Archiv

Albrecht Selge: "Beethovn"
Suche nach Beethoven

Pünktlich zum 250. Geburtstag des Komponisten legt Albrecht Selge einen originellen Roman über Beethoven vor. Der Meister selbst bleibt darin zwar stumm. Aber dafür kommen Zeitgenossen zu Wort, vor allem die wichtigen Frauen seines Lebens. So entsteht das Porträt eines Genies ohne Genie-Kitsch.

Von Andrej Klahn |
Buchcover: Albrecht Selge: „Beethovn“ und Ausschnitt aus einem Faksimile der Noten von der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven
Es geht auch ohne Pathos: Das beweist Albrecht Selge mit seinem Roman über Beethoven (Buchcover: Rowohlt Berlin Verlag, Hintergrund: dpa)
Für Jahrestage gilt die ungeschriebene Regel: Je größer die historische Distanz, desto pompöser die Festreden. Auf Beethovens 250. Geburtstag trifft das allemal zu. Das "Genie aus dem Nichts", der "menschliche Titan" oder einfach nur "Ludwig der Größte", das sind nur ein paar Beispiele aus dem laufenden Wettbewerb um die fetteste Überschrift zur großen Beethoven-Party. Ja, bisweilen kann man sogar den Eindruck gewinnen, dass die Statue des Weltenbezwingers und Schmerzensmanns, die da rhetorisch aufs Podest gehievt wird, mit jedem runden Jubiläum noch ein bisschen größer und noch ein bisschen melodramatischer modelliert wird.
Endlich mal ein Text ohne die üblichen Beethoven-Superlative
Albrecht Selge stimmt in seinem neuen Roman glücklicherweise nicht mit ein in den Chor der gerade überall erschallenden Beethoven-Pathetiker. Schon dessen Titel unterstreicht, dass sich der 1975 geborene Schriftsteller bemüht, ein anderes als das gängige Beethoven-Bild vom Super-Genie zu zeichnen. "Beethovn" steht auf dem Cover: Wohlgemerkt ohne "e" vor dem "n". Und der Meister selbst kommt bei Selge tatsächlich auch gar nicht zu Wort. Sein Roman beginnt stattdessen mit einer Beethoven-Suche. Selge lässt einen Studenten - forschend nach dem Komponisten - durch das kalte, verregnete und übel riechende Wien irren:
"Beethoven war nicht da. Weder in einem der Häuser, die der junge Louis Schlösser, im Frühjahr aus Darmstadt gekommen, aufgesucht hatte. Er war, wenn es ihm seine Studien erlaubt hatten, über die breiten Alleen des Glacis mit ihren Linden, Pappeln, bettelnden Kindern hinaus in die Vorstädte gegangen, die ihm genannt worden waren: nach Alt-Lerchenfeld in ein ebenerdiges Haus Zu den zwei Wachsstöcken, wo ihm eine schwitzende, ihn nervös machende Frau gesagt hatte, Herr von Beethowen habe hier nur kurz gewohnt; ins Haus Zum schwarzen Adler in der Landstraßer Hauptstraße, um dort vergeblich an der Türklingel zu ziehen."
Der Blick der Zeitgenossen auf das Genie
Der Beethoven-Bewunderer Louis Schlösser ist historisch genauso verbürgt wie Beethovens zahlreiche Umzüge. Im Jahr 1822 traf Schlösser in Wien ein. In Selges Roman muss er sich schließlich mit einer flüchtigen Begegnung des von ihm Bewunderten begnügen. Neben dem jungen Studenten lässt Selge kapitelweise noch eine ganze Reihe anderer Beethoven-Zeitgenossen auftreten. Und mit jeder Figur justiert der in Berlin lebende Schriftsteller die Perspektive auf den Komponisten neu. Ehrfürchtig schaut er mit den Augen des Schriftstellers Franz Grillparzer auf ihn. Der Geiger Ignaz Schuppanzigh beobachtet Beethoven heimlich dabei, wie der mit einem Holzbrett auf die Wand seiner Musikerstube einprügelt. Selge lässt Josephine von Brunswick, die Beethoven-Kenner für die berühmte "unsterbliche Geliebte" halten, im Opium-Delirium noch einmal auf ihre Beziehung zum Komponisten zurückblicken. Im Inneren Monolog rekapituliert sie das, was war – und das, was hätte sein können, wenn es die Standesgrenzen zwischen beiden nicht verhindert hätten:

