"Die Katastrophe läuft jetzt seit 11.32 Uhr, d.h. seit fast anderthalb Stunden, aber die Uhrzeit, die gleichmäßig wie vor dem Angriff vorbeischnurrt, und die sinnliche Verarbeitung der Zeit laufen auseinander. Mit den Hirnen von morgen könnten sie in diesen Viertelstunden praktikable Notmaßnahmen ersinnen."
Die Rede ist vom Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende. In Halberstadt wurde Alexander Kluge 1932 geboren, den Luftangriff hat er miterlebt. Von der Stadt blieb damals nicht viel übrig.
Kluge hat das Ereignis aus wechselnden Perspektiven beschrieben und erstmals 1977 in einer Sammlung von Geschichten unter dem Titel "Unheimlichkeit der Zeit" veröffentlicht. In der "Chronik der Gefühle" steht der Text am Anfang des zweiten Bandes, der im Untertitel "Lebensläufe" heißt, der erste Band trägt den Untertitel "Basisgeschichten". Über die Bombardierten von Halberstadt, die aus dem Inferno keinen Ausweg fanden, schreibt Kluge:
"Mit den Hirnen von morgen könnten sie praktikable Notmaßnahmen ersinnen."
Dieser Satz erschließt einiges von Kluges erzählerischer Intention. Natürlich verfügt kein Mensch über ein Hirn von morgen, über eine effizient vorausschauende Einsicht, und die gegenteilige Meinung erscheint zunächst nur banal. Bedenkt man jedoch, dass im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus dominierte und dass trotz aller Katastrophen, die das 20. Jahrhundert brachte, auch gegenwärtig Zukunftsgewissheiten wieder Konjunktur haben, ist die Annahme vorausschauender Hirne keineswegs banal, sie ist vielmehr alltäglich. Wenn Kluge dagegen mit Tatsachen opponiert, ist das dennoch kein Ausdruck resignierenden Fatalismus. Seine Geschichtsphilosophie, soweit der Begriff angemessen ist – und er ist es wenigstens insofern, als der Autor seine gesammelte Prosa als Chronik bezeichnet, als einen in bestimmter Abfolge geordneten Ablauf historischer Ereignisse - , Kluges Geschichtsphilosophie bezieht ihre Kraft aus Rückblicken. Er ist überzeugt, dass die Menschen ihre Energien, ihre Überlebensfähigkeit aus dem speisen, was er "Urvertrauen" nennt. In einem Gespräch mit Hans-Dieter Schütt sagte er dazu:
"Wir Lebewesen sind in der Evolution nur deshalb übriggeblieben, weil wir unmittelbar nach der Geburt einen spezifischen Irrtum begehen: Wir denken, die Welt meine es gut mit uns. Dieser Irrtum umgibt uns mit einem Kokon der Selbstsicherheit: Ich werde verschont. Das schützt vor Verzweiflung. Dieser Reflex ist nicht funktionell entstanden, sondern er ist eine Mitgift. Dieses Urvertrauen kann dann, wenn es das Leben überhaupt nicht gut mit uns meint, zu einer überlebenswichtigen Zeitverschiebung in der Wahrnehmung führen."
Mit anderen Worten, es ist eine glückliche Anlage der Menschen, dass sie der "Illusionsliebe" eher als der "Wahrheitsliebe" nachgeben. So betrachtet ist die Idee Kluges angesichts der Bombardierung Halberstadts, mit Hirnen von morgen wäre es den Leuten besser ergangen, ein ironischer Einfall. Denn die, die in den Kellern unter den brennenden Häusern saßen oder ziellos durch die Straßen rannten, wären auf einen Schlag gelähmt, erstarrt und auf jeden Fall umgekommen, hätten sie das ganze Ausmaß des Infernos und seine Abfolge vor Augen gehabt. Im ersten Band der Chronik findet sich eine Geschichte mit dem philosophischen Titel "Kann man ohne Hoffnung irgendetwas finden?" Es geht um die Rettung eines Skilehrers, der im australischen Wintersportort Threatbo verschüttet, gegen alle Wahrscheinlichkeit nach 65 Stunden befreit wurde. Ein Korrespondent des australischen Fernsehens interviewt danach den Leiter der Rettungsstation Darwin McAllister – nomen est omen.
