Führer finanziell unterstützt. Er habe sich auch dadurch beliebt gemacht, dass er einige seiner Kämpfer abkommandierte, um den Taliban zu helfen. Noch vor wenigen Jahren, belegt Rashid, war bin Laden eine Trumpfkarte im internationalen Spiel der Taliban. Hätten die USA die Taliban-Regierung anerkannt, wäre bin Laden wahrscheinlich zum Verlassen des Landes gezwungen worden. Doch Anfang 1999 habe es den Taliban zu dämmern begonnen, dass es mit den USA in Sachen bin Laden keinen Kompromiss geben könne. So ließen sie ihn heimlich aus Kandahar verschwinden - seitdem ist er mit seinen Getreuen in den Bergen untergetaucht.

    Die Amerikaner haben, meint Rashid, einen hohen Preis dafür bezahlt, dass sie zwischen 1992 und 1996 Afghanistan ignorierten. In diesen Jahren öffneten die Taliban den militantesten islamischen Fundamentalisten der Welt Tür und Tor. Afghanistan wurde damit auch zum Ruheraum für zu allem entschlossene Terroristen. Warum aber standen die USA einem solchen Regime lange eher wohlwollend gegenüber? Die Amerikaner, so der Autor, hätten geglaubt, die Taliban stünden für Stabilität. Und Ruhe brauchte man in dieser Region schon wegen den Interessen der amerikanischen Wirtschaft: Durch Afghanistan sollten Pipelines gezogen werden, um die riesigen noch unangezapften kaspischen Ölvorräte auf den Markt zu bringen. Doch wegen des Streits über eine Auslieferung bin Ladens ging schließlich gar nichts mehr.

    "Die US-Politik war wieder einspurig geworden, einzig darauf aus, bin Laden zu fassen, anstatt weitreichendere Probleme wie Terrorismus und Frieden in Afghanistan anzugehen. Washington schien eher eine Bin-Laden-Politik als eine Afghanistan-Politik zu betreiben. Nachdem man erst die Taliban unterstützt hatte, war man jetzt in das andere Extrem verfallen, sie völlig abzulehnen."

    Rashid bescheinigt den Taliban absolute Unfähigkeit, einen Staat zu organisieren. Sie hätten lediglich immer das Sagen haben wollen, ohne zu wissen, was sie eigentlich wollten. Die Taliban seien nicht in der Lage und auch desinteressiert daran gewesen, nur ein Minimum an Entwicklungsarbeit zu leisten, weil sie glaubten, der Islam kümmere sich um das Schicksal jedes Einzelnen und am Ende werde die Ordnung quasi gottgegeben wiederhergestellt und alle Wunden geheilt. Im Anhang dieses durchweg empfehlenswerten Buches hat Rashid Beispiele von Taliban-Verordnungen abgedruckt sowie die Entscheidungsstrukturen der selbsternannten Gotteskrieger beschrieben, samt Herkunft und Ausbildung der Mitglieder der Taliban-Führung - wobei das Wissen der meisten von ihnen über Gott und die Welt einzig und allein aus mehr oder minder fundamentalistischen Koranschulen stammt. So findet sich in der Rubrik "Anmerkungen" über einen der obersten Bildungsfunktionäre der Taliban der ebenso sachkundige wie vielsagende Hinweis: "Keine formelle Ausbildung, trägt Ohrring".

    Ahmed Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad. Droemer Verlag, München, 2001. 432 Seiten, für Euro-kompatible DM 38,92.