"Aber was wäre daraus geworden? Ein Traum, mit ihm einmal, viele Male, immer wieder so eng verbunden gewesen zu sein. Ein ganzes Leben, und nichts gewesen. Ein Traum, eine Chimäre, als ob sie – als ob irgendeine mit ihm hätte verheiratet sein können. (...) Einer wäre es übel ergangen, der Frau oder der Kunst. Oder beiden. Im Zweifel der Frau."
Auch Josephine spricht: Beethovens "unsterbliche Geliebte"
Die Miniaturen, aus denen Selge seinen Roman zusammensetzt, sind so sorgfältig recherchiert, dass auch Beethovenkenner am Anspielungsreichtum ihre Freude haben dürften. Glücklicherweise ist "Beethovn" aber mehr nur als eine bildungsbürgerliche Fleißarbeit im Mega-Jubiläumsjahr. Selge degradiert seine Figuren nicht zu Wasserträgern des Romanbiografen. Ganz im Gegenteil: In den starken Kapiteln – und davon gibt es viele – verlebendigt er sie auf knappstem Raum.

Bereits in seinem im letzten Jahr erschienenen Roman "Fliegen" hat Albrecht Selge eindrucksvoll gezeigt, dass er psychologische Untiefen auf kurzer Strecke auszuloten versteht. Darin schickte er eine melancholische Zugnomadin auf eine Reise ohne Wiederkehr. Solche gefallenen, aber doch aufrechten Frauen begegnen dem Leser nun auch in "Beethovn" viele.
Ein Porträt wie ein Puzzlespiel
Allen voran Beethovens Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter. Sie wurde im 16. Jahrhundert als vermeintliche Hexe verbrannt. Selge lässt sie im Roman auferstehen und nachts als in den Flammen erblindeter Geist durch Beethovens Zimmer streifen:
"Sehen kann sie ihn nicht, aber berühren. Er schläft keineswegs auf dem Rücken wie ein edel Aufgebahrter, sondern eingekauert wie ein Kind, und ist nicht aus kaltem Gips, sondern aus Fleisch, Blut, Haaren, Atem."
Nicht aus Gips, sondern aus Fleisch und Blut ist auch der Beethoven, für den sich Albrecht Selge in seinem Roman interessiert. Dessen Namen schreibt er mal ohne e, mal mit w, oder auch mit doppeltem tt: "Luigi van Bettofen": Sogar das liest man hier! Und all’ diese Schreibweisen sind tatsächlich verbürgt. Sie machen buchstäblich sichtbar, dass es den einen überlebensgroßen Beethoven nicht gibt.
Genie mit Kanten und Macken
Von daher sicherlich auch kein Zufall, dass die Szenen, die Selge in "Beethovn" aneinanderreiht, nahezu alle zwischen 1822 und 1827 spielen – in den letzten Jahren vor Beethovens Tod also. Als er nur noch unter Qualen komponieren konnte: Ertaubt, halbblind, zu Grunde gerichtet vom maßlosen Alkoholkonsum.

In seiner Episodenhaftigkeit funktioniert Albrecht Selges Roman wie ein Puzzlespiel. Wer es zusammenzusetzen versucht, wird schnell feststellen, dass die einzelnen Teile kein akkurates Bild ergeben, sondern eines mit reichlich Ecken und Kanten. Es zeigt einen Mann, der zugleich verschwenderisch kreativ und ein kleinlicher Haushaltsbuchführer war. So gelingt Selge mit seinem kleinen Buch das Kunststück, im Jahr der allzu großen Geburtstagsfeiern für Beethoven–Superstar, uns doch noch für Beethoven, den widersprüchlichen Menschen, zu interessieren.
Albrecht Selge: "Beethovn"
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin. 240 Seiten, 22 Euro.