Reporter: "Warum gelingt das hier und sonst fast nie? Gibt es einen anderen Ausdruck für Unwahrscheinlichkeit?"
Darwin McAllister: "Es gelang uns, Hoffnung zu bewahren. Der Retter, noch nicht verbraucht durch das Geschehen, glaubte, dass er etwas hören könnte; es funktioniert wie ein Kredit auf das Konto Hoffnung."
Reporter: "Was nennen Sie Hoffnung?"
Darwin McAllister: "Unglaube."
Reporter: "Unglaube an was?"
Darwin McAllister: "Unglaube gegenüber der Wahrscheinlichkeit."
Reporter: "Sie waren zu diesem Zeitpunkt 54 hoffnungslose Stunden im Einsatz. Waren Ihre Hoffnungen nicht inzwischen verbraucht? Sie sind ein erfahrener Mann."
Darwin McAllister: "Das ist es, was ich tue: Ich lasse keine besonderen Gedanken zu."
Reporter: "Merkwürdig."
Darwin McAllister: "Ja. Erfahrungssache."
Und wie um den Glauben an die voraussehenden Hirne gänzlich zu desavouieren, erfindet Kluge die Geschichte von Heidegger auf der Krim im Kriegsjahr 1941. Der Philosoph im einverständigen Gespräch mit Ohlendorf, dem Befehlshaber einer Einsatzgruppe und einschlägig bekannten Massenmörder, wird mit der Maxime konfrontiert: "
Darwin McAllister: "Dies ist das Problem nationalsozialistischer Führungskunst: den Zeitfaktor überwinden."
Und Heidegger resümiert:
"In dieser Hinsicht ist, wenn ich Ohlendorfs Sorge richtig begreife, die stattliche Armee in ihren Wesenskräften unsichtbar. Es geht ..."
versteht Heidegger auf der Krim und im Angesicht von Massenexekutionen, die ihn kalt lassen
"Es geht um den letzten Versuch, dass der mitteleuropäische Mensch, der alemanische Kelte, die Macht auf der Erde und im Kosmos ergreift."
Kluges ironisches Spiel mit der gründlich zerstörten Unterstellung, die Menschheit sei auf dem Weg vom Niederen zum Höheren, ist selbstverständlich eingebettet in die deutsche Geschichte. In seinem Stalingradbuch "Schlachtbeschreibung" hat er ihr sein Denkmal gesetzt. Eine leicht bearbeitete Fassung des zuerst 1964 erschienenen Buchs ist jetzt als 5. Kapitel seinem Gesamtwerk zugeordnet. Als Motto wählte er einen Satz von Paul Valéry, der dem Ganzen hätte voranstehen können:
"Auch die Zukunft ist leider nicht mehr das, was sie mal war."
In der Vorbemerkung gibt er eine Lesehilfe für diejenigen, denen die Ereignisse so entrückt sind wie der Dreißigjährige Krieg.
"Den folgenden Text muss der Leser gegen den Strich lesen, in einem ganz unpraktischen, inaktuellen, von der Berliner Republik abgewandten zähen Interesse, so antirealistisch wie die Wünsche und die Gewissheit, dass Realitäten, die Stalingrad hervorbringen, böse Fiktionen sind. Dass ich auf Stalingrad beharre, hat den Protestgrund, dass Erinnerungslosigkeit irreal ist."
Kluge scheint hier den Stachel zu benennen, der ihn bewegte, seine sämtlichen Erzählungen, quasi eine Werkausgabe letzter Hand, vorzulegen und sie ungeachtet ihrer Disparatheit als eine "Einheit" zu arrangieren. Sein von der "Berliner Republik abgewandtes zähes Interesse" ist nicht en vogue. Der Name "Berliner Republik", ausgerufen von einer Generation, die sich selbst gern mit dem Adjektiv schmückt, steht dafür, Erinnerungen zu musealisieren. An die Stelle kommunikativer Erinnerung, zu der Kluges Werk gehört, setzt die "Generation Berlin" gern kulturelle Erinnerung mit dem leicht durchschaubaren Hintergedanken, die deutsche Geschichte einzumotten. Nun besteht Kluge keineswegs darauf, die Deutschen müssten in Selbstanklage verharren, aber darauf, dass die Absurditäten der Selbstdestruktion nur überstanden werden konnten, weil
"Gefühle die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe" sind. Sie beleben (und bilden) die Institutionen, sie stecken in den Zwangsgesetzen, in den glücklichen Zufällen, agitieren an den Horizonten, bewegen sich über diese hinaus bis in die Galaxien."
Kluge schlägt sich auf "die subjektive Seite der Geschichte", wie er in einem Spiegelgespräch seine Chronik umschreibt. Indem er unnachgiebig die Abfolge der Zeiten als Chronik der Gefühle betrachtet, im Großen wie im Kleinen Furcht, Vertrauen, Selbstschutz, Unsicherheit, Lust als Agenten des Geschehens aufspürt und zur Sprache bringt, gelingt es ihm, Abgründe mit Humor zu überbrücken.
"Humor ist die auf großer Charakterstärke beruhende, höchste Form der Selbstbehauptung gegenüber den Sinnlosigkeiten des Daseins."
Das sagt Kröners philosophisches Lexikon. Kluge nennt das an einer Stelle seiner "Schlachtbeschreibung":
"den unabweisbaren Willen, in der Nähe des Realitätssinns zu bleiben".
Die beiden Bände voller neuer und alter Geschichten, Parabeln, fiktiven und vermeintlich wahren Nachrichten – bekanntlich verändert jedes Ereignis seine Gestalt im Verhältnis zur zeitlichen oder räumlichen Entfernung, aus der es betrachtet wird - , diese beiden Bände gesammelter Werke Alexander Kluges wird niemand hintereinander, am Stück lesen. Das tut man für gewöhnlich nicht bei Chroniken. Doch wo immer man sich fest liest, man findet sich in einer einzigartigen Enzyklopädie der Gefühle. So ist das Werk angelegt, dahin hat es sich im Lauf der Jahre Stück um Stück entwickelt. In einer kleinen Geschichte des ersten Bandes hat Kluge sein Programm, wenn man das so nennen darf, bündig formuliert:
"Kleinwüchsige Frau mit hochhackigen Schuhen. Hier eilt die Opernsängerin heran. Sie wird heute abend die Rolle der Tosca singen. Da sie untersetzt ist, trägt sie hochhackige Schuhe. In sich, unbeachtet, trägt sie ein kleines Gefühl mit Namen: Gleich fällst du hin. Es liegt verborgen unter der leidenschaftlichen Hingabe, der Mordlust im ausweglosen Moment, die zur Rolle der Tosca gehören, ist durch die Gefühle der Aida verdeckt, von denen sie in der vorigen Saison sang. Dennoch hat es Macht, Kraft und Ahnenfolge. Als wir noch Reptilien waren, kannten wir keine Gefühle, sondern ausschließlich Aktion. Ruhen – Warten – Angriff oder Flucht. Dann kamen die Eiszeiten. Als es auf dem blauen Planeten sehr kalt wurde, dachten wir oft sehnsüchtig an die Urmeere von 37 Grad Wärme. Wir lernten Gefühle zu haben, nämlich zu sagen: zu heiß, zu kalt. Das zu unterscheiden und Sehnsucht zu haben: das ist das, was die Gefühle können. Alles andere ist Kombination. (...)"
Agnes Hüfner über Alexander Kluge, "Chronik der Gefühle", 2 Bände, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1004 bzw. 1032 Seiten. Die Taschenbuchausgabe ist für 98 Mark erhältlich, die gebundene Ausgabe kostet 160 Mark.